Frau blickt auf Buchtitel Vom Berglern und Geheimagenten

Traumseelen und Geheimagenten

Literarische Geschichtsbewältigung à la Taiwan. Ein Gastbeitrag von Peggy Kames.

Stell dir vor, du sitzt am Computer und kannst mit einem Klick Taiwan aus höchster Not retten, wie schon einmal, du musst nur den richtigen Befehl wiederholen. Was wäre wenn? Das ist die literarische Versuchsanordnung in der Erzählung „Virtuelles Taiwan“ von Ping Lu, die 1997 entstand. Die Autorin erhielt im November 2024 den Literaturpreis Taiwans für Land der Traumseelen, den dritten Band ihrer Taiwan-Trilogie. In „Virtuelles Taiwan“ verknüpft sie historische Fakten in einem fiktiven Setting, bei zunehmender Fiebrigkeit der Hauptfigur: Was wird passieren? Welcher war der richtige Befehl? Das Kammerspiel mit historisch-utopischer Dimension beschließt den Reigen von zwölf taiwanischen Autoren im Erzählband Von Berglern und Geheimagenten. Identitätspolitik ist der rote Faden, der die Geschichten miteinander verbindet, wobei es neben Fragen der politischen Identität, wie in Ping Lus Erzählung, auch um die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen oder Ethnien geht, um soziale Schichten und Rollenmuster bis hin zu Fragen sexueller Orientierung. Ich hatte Gelegenheit mit der Herausgeberin, Annie Hsu, zu sprechen. Zur Frage der Identität sagt sie, dass „Fremde kamen und gingen, sie Taiwan regiert und aufgebaut, die taiwanische Kultur bereichert, aber den Menschen auch viel Leid gebracht [haben]. Das könnte vielleicht erklären, warum Taiwaner Probleme mit ihrer politischen Identität haben“.

Von MeToo bis hinauf in die Berge Taiwans

Nicht immer so spielerisch wie in Ping Lus eingangs erwähnter Erzählung geht es um Marginalisierung indigener Kulturen, um tradierte Lebensformen, die mit der Modernisierung des Landes nicht Schritt halten, um Beharrlichkeit patriarchaler Strukturen und Klassismus in der modernen Gesellschaft. Die Geheimagenten im Buchtitel sind demzufolge auch keine Spione im Dienste eines feindlichen Staates, sondern Menschen, die ihre Identität verstecken und sich der dominierenden Gruppe versuchen anzuschließen, wie in der Erzählung von Hu Shu-Wen. Die Protagonistin ist eine Schülerin aus einfachen Verhältnissen, was sie zu verbergen sucht, sie beobachtet und bemerkt Geheimnisse der anderen, wird selbst zum willenlosen Objekt eines Lehrers, zu seinem „Geheimnis“, sie entdeckt schließlich, dass sie nicht allein ist, aber Erlösung bedeutet das nicht. Ich denke, viele Leser in anderen Ländern könnten sich durchaus in der Geschichte wiederfinden, denn das Phänomen findet sich auch anderswo. Vielleicht wird es nicht überall zu einer kollektiven Erfahrung. Auf die Frage nach einer Lieblingsgeschichte nannte Annie Hsu unter anderen diese von Hu Shu-Wen. Sie sprach von einer grausamen Realität, die Menschen in der taiwanischen Gesellschaft zwinge, ihre eigene Identität als minderwertig zu betrachten. Selbst Schülerin einer Elitegrundschule, erkannte sie erst später, dass Mitschüler, die wegen schlechter Noten von Lehrern bestraft oder von den anderen Kindern gehänselt wurden, meistens aus taiwanischen Familien stammten.

