Menschenkette

Menschenkette – Friedensbewegung – Abrüstung

Drei Stichwörter, die heute zu Unrecht in Verruf geraten sind. Doch 1983 protestierten mehrere Hunderttausend Menschen gegen die geplante Stationierung der US-Atomraketen in Süddeutschland. Einzelpublikationen zu diesem Thema sind rar. Was und wer damals hinter der 108 Kilomenter langen Menschenkette stand, welche Zweifel und und Gedanken die Menschen bewegte, darüber hat Cäcilie Kowald nun einen Roman geschrieben.

Du warst 10 Jahre alt, als Du bei der Menschenkette mitgemacht hast. Woran erinnerst Du Dich noch genau bzw. an was erinnerst Du Dich besonders gut?

Vor allem erinnere ich mich an die Fahrt entlang der Menschenkette. Wir waren mit dem Auto gekommen, zwei Familien mit insgesamt fünf Kindern, und wir Kinder haben uns beömmelt über die Namen der Orte, durch die wir fuhren: Süßen, Gingen, Kuchen; wir fanden, die Reihenfolge sei falsch, es müsse doch „Gingen Süßen Kuchen“ heißen. Außerdem erinnere ich mich an die Menschenmassen am Straßenrand, und dass wir nicht bis Geislingen fuhren, wie geplant, sondern irgendwo bei Kuchen anhielten und ausstiegen, um uns einzureihen. An das Stehen in der Kette erinnere ich mich jedoch gar nicht mehr – das wird vermutlich relativ langweilig gewesen sein, zumal für ein Kind.

Ich selbst habe über die Friedensbewegung einen Essay geschrieben, mir wurde in Rezensionen zum Teil vorgeworfen, ich hätte mich hinter der Uneindeutigkeit des Genres versteckt. Was war der Auslöser für Deinen Roman?

Den einen ausschlaggebenden Punkt gab es nicht, eher viele Punkte, die sich irgendwann zu einem Bild verdichteten. Im Zentrum stand die Frage, was damals, in einer Zeit, die mich sehr geprägt hat, aber an die ich nur unvollständige und sehr kindliche Erinnerungen habe, eigentlich wirklich los war. Und warum damals zu Demos Hunderttausende Menschen kamen, später aber, als ich erwachsen war, schon ein paar tausend Teilnehmer:innen ein Erfolg waren.

Die Kapitelüberschriften sind Uhrzeiten, der Roman beginnt um halb sieben und begleitet verschiedene Personen durch den Tag. Immer wieder werden Militärs und Politiker zitiert, Zeitungsausschnitte eingestreut, Dokumente angeführt, was die Stimmung auf der Gegenseite gut wiedergibt. Hast Du Deinem eigenen Text nicht genug vertraut, oder warum hast Du Zeitdokumente eingestreut?

Ich wollte auch die Gegenseite zu Wort kommen lassen; alles andere wäre mir unfair erschienen. Aber eine entsprechende „Gegnerfigur“ zu entwickeln und den anderen gleichberechtigt zur Seite zu stellen, reizte mich nicht. Mit den Zeitdokumenten konnte ich die Stimmung der damaligen Zeit sehr effizient und differenziert genug aufleben lassen.

Im Personenverzeichnis sind 21 Figuren gelistet. Ein gewagtes Unterfangen, und ich war gespannt, ob es Dir gelingen würde, die Protagonisten so zu zeichnen, dass die Leser:in sich zurechtfindet inmitten der vielen Namen. Erstaunlich, wie Du mit wenigen Strichen die Figuren so skizzierst, dass man sie tatsächlich wiedererkennt. Du lässt sie vor vor allem durch innere Monologe zu Wort kommen. Manchmal habe ich mich gefragt: Sind das Cäcilie Kowalds Zweifel und Überlegungen zu dieser Aktion, verteilt auf 21 Schulten, oder wie bist Du vorgegangen bei der Montage all dieser Reflexionen und Meinungen?

