Tschoir – ein Unort

Die Silbe mitsamt der Konsonanten hart ausstoßen und wieder einsaugen – das könnte der korrekten Aussprache dieses Ortes nahekommen; der Reiseführer empfiehlt, nur zum Tanken anzuhalten, mehr sei hier nicht zu sehen. Dieser Unort also, wie ich ihn für mich nenne, wird an diesem Freitagnachmittag heftig aufgewühlt von lauwarmen Sturmböen, die Staub und Plastiktüten vor sich hertreiben, erst recht zwischen den flachen Nebengebäuden des örtlichen Krankenhauses. Dort werden wir empfangen vom Gesundheitsverantwortlichen des hiesigen Aimag, der sich jedoch wegen weiterer Verpflichtungen sogleich entschuldigt, dem Chefchirurgen, dessen rechte Hand seltsam zuckt, und dem IT-Spezialisten des Krankenhauses.

Im Ort fallen die älteren Häuser auf, weil sie einen Holzanbau haben und die Fensterrahmen auf eine Weise gefertigt sind, wie man sie in Europa kennt. Dies ist vermutlich zurückzuführen auf die Russen, die weiter nördlich einen unterirdischen Flughafen für ihre Kampfjets angelegt hatten. Heute liegt die mit 25 Kilometern längste Landebahn der Mongolei verlassen da, besichtigt werden darf sie trotzdem nicht.

Von der seit Jahrhunderten geopolitisch bedeutsamen Rolle des Ortes zeugt heute allerdings nur noch die Bahnverbindung: Die transsibirische Eisenbahn fährt hier zwei Mal die Woche durch, in 400 Kilometer Entfernung liegt die chinesische Grenze. Und dass japanische Truppen über ihren Vasallenstaat Mandschukuo hierherkamen, um in den Norden Chinas vorzudringen, darauf deutet eine Statue im Niemandsland hin: gefallene Mongolen im siegreichen Kampf gegen die japanischen Imperialisten. Dahinter erhebt sich der neuere Teil der Stadt: Wohnblocks, gegen die Winterkälte abgeriegelt, und nur in den inneren Zirkeln sieht man Werbetafeln, die u.a. auf einen Minimarkt hinweisen, einen Frisörsalon, ein Hotel.
Später betreten wir in der „alten Stadt“ ein Gebäude, vor dem ein Lautsprecher in Endlosschlaufe vermutlich Waren anpreist. Üppige Frauen stehen hinter spärlich ausgelegten Waren, BHs, Blusen aus Polyester. Makrelen im Glas werden uns angeboten, laut Etikett kommen sie aus Russland. In einem großen Saal mit ausgetretenem Parkett stehen ein paar Tische, dahinter sitzen Frauen und kreischen in einem fort. Nur was sie sagen, verstehen wir nicht, deuten vielleicht auch das Lachen in ihren feisten Gesichtern falsch, verlassen jedenfalls eilig wieder den Saal, treten hinaus in den staubigen Wind, der zugenommen hat. Die Windräder an den Straßenlaternen, die zudem mit Solarpanels ausgestattet sind, surren wild und so schnell im Kreis, dass man die einzelnen Flügel nur wie ein verwischtes Segel sieht.
Der Weg zum Bahnhof ist ein dröger, im Internet-Café sitzen Kinder vor Computern, die buntblinkende Gegenstände über den Bildschirm jagen, weit und breit kein Erwachsener. Vermutlich die einzige Art von Kinderbetreuung hier während der dreimonatigen Sommerferien. Vor einem Geschäft spricht uns eine Frau an. Sie öffnet ein halbhohes Gefäß aus Aluminium, lupft das angegraute Leinentuch und sagt: Busz. Gedämpfte Teigtaschen. Wir lehnen dankend ab. Den Sanddornsaft, den ich soeben gekauft habe, stelle ich nach dem ersten Schluck in eine Ecke, er schmeckt vergoren, wer weiß, wie lange das Ablaufdatum schon zurückliegt. Ich kann die Ziffern nicht zuordnen. Auf dem Rückweg kommen wir an einer Kirche vorbei, was man daran erkennt, dass in den viereckigen Bau zur Straße hin ein Kreuz in die Betonwand geritzt worden war.

Nichts an diesem Ort entspricht dem Mongolei-Bild aus Reisekatalogen. Keine Weidelandschaft, keine Pferde, Rinder, Schafe. Doch es ist die Vergänglichkeit, die einen von überallher anweht, dieses vollkommene Nichtverstehen, die erfolglose Dechiffrierung, die bleibt, und eben keine Hochglanzbilder.

