Lichtblau

Blau, lichtblau, nachtblau vielleicht

Gibt es im deutschsprachigen Raum einen Roman über die Gezi-Proteste in Istanbul, einen, der so hineinkriecht in die gesellschaftlichen Verästelungen der Nach-Gezi-Zeit? Wer, wenn nicht die Türkisch-Übersetzerin Sabine Adatepe könnte darüber so anschaulich schreiben? Zwar war sie nicht selbst dabei, gab aber eine Gezi-Anthologie heraus. Wie es nun zum Roman Lichtblau #Mavi kam, erzählt sie in diesem Interview.

Wie hast Du Deine Figuren gefunden, die unterschiedlicher nicht sein könnten? Da ist zum Beispiel Marie, die sich vor dem Nachtmahr fürchtet, die an Mollträumen leidet, von denen sie sich aber nicht unterkriegen lassen will angesichts der Katastrophen auf diesem Planeten. Oder Lea, eine junge Studentin, die sich zunächst einfach nur treiben lässt und Straßenpoesie sammelt („Das Glück ist ein Streichholz, solange es eben brennt.“) und sich immer weiter, immer tiefer auf die Protestbewegung einlässt. Und die Dritte, Imke, eine lebensfremde, vom Leben verstörte Seniorin, der das Leben abhanden gekommen ist, weil sie sich immer davor fürchtet, etwas zu versäumen, was sie ihr ganzes Leben lang versäumt hat; die wegen ihrer Kinder den Beruf und damit auch gleich das eigene Leben an den Nagel gehängt hat. Wie nur bist Du auf ihre Geschichten gekommen?

Mich trieben schon länger einige Themen um: Stadtkultur und -entwicklung, Gentrifizierung und StreetArt, Tourismus-Kritik, bikulturelle Beziehungen, Kriegskinder und transgenerationale Weitergabe von Traumata, Kontaktabbruch in Familien, dazu kamen 2013 die Gezi-Proteste und mit ihnen das Phänomen Straßenpoesie. Bei einem Gang durch die Hamburger Hafencity im Herbst 2013 blitzte die Idee auf, diese Themen anhand von drei Frauen aus drei Generationen zwischen Hamburg und Istanbul zu erzählen. Die drei Protagonistinnen waren sofort da, übernahmen ihre jeweiligen Themen und brachten quasi ihre Geschichten mit. Einige Fragmente davon sind lebenden Vorbildern entlehnt, natürlich habe ich auch manch eigene Erfahrungen verarbeitet, sodass ich in allen Dreien ein wenig drinstecke, ohne die eine oder andere explizit zu „sein“.

Dein Roman schlägt ein hohes Tempo an, die Geschichte drängt, als müsse sie raus, so dicht geschrieben, so scharf geschnitten, als wärst Du bei den Protesten mit dabei gewesen, er ist so voller Details, dass man meinen könnte, Du hättest mitgemacht.

Ich war nicht selbst im Park dabei, habe die Proteste aber atemlos aus der Ferne verfolgt und unterstützt, mit Posts und Übersetzungen, dann mit der Herausgabe des Bandes Gezi: Eine literarische Anthologie, zu dem neunzehn Autor:innen, die alle unmittelbar involviert waren, beigetragen haben. Besonders wichtig für die möglichst authentische Rekonstruktion des Geschehens im Park und die Atmosphäre ringsum waren für mich zum einen Fotos der Fotografin Selen Özer-Günday, die sie uns für die Anthologie zur Verfügung gestellt hatte, und zum anderen der Dokumentarfilm „Gözdağı“ (Die Blendung, 2014, von Can Dündar), für den ich die deutschen Untertitel erstellt hatte. Mit dem Schreiben konnte ich auch mein Bedauern darüber kompensieren, nicht unmittelbar dabei gewesen zu sein.

Wie bist Du beim Schreiben vorgegangen? Hast Du zuerst die eine Figur geschrieben, dann die zweite, dann zusammengeschnitten?