Annie Hsu

Aufstrebende Literatur

Geopolitisch ist Taiwan schon seit einigen Jahren ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt, denn hier wird der nächste Konflikt zwischen den Großmächten China und USA erwartet. Cinematographisch ist es vierzig Jahre nach der Taiwan New Wave und nachdem 2011 Seediq Bale in den Wettbewerb des Filmfestivals Venedig gewählt wurde, eher ruhig geworden, dafür aber macht die Insel literarisch zunehmend auf sich aufmerksam. Genau dazu passt das Buch Von Berglern und Geheimagenten. Nach dem Erzählband Von Wahrsagern und Technofrauen (2021) mit zwölf Stimmen von Autorinnen aus Taiwan, ist dies der zweite im Projekt-Verlag erschienene Band mit Erzählungen aus Taiwan. Die Texte wurden von Andreas Guder, Marc Hermann, Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder erstmals ins Deutsche übersetzt und, wo nötig, mit Anmerkungen versehen, so kann man viel über Taiwan und die literarische Bandbreite dort erfahren. „Die Geschichte von den Beuteltieren“ beispielsweise schildert eindringlich die Situation von modernen Frauen, die sich bis zur Selbstaufgabe um Familie, Haushalt und Kinder kümmern, um schließlich in einer Anklage ignoranter Ehemänner zu gipfeln. Dabei wendet sich Chu Tian-Hsin durch die Verwendung des Pronomens „du“ ganz direkt an die Leserinnen und Leser und bezieht sie so automatisch in die Zeugenschaft solcher Verhältnisse ein.

Wer sind wir?

Und die ebenfalls titelgebenden Bergler? Diese abwertende Bezeichnung – auf Chinesisch 山地人 shandiren -, gab die han-chinesische Bevölkerungsmehrheit den Indigenen. Die hier versammelten Autoren sind zwischen 1939 und 1977 geboren, drei von ihnen sind indigene Autoren. Auf den indigenen Kulturen liegt in den letzten Jahren besonderes Gewicht, wenn es zu der Frage kommt: Was ist taiwanisch? Wer sind wir? Noch einmal Annie Hsu: „Inzwischen haben sich immer mehr indigene Autoren einen Ruf im literarischen Bereich aufgebaut. Sie schreiben meist auf Chinesisch, versuchen zunehmend auch in ihrer Stammesssprache zu schreiben und bringen andere, neue Schreibstile mit.“ So wie Walis Nokan vom Stamm der Atayal mit seinem experimentellen Satzbau in der Erzählung „Eines traurigen Tages Gedenken“. Hans Peter Hoffmann folgt in seiner Übersetzung diesem besonderen Stil und Satzbau, was dem Leser einiges abverlangt. Badai vom Stamm der Puyuma schildert die beschwerliche Ingwerernte in den Bergen. Die ganze Familie und befreundete Helfer werden eingesetzt, um die Ernte und damit das Auskommen der Familie auf abenteuerlichen Bergpfaden ins Dorf zu bringen. Er beleuchtet dabei Strukturen, die zur Benachteiligung der indigenen Bevölkerung führten.

Von realen bis surrealen Settings bietet der Band einen breiten Überblick. Auch wenn nicht alle Erzählungen wirklich packend sind und Spuren hinterlassen, als Orientierung in der vielfältigen Literaturlandschaft ist der Band jedenfalls sehr empfehlenswert.

Von Berglern und Geheimagenten. Zeitgenössische Erzählungen aus Taiwan
Übersetzt aus dem Chinesischen von Andreas Guder, Marc Hermann, Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder, 2024; 307 Seiten

Weitere Bücher aus Taiwan (Auswahl):

Das Buch "Fremde vom Pier" von Tash Aw liegt auf der "Wochenzeitung"

Glück …

… in der Abwesenheit von Glück in Malaysia. Eine Rezension.

Über die Vergangenheit schweigen die Vorfahren des malaysischen Autors Tash Aw, deshalb macht er sich auf die Suche, fügt Steinchen um Steinchen aneinander – nur um festzustellen, dass alles ganz anders ist, als er sich es vorgestellt hat?