Am Nachmittag holt uns der Klinikchef im Hotel ab, der uns Stunden zuvor als Chefchirurg vorgestellt worden war, und wir fahren etwa eine Stunde lang zuerst auf einer asphaltierten Straße, dann einfach mitten hinein in eine Steppenlandschaft, in der sich Felsen kegeln. Hinter zwei mit blauen Khadags umwickelten Pfosten versteckt sich die weiße Tara. Und der Chefchirurg, belassen wir es bei dieser Bezeichnung, mit seiner Frau und seinem Begleiter, der ein schwarzes T-Shirt mit goldenem Masarati-Logo trägt, zeigt uns ein Foto aus dem Jahr 1912, auf dem eine riesige Klosterstadt abgebildet ist. Hier lebten bis in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts 1500 Mönche, doch unter sowjetischem Einfluss wurde die Anlage zerstört. Keine Ruine, kein einziger Stein mehr ist zu sehen, nur hier und da verraten dunkle Grasnarben vielleicht Spuren der einstigen Grundmauern.

Als der Tag dämmert und oben am Himmel Geier ihre Kreise ziehen, wird der Kofferraum geöffnet und das Hammelfleisch herausgeholt, Pferdedung gesammelt, angewärmte Steine zusammen mit dem Fleisch und ein paar wenigen Kartoffeln in einen Dampfkochtopf getan. Und dann sitzen wir am Boden auf einer Plastikdecke mit dem Klinikchef, der stolz darauf ist, uns dieses typisch mongolische Gericht auf diese typisch mongolische Weise anbieten zu können samt dem Wodka, den er großzügig ausschenkt. Noch stolzer ist er später, als er in halsbrecherischer Geschwindigkeit mit seinem Toyota durch die bizarre Feldlandschaft rast und uns die seltenen Angali-Schafe zeigt. Die Landschaft ringsum sieht aus, als hätten Götter zum Zeitvertreib mit Felsen geworfen, um zu sehen, wer wohl der Stärkste sei. Zuletzt fahren wir zur Quelle Nordon, deren säurehaltiges Wasser gut gegen sämtliche Krankheiten sein soll.
Jeder Mongole, so hörte ich später in einem Dokumentarfilm, sei im Grunde seines Herzens ein Nomade, egal, wie städtisch und modern er sich gebe. Am nächsten Tag fragt unser Begleiter, als er schon Richtung Norden abgebogen war, ob dies die Straße nach Ulaan Bataar sei? Zuerst meinen wir, er mache einen Scherz, doch es ist ihm ernst und er will schon umdrehen. Offenbar scheint so manchem modernen Nomaden dann doch den Orientierungssinn abhanden gekommen zu sein.

Flussfahrt in Kambodscha

Als wären es Gebetsfahnen im Wind.
Rote, weiße und blaue Ballone
hängen im Bambusgehölz, das ächzt und knirscht, wenn eine Böe hineinfährt.

Verbrannter Plastikmüll beißt in den Augen,
auf dem Sangkae-Flus schaukeln die Hälse und Köpfe der Pet-Flaschen
markieren die Netze
treiben langsam flussabwärts.
Mancherorts ragen blaue und braune Käfige aus dem Wasser,
darüber stapeln sich leere Bambuskörbe,
abends oder anderntags gefüllt und auf den Markt gekarrt.

Ein Fischer und seine Frau waten am Ufer
das Wasser geht ihnen bis zur Hüfte.
Er zieht eine Bambusstange durch die Wellen
sie wirft den Plastikmüll zurück an Land
der nächste Windstoß wird ihn wieder zurücktragen.

Das Stöhnen des Bambusʼ wird unterbrochen von Popmusik
getaktet vom Tuckern der Generatoren
in blauen Rohren fließt Wasser auf die Felder.

Großherrliche Villen, wo wem errichtet?
Man vermutet Drogenbarone, korrupte Beamte hinter getönten Scheiben.
Weiter flussabwärts niedrige Wellblechhütten auf Pfählen
auf einer Veranda eine Hängematte aus orangefarbenem Nylon
daneben verrottet ein Boot, sein Bug liegt tief im Wasser.

Metallene Finger ragen in den monsunschweren Himmel
Mobilfunkantennen greifen nach unsichtbaren Wellen
gut verdrahtet ist das Land.

Info:
Die Fahrt auf dem Sangkae-Fluss nördlich von Battambang kann man mit einem Kajak unternehmen. Am besten, man fragt dafür im Hotel Royal nach dem Verleiher Green Orange und arrangiert von dort aus sowohl den Tuk-Tuk-Fahrer sowie das Ausleihen des Kajaks vor Ort. Stand August 2018.