Nein, die drei Figuren liefen parallel zueinander, ihre Kapitel im jeweiligen Wechsel entstanden fast genau in der Reihenfolge, wie sie im Roman stehen. Fast, sage ich, denn auf Anregung des Verlags teilte ich zugunsten von Spannungsbögen und Cliffhangern am Ende doch noch das ein oder andere Kapitel und stellte ein wenig um.

Du schreibst und übersetzt ja auch selber, auf S. 209 habe ich sogar eine Anspielung auf den populären jungen wilden Autor Hakan Günday gefunden, einen Autor, dessen Werke Du übersetzt hast. Kannst Du etwas zu diesen beiden „Schreibvorgängen“ sagen, welche Unterschiede gibt es, Gemeinsamkeiten, Inspirationen?


© M.K.Adatepe

Beim Schreiben empfinde ich Selbstwirksamkeit viel eher als beim Übersetzen. Den Schreibprozess erlebe ich als weit kreativer und freier, als inspirierender, tiefgehender, ja, befriedigender. Übersetzen ist ein wenig wie Puzzeln, was ich als Kind sehr geliebt habe. Das richtige Teil für die richtige Stelle finden oder eben das richtige Wort in meiner Sprache für den bereits vorhandenen Text, also für die Gedanken einer oder eines anderen. Das macht mir auch heute noch Spaß, zudem baue ich gern kulturelle Brücken. Aber wenn ich Texte übersetze, hinter denen ich nicht wirklich stehen kann, ob inhaltlich oder sprachlich, was nicht eben selten vorkommt, überfällt mich mitunter ein Gefühl von Ennui, wie es vielleicht in jedem Brotberuf der Fall ist.
Da ich mich emotional und mental stark auf meine jeweilige Aufgabe einlasse, sozusagen im Text lebe, ob beim Übersetzen oder beim Schreiben, gelingt es mir nicht, beides parallel zu betreiben. Ich brauche Abstand vom Übersetzen, um schreiben zu können. Eigentlich hatte ich das Übersetzen immer als Station auf dem Weg zum Schreiben gedacht. Es hindert mich aber eher am Schreiben als mich dorthin zu führen. Dennoch würde ich das literarische Übersetzen aus dem Türkischen als Traumberuf für mich bezeichnen – solange ich vom Schreiben nicht leben kann.

Woher kam die Idee zu den hashtag-Untertiteln der Kapitel, die Du immer sehr gut getroffen  hast?

Die hashtag-Untertitel sind eine Reminiszenz an #şiirsokakta, Poesie auf der Straße. Unter diesem Hashtag wurden während und nach den Gezi-Protesten zahllose Gedichtzeilen und Sinnsprüche auf Mauern gesprayt und im Internet geteilt, wie es im Roman ja auch beschrieben wird. Heute sind Hashtags ein alter Hut, aber 2013, als ich zu schreiben anfing, wurden sie vor allem auf Twitter gerade erst populär. Darüber hinaus sind die Hashtag-Titel ein Augenzwinkern hin zu Marie, der mittleren der drei Romanfiguren: Die sozialen Medien sind zu Beginn des Romans Neuland für sie, mit dem praktischen Hashtag zur Schlagwortsuche aber freundet sie sich rasch an.

Am Ende führst Du die Splitter oder Lebensscherben der Protagonistinnen und der Bewegung zusammen in der japanischen Kunst des Kintsugi, in der man etwas so repariert, dass die Spuren zu sehen sind – ein grandioser Schachzug.