Es ist einfacher, sich am Luxus zu erfreuen, denn die Vergangenheit schmerzt nur, die Gegenwart ist leicht, so sieht es sein Vater. Ist die Verdrängung also eine Frage des Pragmatismus? Der Vater verneint, sie würden vielmehr aus Scham schweigen. Und auch aus Dankbarkeit: „Schau, wo wir jetzt sind.“

Eine Migrationsgeschichte aus Südostasien, erzählt in Rückblenden und in Gesprächen – eine Geschichte, in der Mobilität und Flexibilität aus purer Not höher gewertet werden als Familienleben.

Nachzulesen ist die Rezension in der WOZ.

Tash Aw: Fremde am Pier. Porträt einer Familie. Aus dem Englischen von Pociao, Roberto de Hollanda. Luchterhand, 2024, 128 Seiten.

Weitere Artikel aus Malaysia:

weisses buchcover mit gekritzel

Dunkel und hell

Ein neues Gedicht aus Taiwan, ein neues Gedicht von Tsai Wan-shuen

Im Dunkeln ist es nicht immer gefährlich, das Dunkel bietet Sicherheit, auch den Verfolgten. Nur was ist mit den Menschen im Licht – und: Gibt es eine Verbindung zwischen den beiden Welten?

Davon spricht das Gedicht „Mir träumte von Zikaden“, heute erschienen auf dem Literaturblog „Aus dem Alltag“ von Manfred Lipp.

Zu den beiden Bänden mit noch mehr Gedichten von Tsai Wan-Shuen geht es hier:

Küsten, erschienen im Hochroth Verlag Leipzig.

Im Meer aufwachen, erschienen im Drachenhausverlag.

Löffel in einer Suppe mit Bohnen neben einem Buchumschlag, auf dem steht "Das Parfum des Todes"

Die einzige Spur: der Duft eines Parfüms

Ein Gastbeitrag von Monika Li über den Kriminalroman Das Parfüm des Todes der taiwanischen Autorin Katniss Hsiao

Die Tatortreinigerin Yang Ning kann aufgrund eines Traumas nur riechen, wenn sie sich am Geruch des Todes berauscht. Bis sie eines Tages den Auftrag erhält, eine Wohnung zu reinigen, in der jemand umgebracht wurde. Plötzlich wird sie zur Hauptverdächtigen und macht sich auf die Suche nach dem wahren Mörder, der als einzige Spur den Duft eines Parfüms hinterließ.

„Nichts bedeutet irgendwas, das weiß ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun.“ Damit zitiert die Tatortreinigerin Yang Ning einen Jungen, der in der nihilistischen Parabel Nichts – was im Leben wichtig ist der dänischen Autorin Janne Teller den Sinn des Lebens radikal in Frage stellt. Getrieben von der Provokation des Jungen, tragen die Klassenkameraden in Tellers Geschichte einen Berg voller Dinge zusammen, die ihnen etwas bedeuten.

Am Tatort

Man könnte meinen, Hsiao habe die dänische Parabel nach Taiwan verlegt, um sie mit der Figur Yang Nings herauszufordern. Auch Yang Ning wurde der wichtigste Mensch in ihrem Leben entrissen: Ihr jüngerer Bruder beging Selbstmord. Seitdem versagt ihr absoluter Geruchssinn vollkommen und kann nur für kurze Zeit wiederhergestellt werden, wenn Yang Ning den Ausdünstungen von Leichen ausgesetzt ist. Sie stürzt sich in die Arbeit, um sich am Geruch des Todes zu berauschen, bis sie eines Tages selbst zur Hauptverdächtigen wird.

„Geruch ist das Medium der Liebe und des Geliebtwerdens“ wird man im Verlauf der Geschichte vom wahren Mörder erfahren. Mit dem Verlust ihres Geruchssinns versinkt Yang Ning in einem Strudel der Leere, hinter einer Mauer, durch die auch die Liebe ihres fürsorglichen Exfreunds Xu Haoyang nicht durchzudringen vermag. Aus dem Schmerz ihrer seelischen Verletzung schöpft Yang Ning eine gigantische Kraft, die sie drängt herauszufinden, wer sie in diese Falle gelockt hat. Um die Denkweise des Täters zu verstehen, freundet sich Yang Ning mit einem Serienmörder an.