Weitere „Wasser“-Artikel:

Tibetische Flüchtlingskinder

© Yangchen Waldburger Zahn

Anfang der 1960er-Jahre wurden 160 tibetische Flüchtlingskinder – aufgrund der Initiative des Schweizer Industriellen Charles Aeschimann – in die Schweiz geholt. Zunächst hieß es, es seien Waisenkinder, die bei Pflegefamilien ein neues Zuhause finden sollten. Und später, so die Idee des Dalai Lama, sollten diese Tibeter zurückkehren und ihrem Volk möglicherweise gar in Tibet beim Aufbau helfen. Doch die meisten der „Tibeterli“, wie sie damals in den Medien verniedlichend genannt wurden, waren keine Waisen. Und statt zurückzukehren, blieben viele in einem kulturellen Zwiespalt gefangen.
Die Journalistinnen Sabine Bitter und Nathalie Nad-Abonji haben die Hintergründe dieser Aktion recherchiert.

Es gibt meines Wissens bereits zwei Doku-Filme über tibetische Kinder, die von Schweizer Familien adoptiert wurden. Warum jetzt noch ein Buch?

Uns hat – über die in den Filmen dokumentierten Einzelschicksale hinaus – interessiert, wie es dazu kam, dass eine initiative Privatperson praktisch losgelöst von einer behördlichen Aufsicht 160 außereuropäische Kinder und Jugendliche in die Schweiz holen und diese nach eigenem Gutdünken bei Pflegefamilien unterbringen konnte. Wir wollten mehr wissen über die politische und juristische Dimension dieser Geschichte. Deswegen haben wir nicht nur Gespräche mit ehemaligen Pflegekindern und deren Angehörigen geführt, sondern haben in Archiven recherchiert und viele unbekannte Fakten zu Tage gefördert. Die Rahmenbedingungen dieser Aktion zu erhellen, ist wichtig, weil die jungen Tibeterinnen und Tibeter damals zur ersten Gruppe von außereuropäischen Kindern überhaupt gehörten, die in unser Land geholt wurden. Sie stehen am Anfang der Schweizer Auslandsadoptionen, die ein hochproblematisches Kapitel der Fremdplatzierung ausmachen, das bisher nicht aufgearbeitet worden ist. Und nicht zuletzt hat uns auch die Position des Dalai Lama in der Aeschimann-Aktion interessiert.

Vom damaligen Standpunkt aus gesehen, war die Aktion des Schweizer Charles Aeschimann begrüßenswert. Können Sie kurz skizzieren, wie es zu dieser Hilfsaktion kam, zumal zeitgleich in der Schweiz noch immer Verdingkinder in schwierigen Verhältnissen lebten und auch die Kinder der italienischen Gastarbeiter keinen legalen Status hatten.

Der Oltner Industrielle lancierte 1959 die Idee, tibetische Flüchtlingskinder aufzunehmen. Dies nachdem der Dalai Lama nach seiner Flucht aus Tibet nach Indien die westliche Welt darum gebeten hatte. Dank guter Beziehungen gelang es Aeschimann, einen direkten Kontakt zur Familie des Dalai Lama herzustellen. Als Erstes schlug er ein Tibeter-Haus im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen vor, wofür er selbst Mittel aufbrachte und ein finanzielles Risiko in Kauf nahm. Das Haus konnte bald gebaut und das Projekt schnell realisiert werden. Der Dalai Lama zeigte sich dankbar und erfüllte zugleich Aeschimanns Wunsch, selbst ein tibetisches Kind zu bekommen. Die Ankunft des Jungen und auch der kleinen Tibeterinnen und Tibeter, die ins Pestalozzi-Dorf zogen, löste ein enormes Medienecho aus. Viele Ehepaare und Familien meldeten sich danach bei Aeschimann, weil sie auch ein „Tibeterli“ aufnehmen wollten. So kam es, dass Aeschimann mit der Vermittlung von Pflegekindern begann. Die Aufnahme tibetischer Flüchtlingskinder war ein humanitäres, im Kalten Krieg aber auch ein politisches Statement, hatten sie doch vor den chinesischen Kommunisten flüchten müssen. So hatte man bereits 1956 auch die Ungarnflüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Mit der Aufnahme eines italienischen Saisonnierkinds, das in der Schweiz illegal im Versteckten leben musste, oder einem Kind, das auf einem Bauernhof verdingt war, hätte sich kein medial wirksames, antikommunistisches Statement verbinden lassen.

Es war von einer Aktion für tibetische Waisenkinder die Rede, doch die meisten Kinder hatten zumindest noch einen Elternteil, manche Eltern wurden gar nicht gefragt, zumal die Entscheidungen von Mönchen und dem Dalai Lama ohnehin nicht zu hinterfragen waren. Wie wurden die Kinder ausgewählt, die in die Schweiz reisen durften und später als gut ausgebildete Tibeter zurückkehren und ihrem Volk helfen sollten, wenn es denn eines Tages zurück nach Tibet gehen würde?