Im Roman bleibt die Studentin Lea nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste etwas planlos in Istanbul, macht sich auf die Suche nach ihrem Vater und lebt – Achtung Spoiler :) -, als sie ihn findet, eine Zeitlang bei ihm im kurdischen Diyarbakır. Dort lernt sie eine ältere Silberschmiedin kennen, die Lea später, als sie nicht über den erneuten Kontaktabbruch des Vaters hinwegkommt, unvermutet auffängt. Auf ihren Spuren will Lea dann selbst in Richtung Silber- oder Goldschmiedekunst gehen. Doch auf dem Weg dorthin stieß ich in einem Berliner Teegeschäft zufällig – falls es Zufälle überhaupt gibt – auf wunderschöne Schalen mit goldenen Adern, die ich für Verzierungen hielt. Das sei Kintsugi, erklärte mir die Verkäuferin, eine japanische Reparaturkunst. Ich recherchierte und erfuhr, dass Kintsugi als Goldverbindung einen Makel nicht kaschiert, sondern hervorhebt und veredelt. Da war sofort klar: Kintsugi ist das einzig Richtige für Lea mit ihrem gebrochenen Herzen. Und sie ist ja nicht die einzige im Roman, die einiges in ihrem Leben zu „kitten“ hat. Es ist nicht meine Art, etwas zu übertünchen oder zu kaschieren, also sollten auch meine Figuren ihre „Bruchstellen“ annehmen und als Bereicherung verstehen. Dafür ist Kintsugi geradezu ideal.

Sabine Adatepe: Lichtblau #mavi, Frankfurt am Main: Größenwahn Verlag 2022, 272 Seiten

Mehr über türkische Kultur und Literatur lässt sich auf meinen Blog nachlesen.


Ling Yu Workshop

At Home in Translation

— To Silvia and all the others

Sing — Muse, sing of the time
a nest of dashing translators have their dreams
dashed by the deuced dashes.
Oh, dash it!

1

Stately, slim Silvia M. comes from the stairhead,
followed by Brother T who plunges like lead
into the esoteric. Quite the wordsmith, Asst. Prof. W,
whose occasional smile can very well melt you.
First-year PhD student, the camera-wielding Y,
threatens to capture everyone at their most wry.
Kind-hearted Alice, ever true to her art,
cooks the best soup to soothe throat and heart.
C, R, and S: we have Italians to spare,
but with Dr L’s jabbering they cannot compare.
Hidden in a nook is ein guter Mensch D,
a humble student he is and shall always be.

2

Airing the sutras on a fine day,
and feeding the white horse
(not a horse, whispers Gongsun Long).
Are these what we do along the way,
or items on a ne’er-to-do to-do list?
Syntax (and common sense, dare I say)
suggest the first, while three days of philosophising
begs to give the nay.
Anxious queries gather dust
in the poet’s inbox, far far away.

3

Three shades of Chinese, harsh German,
a terzetto of post-Dantean Italian,
timid Dutch, and a cacophony
of poststructuralist English
escape through the gnashing teeth
of the window and fly
(or soar or even indeed glide)
alongside the crow-pecked milan,
before plunging into a gorgeous twilight
(mind you, not a dusk or just sunset).

4

‘The Chinese seem to know not
how to end a poem,’ they bay.
I’ve half a mind to throw in a few
more dashes, and call it a day.
But being of a generous nature,
I have only this to say:
May we gather again, my friends,
before I grow quite grey.

Dylan K. Wang
29 March 2024
At the Translation House Looren

meerblaues cover Ich möchte im Meer aufwachen

Ich möchte im Meer aufwachen – Gedichte von Tsai Wan-Shuen

Ein Lyrik-Band von Tsai Wan-Shuen, übersetzt aus dem Chinesischen von Alice Grünfelder, erschienen im Drachenhaus Verlag.

Eines Morgens sagte Tsai Wan-Shuens Tochter Ameng beim Blick aufs Meer: «Ich möchte im Meer aufwachen.» So entstand diese Sammlung mit 22 Gedichten – als Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Manche Aussage der Tochter hat Tsai Wan-Shuen ergänzt und in ihrer Muttersprache Taiyu, also Taiwanisch, niedergeschrieben. Erst bei der Drucklegung übertrug sie die Gedichte selbst ins Standardchinesisch, aus der wiederum die Gedichte übersetzt wurden.