Es sind nicht nur meine Zweifel und Überlegungen, sondern auch die, die mir bei anderen begegnet sind. Ich habe auf der Suche nach einer politischen Heimat viele Menschen und politische Spektren kennengelernt und wie die so ticken. Zudem kenne ich Menschen, die zwar politisch interessiert sind, aber nie auf eine Demo gehen würden – einfach weil sie das nicht kennen, weil es ihnen sozusagen kulturell fremd ist, und weil ihre Zweifel größer sind als ihre Zuversicht, dass es etwas bringt. Letztlich wollte ich vor allem auch ihnen zeigen, dass das normal ist, dass die Auseinandersetzung mit diesen Zweifeln und Gedanken Teil des persönlichen politischen Prozesses ist, und dass auch die vordergründig so Überzeugten oft ihr Leben lang damit nicht fertig sind.

Eine Figur, Ines Heger, die gerade aus Nicaragua zurückkehrt ist, fällt ein wenig aus dem Rahmen. Vor allem gegen Ende stellt sie grundsätzliche Fragen, wie z.B. jene, inwieweit man sich durch sein Tun oder Nicht-Tun verantwortlich macht, eine Frage, die vor allem auf die deutsche Vergangenheit und das Mitläufertum anspielt. Sie selbst stellt Deutschland diesbezüglich kein gutes Zeugnis aus, fühlt auch eine starke Entfremdung zu den Deutschen, die noch eine Bahnsteigkarte kaufen, wenn sie einen Bahnhof stürmen wollen, wie es an einer Stelle heißt. Wie bist Du auf diese Figur gekommen?

Nicaragua war damals ein hochaktuelles Thema! Und das, was man heute globale Gerechtigkeit nennen würde, also die Berücksichtigung von Interessen der sogenannten Dritten Welt und von Staaten jenseits der führenden Industriestaaten und Machtblöcke, spielte in den Bewegungen der damaligen Zeit durchaus eine Rolle. Warum also hätte ich ausgerechnet das auslassen sollen? Dass es den Blick auf die Heimat verändert, wenn man länger weg war, bis hin zu einer gewissen Fremdheit, kenne ich aus späteren eigenen Erfahrungen – als Slavistik-Studentin war ich in den 1990er Jahren einige Male länger in Russland.

Das Buch, so scheint mir, kommt gerade zur rechten Zeit – einer Zeit, in der wieder massiv Aufrüstung gefordert wird, manchmal ausgerechnet von Menschen, die damals in der Friedensbewegung aktiv waren, womöglich Teil der Menschenkette waren. Ist das Buch insofern ein bewusstes Statement oder war der Erscheinungstermin ein verlegerischer Zufall?

Wahrscheinlich weder noch. Die ersten Skizzen zum dem Buch stammen tatsächlich schon von 2010, als überhaupt nicht zu vermuten war, dass das Thema jemals wieder so brisant werden würde. Aber dass es mich umtrieb, ist sicher kein Zufall; und es gab seitdem tatsächlich schon mehrere Zeitpunkte, zu denen ich dachte: Wie schade, dass das Buch noch nicht fertig ist! – zum Beispiel, als Donald Trump den INF-Vertrag aufkündigte. Aber das waren letztlich Ereignisse, die die breite Öffentlichkeit kaum wahrgenommen hat. Der genaue Termin war tatsächlich Zufall: Mit dem Verlag wurde ich Mitte Februar einig; den Vertrag haben wir wenige Tage vor Beginn des Ukrainekriegs unterschrieben. Was aber nur einmal mehr zeigt, dass das Buch auch heute noch eine Menge zu sagen hat.

Cäcilie Kowald: Menschenkette. Verlag 8 Grad, Freiburg, 2022, 226 Seiten, 24 Euro

Weitere Artikel zum selben Thema:

Richard Rohrmoser: Sicherheitspolitik von unten. Ziviler Ungehorsam gegen Nuklearrüstung in Mutlangen.

Wozu? , nachzulesen auf dem Blog „Aus dem Alltag“ von Manfred Lipp.

Alice Grünfelder: Wird unser Mut langen?