Die Kriterien, nach denen die Leitung des Heims – also maßgeblich die ältere Schwester des Dalai Lama, Tsering Dolma – die Kinder für die Pflegefamilien auswählte, sind nicht klar zu benennen und nirgends dokumentiert. Es spielte offensichtlich in einigen Fällen eine Rolle, ob die Kinder zur Tanzgruppe des Heims gehörten, musikalisch waren und sich gut bewegen konnten. Der Mönch, der damals mithalf, die Kinder auszusuchen, sagte uns in einem Gespräch 2015, er habe den Kindern auch einfach ins Gesicht geschaut und so versucht herauszufinden, ob sie eine schnelle Auffassungsgabe besaßen, lernwillig und wissbegierig waren. Anderen Kindern wurden Fotos und Postkarten aus der Schweiz gezeigt. Dann wurden sie gefragt, ob sie dahin möchten. Oder die Mädchen und Jungen wurden nach ihrem Berufswunsch gefragt, und wenn dieser zufällig zum Beruf eines Pflegevaters passte, hatte das Kind eine größere Chance, genau in dieser Familie platziert zu werden. So kam beispielsweise ein Kind, das angab, Arzt werden zu wollen, in eine Medizinerfamilie. An dieser Stelle manifestierten sich aus unserer Sicht auch die unterschiedlichen Interessen von Charles Aeschimann und dem Dalai Lama: Aeschimann wollte möglichst kleine bzw. junge Kinder in die Schweiz holen, die sich hier schnell zurecht fanden. Während der Dalai Lama ein Interesse daran hatte, wesentlich ältere Kinder in die Schweiz zu schicken, die bereits so stark von der tibetischen Kultur geprägt worden waren, dass sie später zurückkehren würden.

Wie beurteilen Sie selbst die eher paternalistische Haltung des Industriellen Charles Aeschimann, der damals sowohl die Zusammenarbeit mit kompetenten Hilfsorganisationen wie dem Schweizer Roten Kreuz verweigerte als sich auch die Einmischung von Behörden verbat?

Charles Aeschimann war durch und durch ein Macher, der es gewohnt war, dass andere sich nach seinen Ansagen richten. Hinzu kamen seine exzellenten Verbindungen in Politik und Wirtschaft, die er geschickt zu nutzen wusste. Wohl auch mit dem Anspruch, sich humanitär zu engagieren. Wie sich beispielsweise an seiner Initiative für die beiden Tibeter-Häuser im Pestalozzidorf ablesen lässt. Allerdings verfügte er weder über pädagogische noch über entwicklungspsychologische Kenntnisse. Hinzu kam, dass seine Aktion, wie bereits erwähnt, weitgehend losgelöst von behördlicher Kontrolle war. Und das war von ihm durchaus so gewollt.

Welche Motivationen steckten hinter den Adoptionen, nicht alle Tibeter waren „glücklich“, auch weisen Sie auf die relativ hohe Suizidrate unter diesen Kindern und später Jugendlichen hin.

Nur ein Teil der „Aeschimann-Kinder“ wurde adoptiert. Und wenn, oft erst Jahre später. Hinter der Pflegekinder-Aktion standen widersprüchliche Interessen. Und gerade dies hatte für viele Tibeterinnen und Tibeter eine große psychische Belastung zur Folge. Die Pflegeeltern, die ein tibetisches Kind aufnahmen, wollten eine Familie gründen oder die bestehende erweitern. Der Dalai Lama aber vermittelte die Kinder nur auf Zeit: Sie sollten der tibetischen Kultur und dem Buddhismus stark verbunden bleiben und dereinst nach einer möglichst guten Ausbildung als hochqualifizierte Elite in ein befreites Tibet, so die Hoffnung, zurückkehren. Es zeigte sich aber bald, dass dieses politische Bildungsprogramm nicht aufging: Die Mädchen und Knaben kamen als traumatisierte Flüchtlinge und Heimkinder in die Schweiz, waren oft schon im Schulalter, konnten aber noch nicht lesen und schreiben. Sie standen von Anfang an unter einem hohen Anpassungsdruck, sich möglichst schnell zu integrieren, in der Schule und Ausbildung erfolgreich zu sein, um dereinst die Ansprüche des Dalai Lama zu erfüllen und zurückzukehren. Spätestens in der Pubertät kam es bei vielen zu außerordentlich schweren Krisen. Viele Pflegeeltern waren denn auch überfordert. Sie erwarteten, dass die jungen Leute die Bildungschance dankbar ergreifen und „etwas aus sich machen“. Die Jugendlichen standen in einer Zeit, in der sich in der Schweiz nach 1968 autoritäre Strukturen aufzulösen begannen, unter einem Bildungsdiktat und waren zudem von religiös geprägten, ungewohnt autoritären Anweisungen ihrer leiblichen Eltern, die sich aus der Ferne meldeten, konfrontiert. Mit der Herkunftsfamilie konnten sie sich aber nicht angemessen verständigen, denn die jungen Leute konnten kein Tibetisch mehr. Viele fühlten sich so hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen, entwurzelt und psychisch unter Druck. Manche konsumierten Drogen, andere wurden krank. Dass es in dieser Community spezifische Probleme und einen Zusammenhang zu einer hohen Suizidrate gibt, wurde bereits in einer früheren Studie (Brauen/Kantowski) in den 1980er-Jahren belegt und muss aufgrund unserer Recherchen bestätigt werden.