Die Sammlung ist in drei Teile gegliedert. Das erste Kapitel trägt die Überschrift „Ameng spielt mit dem Meer“. Da war die Tochter zwei Jahre alt, und die Familie lebte auf der Insel Penghu, wo Tsai Wan-Shuen geboren und aufgewachsen ist. Als Ameng fünf wurde, entstand der Zyklus „Zeit in den Bergen“, und die Familie zog nach Xindian, ein Vorort südlich von Taipei gelegen. Der letzte Zyklus „Mondschilf“ ist als ein Nachsinnen der Lyrikerin selbst zu verstehen. Hat sie zuvor versucht, den Kinderblick relativ direkt einzufangen, spricht sie nun aus ihrer Perspektive über die Zusammenhänge Natur, Kind und Leben.

Mondschilf
Scheint der Mond, ist er mehlweiß.
Scheint der Mond, ist er gelb.
Das Herz des Mondes aber
ist schilfgrün und hell.
Die flirrenden Gräser
blenden die Frau im Mond
und sie wispern
ohne Wurzel, ohne Schatten,
tanzen eine Nacht lang.
An allen Küsten dieser Welt
tun sie es ihnen gleich
tage- und nächtelang
schaukeln und leuchten.

Tsai Wan-Shuen: Ich will im Meer aufwachen
Gedichte, zweisprachig – Chinesisch, Deutsch
Aus dem taiwanischen Chinesischen von Alice Grünfelder

70 Seiten, Broschur
ISBN 978-3-943314-82-3
erscheint Ende Mai im Drachenhaus Verlag
www.drachenhaus-verlag.com

meerblaues cover Ich möchte im Meer aufwachen
weisses buchcover mit gekritzel

Küsten – von Tsai Wan-Shuen

Lyrik – übersetzt aus dem Chinesischen von Alice Grünfelder, erschienen im hochroth Verlag 2024.

Wenn der letzte Paradiesfisch mit dem Bauch nach oben liegt und Vater den schummrigen Mittagsschlaf hält, schlagen Leuchtkäfer Passwörter mit ihren Flügeln. Warum aber haben die weißen Delphine der Insel den Rücken gekehrt?

Die taiwanesische Künstlerin und Lyrikerin Tsai Wan-shuen konzentriert sich in ihrem Werk – mixed-media Installationen, Videos, Gedichte, Workshops an Schulen – auf die Auseinandersetzung mit dem Meer, der Inselwelt, den Verlust einer intakten Natur. Lakonisch, mit etwas Wehmut und Bitterkeit geht sie an Küsten entlang, immer das Meer im Blick, den ein wenig verlorenen Menschen, und bietet mit ihren Gedichten seltene Einblicke in die sogenannte Meeresliteratur als wichtiges Merkmal der zeitgenössischen taiwanischen Literatur.

Fischer
Generationen von Seefahrern sind an Land gegangen
ihre Netze taugen nicht mehr, Fische zu fangen
nun wühlen sie stattdessen im Müll
einst war es eine Beziehung
ein beseelter Tausch

Tsai Wan-Shuen, Küsten

Aus dem Nachwort:

Mitten im Meer geboren, sammelt Tsai Wan-Shuen Zeichen im Taumel unserer Zeit, Töne und Schwingungen, die wir nicht mehr sehen, nicht mehr hören – die Dichterin hat ein eigenes lyrisches Sensorium entwickelt und ist Archivarin der Zeichen aus dem Meer. Das kleinste Detail, das Elementarteilchen aller Lebewesen, ist ihr eine Quelle der Poesie. Ihr Schreiben ist tastend, intuitiv, ihr Ton sinnend, sinnlich; sie sucht, was einmal war, was sein könnte, warum etwas so ist, wie es geworden ist. Sie klagt nicht an, auch wenn an den Küsten, den scharfkantigen Trennlinien zwischen Wasser und Land, Leben zerschellt. So könnte das Gedicht über die Weißen Delphine als Elegie gelesen werden. Es ist wohl das einzige in ihrem Oeuvre, das als konkrete Bezugnahme und Kritik an den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen ist: während Umweltschützer gegen den Bau eines weiteren Chemiewerks an der Westküste Taiwans protestierten, wo das Habitat der Delphine ohnehin schon empfindlich gestört ist, antwortete der damalige Vizepremier lakonisch: „Die Weißen Delphine sind schlau, wenn die Umgebung ihnen nicht mehr gefällt, weichen sie einfach aus.“ Der Schönheit der (Meeres-)Welt wird die neue Totalität gegenübergestellt.