Es scheint, als müsse sie auf der Suche nach dem Mörder zum Monster werden, wie die Kinder aus Tellers Roman auf ihrer Suche nach dem Sinn des Lebens. „Bevor wir Monster wurden“ lautet daher auch der Originaltitel des Romans, dessen deutsche Übertragung Parfüm des Todes den olfaktorischen Aspekt betont. Bei Teller bleiben die Kinder, die in Nichts zu Monstern werden, schemenhaft, man erfährt wenig über ihre persönlichen Geschichten und Gefühle. Hsiao hingegen nimmt die Leserschaft an die Hand und zieht sie ganz nah an die Wunden in Yang Nings Seele heran, führt sie bis zu ihrer Mutter nach Hause, enthüllt Yang Nings verzweifelt traurige Wut, die sich hinter ihrer impulsiven, rohen Fassade verbirgt.

Riechen und Fühlen und Essen

„Setz deine Maske auf“ war ein Romantitel, den die Autorin selbst in Erwägung gezogen hatte, wie sie im Nachwort des Originals schreibt. Sie reißt den Figuren die Masken vom Gesicht, entblößt ihre Ängste, ihre Sehnsüchte, ihre innerlichen Kämpfe, ihren Humor, – bis wir uns selbst in den Monstern erkennen. Auch uns läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn Hsiao den Duft der süßen roten Bohnensuppe beschreibt, wie sie ihren Bubble-Tea schlürfen oder genüsslich in das zarte Lammfleisch beißen. Mit den sinnlichen Beschreibungen des Essens hat Hsiao einen zentralen Aspekt taiwanischer Kultur in ihr Werk eingeflochten, dessen scheinbare Harmlosigkeit in schaurigem Kontrast zur Kriminalgeschichte stehen mag, sich aber beim genaueren Hinsehen stimmig in den Roman als Beziehungsgeschichte einfügt, denn Beziehungen jeder Art werden in Taiwan über das gemeinsame Essen aufgebaut, gepflegt und ausgedrückt.

Was ist ein Kriminalroman? Karen Witthuhn definiert ihn als eine Erzählung, in der Werte und die Frage nach Gut und Böse verhandelt werden und wie Gewalt interpretiert wird. Hsiao tut dies in Das Parfüm des Todes mit einer wuchtigen Brillanz, die Das Schweigen der Lämmer und Das Parfum – die beiden Werke, mit denen man den Roman vielleicht zunächst vergleichen möchte -, verblassen lässt. Hsiao selbst spielt zwar mit diesen Vergleichen, unter anderem durch Yang Nings Lieblingsspeise Lammfleisch und ihren Spitznamen „Lämmchen“, wie sie der befreundete Serienmörder nennt. Dabei isst Yang Ning zwar gerne Lamm, ist aber keineswegs lammfromm. Trotz der Widrigkeiten ihres Schicksals weigert sie sich eindrucksvoll, dem Nihilismus zu verfallen, lehnt sich kraftvoll gegen die vermeintliche Ausweglosigkeit ihrer Situation auf und gibt die unmöglich scheinende Suche nach dem wahren Mörder nicht auf. Wird Yang Ning zu einem der Kinder aus Tellers Parabel? Die Frage nach Gut und Böse bleibt bis zum überraschenden und angenehm unversöhnlichen Ende offen. Beantworten muss man sie sich selbst.

Beim Lesen vergisst man, dass man eine Übersetzung in den Händen hält, was der großartigen Arbeit von Karin Betz zu verdanken ist. Sie hat den Stil und den Ton Hsiaos so gut getroffen und die Eigenheiten chinesischer Sprache und taiwanischer Kultur so natürlich übertragen, dass die deutsche Übersetzung dem taiwanischen Original in nichts nachsteht. Nicht zuletzt aufgrund der größeren Anforderung an Präzision und Kohärenz, die eine deutsche Leserschaft fordert, wurde der Roman durch das Lektorat des Herausgebers Thomas Wörtche verfeinert.