Wie sehen die betroffenen Tibeter-Kinder die Aktion heute?

Ihre Sicht auf die Aktion ist sehr unterschiedlich, da sie alle mit unterschiedlichen Voraussetzungen (Herkunft, Alter, Bildungsstand etc.) in die Schweiz kamen, wo sie auf sehr unterschiedliche Verhältnisse in den Pflegefamilien trafen. Davon ist auch ihre heutige Sicht auf die Aktion geprägt. Wir kennen Fälle, in denen Kinder schwer krank in die Schweiz kamen und hier behandelt oder gar geheilt werden konnten. Da ist auch heute noch eine große Dankbarkeit gegenüber dieser als Chance bewerteten Aktion zu spüren, im Bewusstsein, dass sie unter Umständen im indischen Exil nicht überlebt hätten. Darüber hinaus gibt es eine Reihe ehemaliger Pflegekinder, die sich in der Schweiz beruflich verwirklichen konnten, wie es in Indien kaum möglich gewesen wäre. Aber wir haben auch mit zahlreichen «Aeschimann-Kindern» gesprochen, die sich bis heute entwurzelt und nirgends heimisch fühlen. Oft berichteten sie auch davon, sich sogar in der tibetischen Exilgemeinschaft fremd zu fühlen, weil sie, im Gegensatz zu anderen Exil-Tibetern, die Sprache nicht sprechen und die Bräuche nicht kennen. Teilweise beeinträchtigt dieses Gefühl der Entwurzelung bis heute die Lebensqualität der Betroffenen sehr.

Sabine Bitter, Nathalie Nad-Abonji: Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann. Rotpunkverlag, 240 Seiten, 38 Franken.

Tibetische Welten

Vortrag & Lesung:

Cover mit Mönch

Am 10. März 1959 erhob sich das Volk gegen die Fremdherrschaft der Chinesen in Lhasa, der Aufstand wurde niedergeschlagen, ein Exodus begann, und seither leben Tibeter in den USA, Indien, England, der Schweiz und knapp sechs Millionen in Tibet. Längst driften die Lebenswelten und Erfahrungshorizonte innerhalb der tibetischen Gemeinschaft auseinander. Die bekannte tibetische Autorin Tsering Öser sagt dazu: „Beim Schreiben merke ich, wie ich mir selbst fremd bin, sehe, wie viele Tibeter mit sich selbst uneins sind, und beobachte eine Spaltung des tibetischen Volkes.“

In ihrem Vortrag geht die Sinologin und Tibetkennerin Alice Grünfelder anhand literarischer Texte auf Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Lebensweise heutiger Tibeter ein. Sie beleuchtet aber auch deren Unbehagen, nie wirklich dazuzugehören, im extremsten Fall immer ein entwurzelter Flüchtling zu sein.

Zeit: 24. November  2018,19:30 Uhr

Ort: Café Mondial, Palmhauspark, Zum Hussenstein 12, Konstanz

Mehr Informationen zum „Flügelschlag des Schmetterlings“ hier.

Warum schreibt man?

Drei Autorinnen berichten.

Dina Casparis,bern Christine Jäggi und Angela Suter lesen aus ihren Texten und stellen sich den kritischen Fragen von Alice Grünfelder, Lektorin und Schreibcoach. Warum zum Beispiel schreibt man überhaupt und aalt sich nicht viel lieber in der Sonne wie die Romanheldinnen? Was macht das Schreiben von quirligen Kurzgeschichten und frechen Romanen so aufregend?