Die Inselwelt mit ihrer Ambivalenz ist zentral im Werk von Tsai Wan-Shuen, sei es in ihren Kunstinstallationen oder Video- und Tonaufnahmen. Sie selbst ist auf Penghu aufgewachsen, einer Insel mitten im Meer zwischen China und Taiwan. Fern von Inselromantik sind ihre nachdenklich gestimmten Betrachtungen zur Natur – die Menschenwelt wirkt wie ein ferner Echoraum. Fische aller Arten springen, schwimmen in diesen Versen, werden geräuchert, gegessen, liegen im Abfluss. Derweil laden die Menschen den „Schaum der Welt“ hoch, drehen sich immer schneller um sich selbst, werden darüber hart – fast dystopisch glimmt kühl und kalt in der Ferne nur noch ein kleines Feuer („Familie im Frost“).

Die Autorin Tsai Wan-Shuen

Tsai Wan-Shuen wurde 1978 auf Penghu geboren, einer Insel westlich von Taiwan. Sie lebte einige Jahre in Frankreich, wo sie Bildende Kunst studierte. Seit 2004 erarbeitet sie zusammen mit ihrem Mann, dem Sound-Artist Yannick Dauby, Video-Sound-Installationen. Mit ihren Arbeiten zur Insel Penghu und den indigenen Volksgruppen Hakkas und Atayal wurden sie 2016 zur Sydney Biennale eingeladen. Ihr künstlerisches Werk – seien es Installationen und Videos oder Lyrik – ist geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Meer, der Welt der Inseln, der Natur allgemein. Bisher sind zwei Lyrikbände erschienen:
潮 汐“(Flut, 2006) und „ 感官編織” (Verwobene Gefühle, 2021).

Tsai Wan-Shuen: Küsten.
Gedichte, zweisprachig – Chinesisch, Deutsch
Aus dem Chinesischen von Alice Grünfelder
mit Zeichnungen von Tsai Wan-Shuen
Verlag hochroth Leipzig, 2024
41 Seiten, Broschur, 10 Euro
ISBN: 978-3-949850-35-6

Verlagswebsite:
hochroth.de/8813/tsai-wan-shuen-kuesten/

weisses buchcover mit gekritzel
Buchcover hochroth-Verlag

Himmel und Meer

Zwischen Himmel und Meer

Eine Lektürenotiz

Einen Eindruck von der Bandbreite mündlicher und schriftlicher Literatur Taiwans will diese knapp 550 Seiten schwere Anthologie vermitteln – und Thilo Diefenbach, der Herausgeber, hat, so scheint es, dafür alles aufgenommen, was er zwischen Himmel und Meer gefunden hat, nämlich sage und schreibe 101 Werke: 63 Gedichte, 15 Erzählungen, 13 Essays, 9 Legenden – das listet er im Vorwort auf und unterteilt weiter in mündliche Überlieferungen und politische Perioden. Ein Blick ins Inhaltverzeichnis zeigt, dass die Texte chronologisch angeordnet sind, nur warum darunter auch Berichte von chinesischen Beamten sind, die Taiwan im 17. Jahrhundert bereisten, wie Yu Yong-he (im Buch selbst Yü Yung-ho), widerspricht wiederum dem Untertitel des Bandes: eine Anthologie taiwanischer Literaturen.

Verdienstvoll ist die Menge an übersetzten Texten allemal, die einen seltenen Blick in die Gemengelage – gesellschaftlicher, psychologischer, kultureller Art – erlaubt. Die „Elegie von der Überfahrt nach Taiwan“ beispielsweise warnt ungeschminkt und in derben Worten vor einer Übersiedelung auf die Insel. Auch vom harten Arbeiterlos berichtet so mancher Text, vom Pazifik-Krieg Ch’en Ch’ien-wu ebenso wie der bekannte Autor Lo Fu, der mit einem Auszug aus seinem Werk „In der Felsenzelle sterben“ vertreten ist.