Katniss Hsiao: Das Parfum des Todes. Aus dem taiwanischen Chinesisch von Karin Betz. Suhrkamp Verlag 2024, 486 Seiten

Eine Auswahl von weiteren Rezensionen zu Büchern aus Taiwan:

Florian Bissig Vaterbuch in Versen

Nachbild

Lektürenotiz zu Anchises in Alaska. Ein Vaterbuch in Versen.

Außergewöhnlich, wie Florian Bissigs versucht, das zerfledderte Leben – das sich auch typografisch in aufgelösten Zeilen mit Leerstellen spiegelt – eines Mannes, eines Vaters, zusammenzusetzen, damit sich zumindest ein Bild nach dessen Tod ergibt, wenn schon zu Lebzeiten ein solches verweigert wurde. Denn die „Kunst abwesender Anwesenheit“ hat dieser Mensch gut beherrscht, eingeübt und perfektioniert; seltene Treffen in einem abgelegenen Haus galten als „rare Adelung“. Mit Brosamen also hingehalten, ferngehalten, denn wenn es dem Vater zu nahe wurde: „Beziehungsabbruch“.

Auch die Todessehnsucht des Mannes in jungen, die Alkoholsucht in späteren Jahren ist ein Zeichen der Negation und wiederkehrendes Bild. Um zu „versickern“ und schließlich – die letzte Option -, die Wahl des Nichts, stolz verklärt, um wenig später vor dem „Tor der Himmelspforte herumzustehen“.

Der Vater ist wohl im Leben schon verschwunden wie später auch das Grab, das der Sohn nicht mehr findet, es wurde abgeräumt. Was bleibt, ist also dieses Buch und eine letzte Szene am Heiligabend, ein Moment der Stille und Finsternis zugleich, weil die Kerzenlichter am Baum erlöschen und im letzten Aufzucken ein Netz aus Schattenmuster an Decke und Wände werfen. Die Menschen sehen diesem Spiel von Aufleuchten und Auslöschung zu, bis sie reglos schweigend ins Schwarz starren. Selten wurde so eindringlich von diesem Vorgang in Versen geschrieben (mir fiel noch das „Orangenpapier“ von Pietro de Marchi ein), vom Aufflackern, Leuchten, Verglimmen bis hin zum Verlöschen des Lebens überhaupt, um wieder von vorn beginnen zu können.

So in etwa lässt sich dieser Bogen – mit Abschweifungen in Mythologien – nachzeichnen von einem Leben, in dem einer nicht wirklich glücklich war. Das Verglühen jedenfalls bleibt und auch die Frage, ob der Tod wie auch das Leben Anfang eines Gesprächs sein könnte?

Florian Bissig: Anchise in Alaska. Ein Vaterbuch in Versen. Verlag die Brotsuppe, Biel, 2024

Boot am Tallala-Strand unter Palmen

Sri Lanka – Serendip: Was für ein Zufall!

Postkarten, ein Nachwort und mehr

Unlängst erfüllte ich mir einen Traum, stieg endlich einmal auf den Adam’s Peak in Sri Lanka – darüber wird noch zu berichten sein – und schrieb drei Postkarten. Um die mich im Vorfeld Gallus Frei gebeten hatte, die er auf seiner Website literaturblatt.ch veröffentlichte.