Dina Casparis erzählt in ihrem Debütroman High Heels – Heisse Deals von einer jungen Anwältin, die sich auf der Spur von mysteriösen Beautypillen nicht nur mit einer Kosmetikfirma anlegt. Christine Jaeggi verwebt Liebe und Spannung auch in ihrem aktuellen Roman Das Geheimnis der Muschelprinzessin, in dem eine goldene Muschel, ein toter Hoteldirektor und ein attraktiver Journalist das Leben der Empfangsdame Nora auf den Kopf stellen. Und Angela Suter verbindet Humor und Angriffslust zu einer bissigen Kurzgeschichte, die das Treppenhaus zum Schauplatz eines romantischen Nachbarschaftszwists macht.

Ort und Zeit: Kulturkreis Meilingen, 15. November 2018, 20 Uhr

Zähes Ringen ums Überleben

„Welcher Tag ist heute? Der 2., glaube ich … Der 2. Juli.“
„Heute ist der 10. Juli. Donnerstag der 10. Juli. Nicht mit den Tagen durcheinanderkommen. Die Zeit ist meine einzige Gewissheit. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich habe keine Ahnung, was da draußen vor sich geht. Und es bringt nichts, darüber zu spekulieren. 10. Juli, Donnerstag, der 10. Juli. Der Tag und das Datum sind meine einzige Orientierung.“
„Heute ist Freitag, der 22. August.“
„Heute ist der 13. September.“

Und einmal sagt Christophe André, der 1997 als Mitarbeiter der NGO Ärzte ohne Grenzen im Nordkaukasus gekidnappt wurde: „Geisel sein ist schlimmer als Gefängnis.“

Und so bleibt ihm nur das Warten und die Hoffnung, dass die Welt da draußen ihn nicht vergessen hat, den Verstand nicht zu verlieren, mit dem Zählen nicht durcheinander zu geraten.

Guy Delisle hat diese 111 zähen Tage des Wartens in einem 428 Seiten langen Buch festgehalten. Nur selten wird es unterbrochen von unerklärlichen Ortswechseln, erneutem Warten, rätselhaften Geräuschen. Deslise malt beharrlich ein Panel nach dem anderen, aufs Äußerste reduziert, meist 3 Bilder à zwei Panels auf einer Seite, nur gelegentlich unterbrochen von einem breiten Bild, das die Eintönigkeit formal unterbricht, oder einem Bild, auf dem die Geisel von oben zu sehen ist, wie sie auf einer Matratze liegt, am linken Handgelenk angekettet an einen Heizkörper.

Wer von solcherart Lektüre ermüdet, mag sich gelegentlich fragen, was denn die eigene Lesequal bittesehr ist angesichts dieser quälenden und ungewissen Warterei, an dessen Ende auch der Tod hätte stehen können?

Guy Delisle: Geisel, Reprodukt Verlag, 29 Euro;
Leseprobe zum Reinschauen hier:

Weitere Beiträge zum Thema Comic:

Absurd = Alltag in Burma. Ein Comic von Guy Delisle.
Frustrierende Realität. Shenzhen. Ein Comic von Guy Delisle.
Der Comic und die Fakten, u.a. mit Guy Delisle.
Eine ganz normale chinesische Familie? Comic von Li Kunwu.
Wie übersetzt man Comics?
Bilderwelten: Vortrag und Workshop mit Theres Ruetschi und Alice Grünfelder
Der Fumetto-Wettbewerb Comicwelten.
Die Korrekturleserin: Illustration Theres Ruetschi, Text Alice C.

Endlich ist das Glück

Im Mitteldeutschen Verlag ist wieder ein vietnamesischer Band in wunderbarer Ausstattung und mit eigenwilligen Erzählungen erschienen.

Auf den ersten Blick irritieren die Dorf-Geschichten der vietnamesischen Autorin Nguyen Ngoc Tu, denn warum irrt ein vietnamesischer Bauer auf der Suche nach seiner Tochter zwölf Jahre durchs Land, meint er tatsächlich, er findet sie, indem er sich einer Schauspieltruppe anschließt? Und warum grämt sich ein älterer Inselbewohner, weil ein junger Arzt – ohne Abschied zu nehmen -, das Dorf wieder verlässt, weil es ihm nichts zu bieten hat?

Auch von enttäuschten Lieben hat man schon gelesen … Aber dann werden die Geschichten immer kantiger, die Existenzen, vor allem diejenigen der Frauen, immer fragiler. Warum nur?