Wertvoll sind auch die seltenen Übertragen von indigenen Autor:innen. Badai aus dem Stamm der Puyuma schreibt über eine Shamanin, die im Hier und Jetzt trotz aller Anstrengungen ihren Sohn durch das dunkle Tor ziehen lassen muss, dem Tod entgegen. Lavulas Geren, ein Paiwan, fasst geradezu lakonisch in nur drei Zeilen das Leben der Bergbewohner zusammen.

Angenehm überrascht die Vielzahl der Gedichte. In einem Poem des populären Lyrikers, Verlegers und Literaturvermittlers Hung Hung scheint auf, dass uns nicht allzu viel von Taiwanerinnern und Ostasiaten unterscheidet, dass kulturelle Projekten hier und dort den Blick verstellen.

Japaner
sehen an den Wänden taiwanischer Hotels
die verschneiten Gebirge der Schweiz.

Taiwaner
sehen an den Wänden Schweizer Hotels
Bilder der fließenden Welt aus Japan.

Schweizer
sehen an den Wänden japanischer Hotels
Regenschirme von Ölpapier aus Taiwan.

Chinesen
sehen an den Wänden chinesischer Hotels
die Verbotene Stadt.

Überzeugte die Anthologie Kriegsrecht – ebenfalls von Thilo Diefenbach im selben Wissenschaftsverlag iudicium herausgegeben – durch seine Stringenz und Konzeption, Texte zu versammeln, die sich auf die schwierige Zeit während der Militärdiktatur konzentrierten, fehlt hier solch ein Konzept, und das Ganze wirkt wie ein loses Sammelsurium. Das ist schade, zumal auch das Vorwort mit dem Exkurs ins Sinitische – statt Sinologische – irritiert; dem Herausgeber folgen können ohnehin nur ganz wenige Eingeweihte. Es ist, als stünde sich der Herausgeber mit seinerm Vermittlungeifer selbst im Weg.

Nichtsdestotrotz ist diese Sammlung von Texten, die der Herausgeber selbst mit weiteren Übersetzerinnen und Übersetzern (Wolf Baus, Chiang Po-Hsüan, Eckhard Dreier, Johannes Fiederling, Patricia Hung Wen-chen, Katahrina Markgraf, Fabienne Uji-Hofer) ins Deutsche übertragen hat, eine wertvolle Erweiterung dessen, was bislang auf Deutsch an erzählerischen Texten aus Taiwan erschienen ist.

Thilo Diefenbach: Zwischen Himmel und Erde. Eine Anthologie taiwanischer Literaturen. iudicium-Verlag München, 2022

Weitere Hinweise zu Literatur aus Taiwan sind hier auf dem literaturfelder-blog nachzulesen.

Sehnsucht nach Leben …

… nach dem Tod, eine Gier bis zum Ende. So schreibt Christine Lavant, schreibt, wie sie gelebt hat, widerständig bis zum Schluss. Da mag das Leben noch so garstig mit ihr sein, sie trotzt der Forderung nach Unterwerfung und Demut ebenso wie dem Kleingeist der Gesellschaft.

Nun liegt ein neuer Band mit ihren Gedichten vor, herausgegeben von Jenny Erpenbeck, die diesem Leben entlanggleiten. Hier beschwört eine wortbebende Lyrikerin Bilder in einem schmerzvollen Prozess und mit einer Wut, die bis zuletzt brennt.

Eine Rezension zu dem Band „Seit heute, aber für immer“ ist in der Literaturzeitschrift orte erschienen.