Banus Erlösung

Rückkehr nach Xinjiang


Die Nachrichten aus Xinjiang sind erschütternd, oder sind es nur Gerüchte? Deshalb kehrt die Universitätsdozentin Banu 2017 von der Türkei nach Xinjiang zurück, weil sie sich selbst ein Bild von der momentanen Lage machen möchte. Gleich bei ihrer Ankunft wird sie tagelang festgehalten und von einer Frau Zhang verhört, die sich insbesondere für ihre Liebesaffäre – oder doch eher ein Fall von #metoo – mit ihrem ehemaligen Gönner und Professor Guo interessiert. Erst viel später wird Banu erfahren, dass Professor Guo ausgerechnet diese Verhörbeamtin geheiratet hat. Überhaupt schlägt die Romanhandlung so manch seltsame Kapriole, doch der Reihe nach.

Verrat ohne schlechtes Gewissen

Erstaunlich offenherzig berichtet Banu von ihren Mitmenschen, ihrer Vergangenheit, ihren amourösen Liebschaften, nur um nicht ins Umerziehungslager gebracht zu werden – ein verständliches Ansinnen. Doch warum sie ihren damaligen Chef, der nach den gewalttätigen Demonstrationen von 2009 hingerichtet wurde, und ihre beste Freundin Senem, die seitdem verschwunden ist, denunziert hat, bleibt eines der zahlreichen Rätsel der Protagonistin. Damals informierte Banu die Polizei, dass die Uiguren eine Sitzblockade abhalten. Vielleicht war ihr Anruf nicht ausschlaggebend. Als Uigurin und Parteimitglied kam sie nur ihrer Pflicht als Staatsbürgerin nach, sagte sie sich leichthin. Gleichwohl plagt sie fortan ein schlechtes Gewissen, und sie setzt bei ihrer Rückkehr 2017 alles daran, wenigstens die Tochter ihrer Freundin aus einem der berüchtigten Berufsschulzentren zu bekommen. Dafür lässt sie sich auf ein gewagtes Spiel ein: Im Gegenzug verspricht sie, einen Bekannten – oder ist er gar ihr Liebhaber? – in der Türkei sowie die chinesische Diaspora auszuspionieren.

Absurde Bürokratie

Dieses Buch, der erste uigurische Roman, der je ins Deutsche übersetzt wurde, liegt nun zweisprachig vor – insofern ist er auch eine Gelegenheit, Chinesisch-Lernenden einen aktuellen Stoff erfahrbar zu machen, zumal sich der Text im Chinesischen recht flüssig liest. Erzählt wird in vielen Rückblenden die jüngste Geschichte der Region. Banu zerreißt es fast zwischen ihrem Glauben an den modernen Vielvölkerstaat China, „wie ihn die Kommunistische Partei Chinas propagiert und den im Zeichen antiterroristischer Maßnahmen stehenden ethnischen und „pädagogischen“ Säuberungsmaßnahmen der jüngsten Zeit“, schreibt der Übersetzer Andreas Guder im Nachwort. Die Absurditäten der Bürokratie, die womöglich zu dem ambivalenten Verhalten der Protagonistin führen, mögen in solch einer Umgebung verständlich sein, nur erschweren sie die Nachvollziehbarkeit der stellenweise sprunghaften Handlung – auch bleibt die Figur seltsam widersprüchlich, zumal im knappen ersten Viertel ihre sexuellen Ausschweifungen, Sehnsüchte und Wünsche einen breiten Raum einnehmen. Mal ist Banu impulsiv, dann wieder berechnend, selbstverliebt und eitel – diese Ambiguität ist für die Leserin, den Leser nicht wirklich verständlich. Bestenfalls kann darin eine Charakterstärke gesehen werden, sich durch keinerlei Schikanen beirren zu lassen.

Worauf also will die Autorin, die mittlerweile in Berlin lebt, hinaus? Andreas Guder deutet den Roman als eine Erinnerung „an unzählige namenlos gebliebene Menschen, die in den letzten Jahrzehnten gezwungen wurden, ihre Kultur, ihre Traditionen und Überzeugungen aufzugeben – und die die Welt nicht vergessen sollte.“

Gülnisa Erdal  古 莉 尼 萨·厄 达 尔: Banus Erlösung  巴 奴 的 救 赎. Aus dem Chinesischen übersetzt von Andreas Guder, Ostasien Verlag 2022, 353 Seiten.

Weitere Artikel über Xinjiang: Die Wüstengängerin.

Taiwan. Insel der Vielfalt.