„Die Männer auf dem Land … betranken sich ständig, sie bedienten sich gern ihrer Fäuste und Füße, um ihre Machtstellung zu wahren. Erschöpft von der Arbeit auf den Feldern, waren diese Männer ausgelaugt, ihre Herzen verknöchert; oft hatten sie ein ganzes Leben lang kein liebes oder auch nur freundliches Wort für ihre Frauen übrig. Sie waren nicht fähig, zärtlich zu sein, sie zu umwerben …“,

erklärt die Protagonisten in der titelgebenden Erzählung „Endlose Felder“ das Verhalten ihres Vaters und damit auch die Misere der Bauern und Entenzüchter, die im Mekong-Delta an Land oder zu Wasser ein ärmliches Dasein fristen. Schonungslos berichtet die Autorin von dieser Armut, die eine junge Frau dazu bringt, ihr Kind auszusetzen, Männer ihre Frauen zu schlagen, Frauen ihre Männer zu verlassen, Kinder ihre Eltern zu fürchten.

Und damit handelt sie sich die Kritik des Parteikomitees ein, denn in Vietnam ist Literatur noch immer einem sozialistischen Realismus verpflichtet. Zwar stelle die Autorin das Leben auf dem Land realistisch dar, doch statt die Ausweglosigkeit der Bevölkerung zu zeigen, hätte sie gut daran getan, den Geschichten eine positive Wende zu geben und auf die Möglichkeiten hinzuweisen, die die vietnamesische Gesellschaft durchaus biete. Daher seien die „Geschichten auch untypisch für die Zustände auf dem Land und in Vietnam“, so zitieren die Übersetzer Günter Giesenfeld und Marianne Ngo die Regierungskritik in einem ausführlichen und fundierten Nachwort.

Herkömmliche Dorfgeschichten also sind es mitnichten, diese Erzählungen, die Erfüllung in der Liebe verwehren, in denen sich jeder traurig seinem Schicksal ergibt und der Zerfall der Familie unausweichlich scheint. Von Traditionen ist nirgendwo die Rede, vielmehr von Entwurzelung, dafür stehen auch die nomadisierenden Entenzüchter, die sich auf wackligen Kähnen nur mit Müh und Not buchstäblich über Wasser halten.

Und damit bin ich bei weitaus beeindruckenderen Merkmalen dieser Texte: Obwohl sie lokal zu verorten sind – im Süden Vietnams – und sich auch zeitlich fixieren lassen – von der Vogelgrippe ist die Rede, der ganze Entenherden zum Opfer fallen, von schmutzigem Wasser in einem Kanal, von einem alten Bombenkrater, in dem Menschen baden –, so sind die Erzählungen zeitlos. Sie stehen für viele Gegenden in dieser Welt, in der auf Landflucht Verarmung und soziale Verrohung folgt. Letztlich ist es die Zeitlosigkeit dieser Szenografien, die bleibt und verstört.

Der Autorin wird dieses Jahr der LiBeraturpreis verliehen und auf der Frankfurter Buchmesse 2018 überreicht.

Nguyen Ngoc Tu: Endlose Felder. Erzählungen. Aus dem Vietnamesischen von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo, 272 Seiten, Mitteldeutscher Verlag, 24.95 Euro.

Weitere Artikel über Vietnam …

Vietnam fürs Handgepäck

Vietnam – angekommen

Dongxuan – Vietnam in Berlin

Wüste auf der Alb

Ölschieferwerke werden die zehn Konzentrationslager auf der Schwäbischen Alb euphemistisch genannt. Knapp 2000 Menschen unterschiedlicher Nationalität haben dort für Hitlers Wüsten-Projekt ihr Leben gelassen. Denn ihm war in den letzten Kriegsjahren das Benzin ausgegangen, und sein Chefarchitekt Albert Speer kam auf die aberwitzige und tödliche Idee, in einem aufwendigen Verfahren Öl aus Schiefer zu gewinnen.
Überraschend war beim Gang über den Schömberger KZ-Friedhof aber auch, dass große Teile der einheimischen Bevölkerung halfen, aus dem KZ Geflohene wieder einzufangen. Was mag in diesen Menschen vorgegangen sein?
Dokumentarisches wird mit Literarischem kombiniert, um dieser Frage in „Die Wüste auf der Alb“ nachzugehen, den Text kann man ab sofort in der aktuellen Ausgabe von Wespennest Nr. 174 lesen.
Zu hören gibt es den Text in Solothurn bei der Kurzlesung am 13. Mai um 10.30 Uhr.

Urbanes Wandern

Sonnig ist es heute,
die Ersten scharren schon mit den Füßen,
der Berg lockt.
Dich zieht es in die Agglo, dorthin
– wo Jumbos wie schwere Käfer ihren Rumpf über Häuserblocks schieben
– wo ein Schwimmer in Neopren, des grünlichen Schimmers oder der Kälte wegen?, den Glattparksee längs durchschwimmt
– wo Streifen und Leitungen den Himmel zerschneiden
– wo keine Sehenswürdigkeiten zu sehen sind, warnt der Wanderführer.