Steffen

Schreibstrom hinter Gittern

Das Lebensthema des Lyrikers Ernst S. Steffen war Ankommen – wen wundert’s, wenn einer ein halbes Leben hinter Gittern verbrachte? Im Gefängnis war er zu feinsten Beobachtungen und Regungen fähig, stets begleitet und angetrieben vom Gefühl, zwischen Stuhl und Bank gefallen sein: „Ich vermute, ich bin nur provisorisch gemeint“, schrieb er in einem Gedicht, „irgendwann wird man mich zu Ende denken.“

Ein Rezension zu seinem neu herausgegebenen Lyrik-Band ist am 1. Februar 2024 in der WOZ zu lesen.

Klause der Illusionen

In die Hügel, dem Wasser lauschen

„Mein Leben fühlt sich leicht an“, schreibt der japanische Haiku-Dichter Matsuo Bashô (1644–1694); es braucht wenig mehr als eine spartanische Hütte, so der Laienmönch Kamo no Chômei (1153–1216). Und Bai Juyi (772–846), einer der bedeutendsten Dichter der chinesischen Tang-Zeit, betrachtet die Felsen und Wolken wie ein Wunder ohne Ende. Ihnen gemeinsam ist der Rückzug aus der Gesellschaft und die stille Kontemplation der Natur.

Die Rezension zum Buch Klause der Illusionen ist in der Neuen Zürcher Zeitung nachzulesen.

Singapur: wie geht ein zweckfreies Leben?

Eine Lektürenotiz: Der Literaturlehrer Sukhin stolpert nicht nur ziemlich zweckfrei und sinnentleert durch sein Leben, sondern eines Tages über einen Haufen Karton. Als eine Gestalt auf ihn zukommt, erschrickt er. Die Obdachlose ist Jinn, seine Freundin, die vor Jahren spurlos verschwand.

So beginnt dieser Roman aus Singapur und durchschreitet mit seltenem Humor gesellschaftliche Barrieren. Nachdem sich Jinn wieder in Sukhins (Gedanken-)Welt einnistet, versucht er vorsichtig herauszufinden, warum sie damals das Leben in einer wohlbehüteten Umgebung als Tochter eine wohlhabenden Familie aufgeben und ihn verlassen hat. „Er fragt sich, wo sie gewesen ist, aber er wird sie nicht fragen.“ Die geliebte Großmutter habe ihr völlig unverhofft die halbe Bäckerei und das gesamte Vermögen vermacht, erzählt sie ihm peu à peu, weshalb die Familie sich von ihr distanzierte und Jinn den Boden unter den Füßen verlor. „Und dann fing mein Verstand an, sich selbstständig zu machen.“ „Wo ist er hingegangen?“ „Ach, an alle möglichen Orte, denke ich.“ Sie beschließt, dieser Welt den Rücken zu kehren, weil sie nicht mehr länger Teil dieser Maschine namens Singapur sein will. wie wir von der Autorin erfahren. „Ich konnte nicht mehr. Also habe ich aufgehört und bin gegangen.“
Ganz anders der 35-jährige Misanthrop und Literaturdozent Sukhin, der nichts mehr hasst als Unordnung und Chaos, sich den Heiratsvermittlungsversuchen seinen Panjabi-Eltern erfolgreich widersetzt, dem es nur halb recht ist, dass Jinn wieder in seinem Leben ist, auch wenn er sie, ja, liebt, wie er sich selbst nach vielen Jahren eingestehen muss. Kuchen und Tee, mit einer Portion Geplänkel als Beilage, „das ist die wahre Idylle, oder nicht?“, fragt er sich selbst ein wenig ungläubig.

Sprachlich ist der Roman in Puddingcreme getaucht, gesprengselt mit feinem Humor, in kursiv gesetzten und etwas rätselhaften Kommentaren schillern Zwischenwelten – denn ist der Mann, von dem da erzählt wird, Sukhin, und die Tote Jinn? Oder wer geistert durch die Seiten? Am Ende wird jedenfalls Jinn von der Familie für tot erklärt, und ganz bewusst zelebrieren die beiden dieses Ereignis.