Geister und Kirchen …

… wie passt das zusammen? Eine Lektürenotiz

Bücher über Taiwan sind noch immer rar, selten nur anzutreffen in Buchhandlungen, noch seltener besprochen in Feuilletons. Dabei gäbe es noch viele Lücken zu schließen. Warum zum Beispiel sind weite Teile der indigenen Bevölkerung Taiwans zum Christentum konvertiert, warum findet man gerade in Wäldern und Bergen, in abgelegenen Dörfern kleine Kirchen und große Jesusstatuen? Und warum waren es ausgerechnet presbyterianische Missionare, die den Einheimischen Praktiken des zivilen Ungehorsams vermittelten und sie darin bestärkten, für ihre Rechte zu kämpfen?

Die Korrespondentin Carina Rother beantwortet mit ihrem Buch Taiwan. Insel der Vielfalt diese Fragen. Im zweiten Teil „Götter, Geister, Gegenwelten“ erklärt sie leichthändig, warum es in Taipei nicht nur an Feiertagen allerorten qualmt, Erd- und anderen Göttern auf kleinen Klapptischen Opfer dargeboten werden und selbst der Supermarkt 7-Eleven seine Verkäuferin ein halbstündiges Opferritual durchführen zu lassen – während ihrer Arbeitszeit wohlgemerkt. Und im dritten Teil beleuchtet die Autorin das Verhältnis eben der Indigenen zur christlichen Kirche.

Nachvollziehbar beschreibt Carina Rother den Polytheismus der Inselbewohner. Das Nebeneinander, das streng Gläubigen wie ein Durcheinander erscheinen mag, ist aber das Kennzeichen schlechthin für den Umgang mit Dogmen, für den Pragmatismus nicht nur in Glaubensangelegenheiten der Inselbewohner.

Ein Buch also, das gut als Zweitlektüre taugt für jene, die nach einem ersten Blick auf Geschichte und Land der Insel ihre Kenntnisse vertiefen möchten.

Carina Rother: Taiwan. Insel der Vielfalt. Missionshilfe Verlag, 182 Seiten

Weitere Artikel rund um Taiwan zum Nachlesen auf literaturfelder.com/blog.

Echos der Stille

Im Dschungel der malaysischen Geschichte

Zwei neue Romane zeigen eindrücklich: Wer die moderne Geschichte Malaysias verstehen will, muss im Wald damit anfangen.

«Echos der Stille» der malaysischen Autorin Chuah Guat Eng und «Wir, die Überlebenden» des Autors Tash Aw zeigen, dass der Regenwald, der an vielen Stellen gerodet wurde, um Kautschukplantagen zu weichen, Schauplatz der kolonialen Geschichte von Gewalt, Ausbeutung und Ungleichheit ist. Der Wald ist in Malaysia die Quelle des Reichtums der wenigen, unter Ausbeutung der vielen. Er ist aber seit jeher auch der Rückzugsort für Guerillas. Und er ist nicht zuletzt die wichtigste Zuflucht der Geflüchteten und Marginalisierten im Inneren wie aus den Nachbar­ländern – die Rohingya sind nur das bekannteste aktuelle Beispiel.

Kurz: In der Ambivalenz des Waldes spiegelt sich die wechselvolle Geschichte des Landes.

Der ganze Text rund um die beiden Bücher und Malaysias Dschungel ist auf Republik nachzulesen.

Tash Aw: Wir, die Überlebenden. Roman. Aus dem Englischen von Pociao und Roberto de Hollanda. Luchterhand, München 2022. 416 Seiten, ca. 33 Franken.

Chuah Guat Eng: Echos der Stille. Roman. Aus dem Englischen von Michael Kleeberg. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2022. 464 Seiten, ca. 41 Franken.

Das Glück verkehrt herum

Wenn Gleichklänge irritieren

In der chinesischen Sprache klingen viele Silben gleich oder ähnlich. Dass dies zu irritierenden, aber auch amüsanten Verwechslungen führen kann, beschreibt Deike Lautenschläger in ihrem Buch Das Glück verkehrt herum. Ich habe nachgefragt:

Homophone sind der Alptraum nicht nur von Sinologie-Studenten: Silben werden gleich ausgesprochen, haben aber eine vollkommen andere Bedeutung. Sie, Deike Lautenschläger, haben nun ausgerechnet Homophone gesammelt. Wie kamen Sie auf die Idee?