Tramhalteselle Fernsehstudio.
Hier werden Nachrichten gemacht,
aber von hier dringen keine Nachrichten in die Stadt. Outer space.
Auf den Wiesen liegen, wenn es wärmer ist, Familien.
Der Kiosk hat noch geschlossen, zu früh im Jahr.

Bälle ploppen.
Ein Hiphopper in weiten Shorts hüpfelt
die schräge Betonwand hoch,
im Takt zur Melodie aus seinen schweren Kopfhörern.

Chatzenbach. Schnurgerade unter Strommasten
nichts dem Zufall überlassen zwischen Grünstreifen und Bauzahn,
wo ein Obdachloser seine Decke und leere Zigarettenschachteln deponierte.

Über ein rote Brücke geht eine Frau mit roter Plastiktüte,
der Duft nach Cannabis liegt in der Luft.
Spatzen gixen, Amseln quirlen,
den ganzen Winter nicht gehört und überhaupt
immer seltener. Sie sterben aus, heißt es,
gejagt von verwilderten Hauskatzen und hungrig,
weil das Luftgetier nicht genügt.
Ein junges Mädchen schlappert mit Sandalen hinter einem
dunkelhäutigen Mann her.
Ihr Vater?
Ihr Onkel?
Der überquert rasch die Tramschlaufe 14.

Eine Familie spielt Boccia mit Plastikkugeln,
sieht nicht den Vater und den Sohn, beide längst erwachsen,
wie sie hinauf schlendern zur Vogelvoliere
vorbei an der steinernen Bank „800 Jahre Seebach“.
Die Vögel in den Käfigen sind jünger.
Kinder mahnen, den Afpal nicht liegenzulassen,
auch nicht bei Regen.

Eine Kinderschaukel gireizt, ein Stieglitz geigelt,
das Handy jingelt neben der Frau auf dem Spielplatz,
die greift nach Chips und Fanta.

Der Himmel bebt, den ganzen Morgen schon,
vibriert, summt, dröhnt, pfeift,
– je nachdem, wie steil die Flugzeuge starten
– je nachdem, woher der Wind weht.
Fliegen hinein in ein Geschwulst am Himmel
ziehen weite Kurven tief über eine Kleintieranlage,
deren Tage sind gezählt, eine Umzonung ist geplant, denn
Zonenkonformität ist gefährdet.
Gefährdet ist auch die High-Tech-Genanlage,
deshalb hoch der Zaun
silbern spiegelt sich darin die Sonne.

Wasserbüffel warten in der Frühlingssonne – worauf?
Klingelt ein Fahrradfahrer mit Kleinkindanhänger
weicht die alte Dame noch längst nicht aus
schwankt nach links nach rechts
hat ihn nicht gehört, schaut konzentriert hinab,
wie sich ein Fuß vor den andern setzt auf den asphaltierten Weg vor ihr.

Strand-Feeling in Reckenholz
– Paddel an Holzwänden
– Club-Sessel hinter Bambus verborgen
– ein angenagtes Tier
– und ein Pferd trabt über die Autobahn.
Gäbe es das Autobahnausfahrtschild Büsisee nicht,
würde keiner in der schilfigen Senke einen See vermuten.

Am Chatzensee zeigt noch kaum jemand Haut,
Sprachen klingen, keine verstehst du,
neben Holzstößen warten Würste.

Einst wurde hier eine Leiche gefunden,
zuerst erwürgt, dann hier am Ufer deponiert.
Entdeckt von einem Spaziergänger.
Sonst hat niemand nichts gesehen.

Die Wehntaler Straße durchquert das Ried
kein Überqueren, kein Durchkommen
nur Untertunnelung.
Bis du auf einer Anhöhe stehst,
über dir blaue Röhren, die kieseln
und weiter hinten wird der Kies zu Split gemahlen.

Es pflügt ein Traktor einen Acker
und daneben wartet ein fahrbarer Jagdsitz – worauf?
Gejagt wird hier schon lange nicht mehr.

Glück

Nichts stelle ich mir schwerer vor, als über das Glück zu schreiben. Wird Glück nicht ohnehin hoffnunglos überschätzt? Und geraten nicht vor lauter inflationärem Glückgewünsche unzählige Glückszeilen auf Glückwunschkarten spätestens dann in Schieflage, wenn man sie genauer liest? Jedenfalls habe ich mich ein paar Monate lang daran versucht, über das Glück einen Dreizeiler zu schreiben. Der prompt aufgenommen wurde in die Anthologie „Vom Glück“.
Und gleich hat einer eine wunderbare Rezension über dieses Heft geschrieben.