Doch ist der Protagonistin, die angeblich „den Verstand verlor“, nicht etwas anders abhanden gekommen, denn sie ist ja nicht wirklich verrückt geworden? Die Autorin Yeoh Jo-Ann hat einen chinesischen Hintergrund, und ich frage mich, ob die Übersetzung wirklich das getroffen hat, was die Autorin meinte? Handelt es sich womöglich um dieses unübersetzbare shen 神 oder jing 精? Herz und Geist passten nicht mehr zusammen, rissen Jinn auseinander, sie fiel in ein Loch … Ähnliche Zweifel kamen mir beim Titel „Zweckfreie Kuchenanwendung“ – womöglich ist hier eher die Absichtslosigkeit gemeint, die im chinesisch-buddhistischen Kontext verortet ist? Vielleicht aber bin ich es mit meinem sinologischen Hintergrund, die zu viel hineininterpretiert, vielleicht zeigt diese Übersetzung eines Romans aus Asien, der englisch geschrieben und ins Deutsche übersetzt wurde, dass Kulturtransfer über Sprache nicht gänzlich möglich ist. (Die Autorin selbst, die ich deshalb versucht zu kontaktieren, hat sich bisher leider nicht gemeldet.)

Ganz im Gegensatz zu den Crazy Rich Asians wird hier jedenfalls ein anderes Singapur gezeigt, neben Hongkong eine der wohlhabendsten Städte Asiens: eine Stadt der Obdachlosen, der Gemüse-Piraten, Recycling-Weltmeister und all jener, sich sich den Wohlstandsverpflichtungen der Megapolis entzogen haben und stattdessen z.B. wild campen, containern und in einer abgelegenen Gasse vielleicht eines der schönsten Weihnachtsfeste der Gegenwartsliteratur feiern.

Yeoh Jo-Ann: Zweckfreie Kuchenanwendungen. Übersetzt von Gabriele Haefs. Mit Anmerkungen. Kröner Verlag, 2022, 320 Seiten

Weitere Beiträge zu Singapur:

Derborence …

… ist eine Wand, ist keine Wand, denn sie ist voller Furchen, Kanten, Löcher, bleckenden, leckenden Wasserzungen, weiter unten und auf halber Höhe Geröll, wo vor mehr als 200 Jahren der Berg herunterkam, so hat es Ramuz beschrieben in seinem Roman Derborance, es muss hier gewesen sein, als der Berg einen Gesteinswulst vor sich herschob, die Felsen krachten und flogen, im Tal war es diesig vom steinernen, Nebel, der hinunterwarberte und weiter unten zwischen den Hängen feststeckte, sich einfraß – oder war es auf der anderen Seite, dort, wo es scheint, als sei der Berg abgebrochen, als hätte er die davorliegende Hügelkette durchbrochen, wo heute ein schmales Tal, wo heute Quader aufragen wie Türme, zu beiden Seiten, als wachten sie – worüber? -, als gäben sie Acht, dass nicht noch einmal. Doch ausrichten könnten sie nichts, da der Berg wie eine Wand, oder eben fast, senkrecht aufragt in den scharfklaren Himmel. Ein Streifen Schnee von drüben leckt herüber, vom Gletscher auf der anderen Seite, über allem hängen schwere Wolken, bringen morgen einen beigen Tag, sagt der Wetterdienst. Menschen nur wenige, aber übernächste Woche, wenn gejagt wird, während der Jagdsaison, ist der Parkplatz, das Haus voll, sagt die portugiesische Angstellte, dann nichts mehr, im Winter sowieso und bei Regen sind die Straßen ohnehin gesperrt, dann rutscht die Erde, fließt das Wasser, auch auch unterm Berg. Knappe 7000 Kilometer lang, über Wasserturbinen und Tunnel hinunter ins Tal getrieben, damit unten der Strom … Bald aber nichts mehr. Denn das Gras knistert vor Trockenheit. Und der Berg? Wartet ab.

Wer mehr lesen möchte, dem sei der Roman Derborence von C.F. Ramuz empfohlen, erschienen im Limmatverlag.