Wenn man in Taiwan lebt, stößt man früher oder später auf Homophone – also auf Wörter, die gleich oder ähnlich klingen und denen deshalb je nachdem eine glück- oder unglückbringende Verheißung nachgesagt wird, denn sie sind im Alltag und besonders an Feiertagen präsent. Angefangen hat alles mit der Kakifrucht, die mir vor vielen Jahren eine Freundin in Taiwan zum chinesischen Neujahrsfest Ende Januar/ Anfang Februar überreichte, um mir mit dem Homophon der Kakifrucht 柿子 shìzi und dem chinesischen Wort für „alles“ 事事 shìshì den typischen chinesischen Neujahrswunsch „alles wie gewünscht“ 事事如意 shìshì rúyì ohne Worte zu überbringen. Das hat mich fasziniert – kein Glückwunsch in Form einer Karte mit Worten, sondern in Form einer Frucht durch den gleichen Klang! Natürlich war ich durch einen Chinesischkurs schon auf die schlechte Bedeutung der Zahl Vier aufmerksam geworden und erlebte im Alltag auch die ganz praktischen Konsequenzen wie z.B., dass es manchmal keinen 4. Stock gibt. Über die Jahre habe ich Homophone aus Spaß und Interesse gesammelt. Einige Homophone hatte ich schon in meinem Buch Fettnäpfchenführer Taiwan erwähnt. Inspiriert hat mich letztendlich dann die Art und Form des Buches Atlas der abgelegenen Inseln von Judith Schalansky, in dem 50 abgelegene Inseln recherchiert und in kleinen Geschichten wunderschön poetisch beschrieben sind.

Wie sind Sie sie bei der konkreten Zusammenstellung für dieses Buch vorgegangen? Gab es Zuträger:innen, kam Ihnen der Zufall zu Hilfe, gab es ursprünglich noch mehr Kategorien, wie haben Sie die Homophone ausgewählt?

Viele Homophone sind mir im Alltag und an Feiertagen aufgefallen, oder ich wurde durch taiwanische Freunde und Bekannte darauf aufmerksam gemacht. Als der Entschluss gefallen war, ein Buch darüber zu schreiben, fragte ich natürlich direkt nach und stieß so auch auf weitere Homophone. Zwei oder drei wurden im Chinesischkurs thematisiert. Weiterhin habe ich in taiwanischen Medien danach gesucht, also online in Zeitungen und Magazinen, denn auch wenn viele Homophone sehr alt sind, so werden sie doch noch in heutigen Kontexten angewendet. Zu aktuellen Geschehnissen posteten taiwanische Netizens auf Facebook und Instagram Wortspiele, in denen auch oft Homophone zu finden waren. Geplant waren eigentlich 50 Texte, aber bald hatte ich eine größere Menge zusammengetragen, aus denen ich dann die interessantesten und relevantesten 60 ausgewählt habe. Als das Buch bereits im Lektorat war und auch später während des Drucks und sogar bis heute entdecke ich homophone Wortspiele, die von politischen oder gesellschaftlichen Begebenheit inspiriert sind, die ich zwar für mich aufschreibe, aber für die es leider zu spät ist.

Ja, besonders die politischen Homophone haben mich beeindruckt, da ist die Rede von Grasschlampferden, Flusskrabben – mit denen der Künstler Ai Weiwei in seinem Kunstwerk Hexie bereits gespielt hat. Zurzeit skandieren jugendliche Demonstranten in China „Bananenschalen“, weil diese Silben mit demselben Buchstaben beginnen wie die Initialen von Xi Jingping In anderen Kapiteln wiederum menschelt es, dann wieder geht es um Feste und z.B. das Wetter – kurz, die Bandbreite der Homophon-Sammlung ist enorm. Ihre Sammlung macht Lust, hinter die schier unüberwindbare Mauer aus schwer zu erlernenden Schriftzeichen zu blicken. Dabei kombinieren Sie sprachlich fein ziselierte Alttagsbeobachtungen mit etymologischen Ausführungen, besonders überzeugend z.B. bei Wolken und Glück; amüsant auch, wie Sie die bestimmte Redewendungen aufschlüsseln, 三 Q / sān q wird zu thank you, 八八一 / bā bā yī zu bye bye. Darüber sprechen Sie ausführlich auf Radio Taiwan. Warum aber steht im Untertitel des Buches „Homophone in Taiwan“, es bezieht sich ja auf die Sprache, nicht ein Land? Oder gelten die gesammelten Homophone und deren Bedeutung nur in Taiwan? Schließlich erwähnen Sie auch Homophone in China und HK.

Sprache ist stets eng verbunden mit Identität, Kultur und Politik. Fast alle der Homophone im Buch sind mir in Taiwan zu Ohren gekommen – eingebettet im Kontext des taiwanischen Alltags, in denen die Wörter ihre Bedeutung in Feinheiten und Komplexitäten finden. Viele der Homophone gibt es sicher auch in China und anderen chinesischsprachigen Ländern und Gebieten, doch wie sie da gebraucht werden, vermag ich in diesem Buch nicht zu sagen – das wäre dann ein jeweils anderes Buch. Und es wäre auch ein Buch, das ich nicht schreiben kann als eine Autorin, die seit mehr als 17 Jahren nur in Taiwan gelebt hat. Schreiben ist ein subjektiver Prozess, bei dem man bewusst und unbewusst seine Erfahrungen und Erlebnisse mit einfließen lässt.
Auch die wenigen homophonen Ausflüge nach China und Hongkong sind nur von Taiwan aus möglich. Zum Beispiel basiert der Text über Hongkong auf Erzählungen von Augenzeugen, die mir in einem Café in Taipei von den Protesten 2019/2020 in Hongkong berichteten. So ein freier Austausch von Meinungen und Erlebnissen wäre höchstwahrscheinlich in einem Café in Peking nicht möglich gewesen.

Deike Lautenschläger: Das Glück verkehrt herum. Fotografie und Illustration Liesbeth Cole. Iudicium-Verlag 2022, 278 Seiten

Weitere Artikel über Taiwan sind hier auf dieser Seite nachzulesen.

Wu Ming-Yi

Die Sprache der Vögel lernen

climate fiction aus Taiwan

Jedes kleine Stück Plastik, das in den letzten 50 Jahren hergestellt wurde und in den Ozean gelangte, ist immer noch irgendwo dort draußen. Was aber, wenn eine dieser Plastikmüllinseln im Pazifk auf eine reale Insel prallt, auf Taiwan zum Beispiel? Dieser Gedanke ist Ausgangspunkt des Romans Der Mann mit den Facettenaugen des taiwanischen Autors Wu Ming-Yi. Darin rettet die lebensmüde Akademikerin Alice den Indigenen Atile’i, der auf eben solch einer Müllinsel gelandet ist.

Wandelnde Bäume, Rehe, die sich in Ziegen verwandeln – Menschliches, Natürliches wird dabei mit Magischem verknüpft; es geht um indigene Mythen und Überleben in einer Moderne, die kaum noch Überleben zulässt. Und zwischen den Zeilen schwingt die Frage mit: „Was können, was sollen wir tun?“

„Zusehen, ohne einzugreifen. Allein dazu bin ich da“, antwortet darauf der Mann mit den Facettenaugen.

Die ganze Rezension ist nachzulesen in der WOZ vom 24.11.2022.

Wu Ming-Yi: Der Mann mit den Facettenaugen. Aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling. Matthes & Seitz, 2022, 318 Seiten.

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Ai Qing Schnee fällt auf Chinas Erde

Kälte riegelt China ab

Ausgewählte Gedichte des chinesischen Lyrikers Ai Qing

Ai Qings Gedichte zählen zum Kanon chinesischer Lyrik und erzählen von der existenziellen Bedrohung des Individuums, zerrieben zwischen Nationalisten und Kommunisten, dem Imperialismus der japanischen Invasoren und dem Kampf zwischen den Machthabern. Seine Gedichte sind in einer klaren, schnörkellosen Sprache gehalten, die Ummittelbarkeit von Landschaft und Menschen ist frappierend. In seinen Bildern spürt man eine tiefe Verbundenheit mit dem Schicksal der Menschen gerade im kargen Norden Chinas.

Meine Rezension zu diesen Gedichten, die klarsichtig die Tragik von Armut und Abhängigkeit entblößen, ist in der Literaturzeitschrift Orte (Oktober 2022) erschienen; der Gedichtband Schnee fällt auf Chinas Erde wurde von Penguin Randomhouse in der Übersetzung von Susanne Hornfeck 2021 veröffentlicht.

Taiwan und Turbulenzen

China, Erdbeben, Taifune: Wie lebt man auf einer bedrohten Insel? Ein Gespräch mit Andrea Hauer vom Ö1 und Freda Fiala.

Die ständige Bedrohung von Festland-China, Erdbeben, Taifune, geologisch aktive Vulkane: wie leben die Einheimischen damit, außer mit einem vielfältigen Frühwarnsystem? Ist die Gefahr, die von Peking ausgeht, für die 23 Millionen Einwohner:innen tatsächlich größer geworden oder wird im Westen neuerdings mehr darüber berichtet? Welche Rolle spielt Taiwan für die Welt und für China und welche Rolle möchte es selbst gern spielen? Fragen, denen ich in meinem Buch Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land unter anderem nachgegangen bin.

Nachzuhören ist die Radiosendung auf Ö1.

Wahrsager und Technofrauen

Taiwanische Autorinnen erzählen. Eine Lektürenotiz.

Der Titel klingt vielversprechend, das Tempo und die Themen sind eher moderat. Beeindruckend fand ich die Erzählung „Bukolika“ von Ko Yu-Fen (schon mit „An den Ufern des Tamsui“ im Erzählband Kriegsrecht vertreten), die von prekären Verhältnissen berichtet, von Fabrikarbeiterinnen und ratlosen Müttern, von schmierigen Übergriffen und sinnlosen Toden – und welche Opfer die rücksichtlose Industrialisierung von Mensch und Natur fordert.

Um Rücksichtslosigkeit geht es auch in „Berggeister“ von Chiou Charng-Tin, die in ihre Geschichten – laut biografischer Notiz – Umweltthemen und -zerstörung einfließen lässt. Die Protagonistin, die sich von Nebelgeistern verfolgt fühlt, trifft in den Bergen auf „Baumratten“ (vgl. dazu auch der Text „Alishan“ in Wolken über Taiwan) , Holzdiebe. „Eigentlich sind diese Bergratten Junkies aus den Städten […]. Die alten Bäume in den Bergen sind für diese Kerle wie Geldautomaten.“ Ihr Fazit: Die Gier beschert den Menschen bloß Alpträume, und die Berggeister entkommen ihr nur, weil sie sich an immer entlegenere Orte zurückziehen. Was, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt?

Manche Rezensenten sprechen von einer gewissen „Düsternis und Dunkelheit“ in den Texten – düster kann einem werden, wenn man einen Blick in die Zukunft wirft. Das Leben der „Technofrau“ ist kein beneidenswertes, zumal nicht klar ist, wer denn nun ein echter Mensch ist und wer nicht; in „Transkommunikation“ sendet der verstorbene Vater Nachrichten von einem Account, der von einer NGO nach dessen Tod weiter betrieben wird.

Man mag sich fragen, wie repräsentativ diese Geschichten für die gegenwärtige Literatur Taiwans sind, wie die Auswahl zustande gekommen ist. Im Vorwort gibt die Herausgeberin Hsu An-Nie Auskunft: In zwei Diskussionsrunden wurden 12 Erzählungen von taiwanischen Literaturexpert:innen empfohlen, in einer dritten Runde wählten deutsche Expert:innen acht davon aus. So kommt es vielleicht, dass die Erzählungen auf unterschiedliche Weise mal mehr, mal weniger literarisch ausgereift sind – ein kritischer Blick auf die taiwanische Gesellschaft ist jedenfalls allen Geschichten eigen.

Hsu An-Nie (Hrsg.): Von Wahrsagern und Technofrauen. Erzählungen zeitgenössischer Autorinnen aus Taiwan. Übersetzt aus dem Chinesischen von Marc Hermann, Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffman. 2021; 286 Seiten

Friede Bunker

Ungehorsam für den Frieden

Ende der 1970er Jahre spitzte sich der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA erneut zu. 1983 ließ die NATO Nuklearraketen in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen westeuropäischen Ländern stationieren. Vor allem die schwäbische Gemeinde Mutlangen rückte damals als Standort von Pershing-II-Raketen in den Fokus der Friedensbewegung und der Öffentlichkeit. Weil ich darüber ein Buch geschrieben habe, stellte ich Richard Rohrmoser fünf Fragen zu seiner Dissertation zu diesem Thema. Darin beschreibt er die Entwicklung Mutlangens zu einem Symbolort der Friedensbewegung.

Wie kamst Du ausgerechnet auf die längst vergessene „Friedensbewegung in Mutlangen“?

Ich habe mich schon während des Studiums recht intensiv mit dem NATO-Doppelbeschluss und der bundesdeutschen Friedensbewegung beschäftigt, zumal mein Doktorvater viel dazu publiziert hat. Auf der Suche nach einem eigenen Promotionsthema bin ich in einem Buch auf einen Flyer mit dem Slogan „Unser Mut wird langen!“ gestoßen. Dies hat mein Interesse geweckt und nachdem die ersten Zeitzeug:innen spannende Einblicke in das noch stark untererforschte Thema lieferten, war mir klar, dass ich darüber meine Doktorarbeit schreiben werde.

Was hat Dich bei Deinen Recherchen am meisten überrascht?

Zum einen, dass sich zuvor tatsächlich noch niemand im größeren Ausmaß wissenschaftlich mit diesem Themenkomplex beschäftigt hat; zum anderen die große Bereitschaft sämtlicher Zeitzeug:innen, über das Geschehene zu berichten und die Ereignisse aufzuarbeiten. Dementsprechend ergiebig und hilfreich waren auch die Gespräche mit den Zeitzeug:innen.

Gab es einen Widespruch zwischen Deinen Forschungsergebnissen und dem, was Du vor Ort durch Gespräche herausgefunden hast?

Einen eklatanten Widerspruch konnte ich eigentlich nicht feststellen, aber die Gespräche vor Ort haben insbesondere die „Geschichte der Emotionen“, also die Furcht vor einem nuklearen Schlagabtausch oder einer nuklearen Katastrophe, sehr viel anschaulicher und konkreter gemacht. Davon hat meine Dissertation, denke ich, enorm profitiert.

Auf mich wirkte damals die Ablehnung der örtlichen Bevölkerung gegenüber den „fremden“ Friedensaktivisten recht hermetisch. Wie ist Dein Eindruck?

In Bezug auf den Protest in den 1980er Jahren kann ich dies absolut bestätigen. Interessanterweise habe ich in meinen Gesprächen aber doch sehr den Eindruck gewonnen, dass die lokale Bevölkerung inzwischen fast schon einstimmig stolz auf die Protestgeschichte der Gemeinde ist und die Ereignisse von damals – insbesondere die Reaktionen vieler Einwohner:innen auf die angereisten und zugezogenen Friedensaktivist:innen – etwas verklärt.

Wie könnten Erkenntnisse aus der Friedensbewegung in Mutlangen für die Gegenwart wieder fruchtbar gemacht werden?

Richard Rohrmoser

Ich denke eine zentrale Erkenntnis aus der Protestgeschichte der 1980er Jahre ist, dass es stets das zivilgesellschaftliche Engagement ist, das entscheidende Impulse auf Richtung, Tempo und Intensität des sozialen Wandels ausübt. Die Aktionen engagierter Bürger:innen haben Reaktionen des Staates zur Folge. In diesem Sinne ist explizit zu betonen, dass die Sitzblockaden von Mutlangen in der Öffentlichkeit deutlich wahrgenommen wurden: Nicht nur im Ostalbkreis, sondern in Baden-Württemberg, in der ganzen Bundesrepublik und sogar darüber hinaus!

Richard Rohrmoser: Sicherheitspolitik von unten. Ziviler Ungehorsam gegen Nuklearrüstung in Mutlangen, 1983–1987. Campus-Verlag, 2021, 460 Seiten.