Sri Lanka beschäftigt mich schon seit Jahrzehnten, nicht erst seit meinem Buch Sri Lanka fürs Handgepäck, für das ich Texte aus unterschiedlichen Jahrhunderten, von diversen Autor:innen suchte und fand. Denn, wie es im Nachwort dieses Buches zu lesen ist:

„Serendip, wie Sri Lanka von arabischen Seefahrern genannt wurde, war für Nicolas Bouvier auch in anderer Hinsicht Serendip; ein Zufall nämlich, der den Westschweizer auf seiner ausgedehnten Asienreise ausgerechnet in Galle neun Monate lang festhielt, einer Malariaerkrankung wegen. Im Fieberwahn irrte er durch die Straßen, freundete er sich aus schierer Not und Einsamkeit mit Insekten an. Doch erst im Jahr 1974, abermals wie im Rausch, schreibt er in nur einer Nacht den Aufguss aller ceylonesischen Phantasmen nieder und schafft damit den Durchbruch als international geachteter Autor. Auch Hermann Hesse brauchte fast zwanzig Jahre, damit seine Reise nach Ceylon und Indien in Siddharta Früchte trug, so der Autor selbst. Zuvor aber geht er in seinen ersten Berichten Aus Indien mit dem britischen Kolonialismus auf eine fein-spöttische Art ins Gericht, lässt selbst an den Einheimischen kein gutes Haar, schüttet in jeden Riss der für die Fremdenindustrie glatt polierten Oberfläche beißenden Spott, und nicht einmal für den Buddhismus findet er ein gütiges Wort. Einzig der Aufstieg auf den höchsten Berg Ceylons versöhnt Hesse, dort fühlt sich an die Heimat erinnert und er spürt, wie sehr das eigene Wesen in raueren Klimazonen verwurzelt ist und sich doch immer nach dem warmen Süden verzehrt. Taumeln die Menschen bei Hesse noch im Rausch der Trommeln und Räucherstäbchen, so findet Helmut Uhlig durchaus ein religiöses Gestimmtsein in der alten Hauptstadt Polonnaruwa. Der wilde Wirbel von Tänzern mit brennenden Fackeln und der Besuch bei den Weddas, den Waldmenschen, können als wichtiges Dokument einer längst vergangenen Kultur gelesen werden. Davon zeugen auch die Volkserzählungen vom treulosen Freund und einer treulosen Gattin, doch mit feinem Humor und weiser Nachsicht werden diese allzu menschlichen Fehler klug verhandelt. Klugheit allein reicht indes nicht, wenn Naturgewalten sich Bahn brechen wie in „Lansina Nonas Kampf mit dem Fluss“. Dennoch muss das Wasser als lebensspendendes Element geachtet werden. Im ganzen Land wurden seit Urzeiten riesige Reservoirs und Bewässerungskanäle angelegt, damit nur ja kein Regentropfen ungenutzt ins Meer gespült wird. Und so malt Otto Vollnhals mit Wörtern das komplexe Bewässerungssystem wie kein anderer vor ihm.

Seit je hat Sri Lankas Tierwelt Naturforscher zu begeistern vermocht. Selbst wer bislang noch keinen Zoologen in sich entdeckt hat, lässt sich beeindrucken von Rolf Lachners Beschreibungen der Vogelwelt, Flughundekolonien und beeindruckenden Unterwasserwelt. Dienten solcherart naturwissenschaftliche Berichte dem Ansehen der Forscher im eigenen Land, so stillten Abenteuergeschichten aus exotischen Ländern schon früh das beständige Fernweh. Kein Wunder, dass der ungeheuerliche Fußmarsch von Jacob Haafner das Lesepublikum schon damals in Verzückung versetzte.

Und dann kam einer, der diese Welt endlich für die Daheimgebliebenen nach Europa brachte: John Hagenbeck. Und er kauft ein: Elefanten, Leoparden, Schlangen. Einen Teufelstänzer hätte er auch noch gern, wenngleich es viel diplomatisches Geschick – oder doch eben Bargeld – brauche, diese Leute nach Europa zu locken. Und immer wieder Elefanten: Der eine kauft sie ein, während sich andere einen Spaß daraus machen, die Dickhäuter zu jagen. Ohnehin sei nur ein Mensch mit mannhaftem Herzen überhaupt in der Lage, so ein Tier zu erlegen, verspottet Michelle de Kretser feinsinnig ihren Helden, der sich im Leben als wahrer Hasenfuß erweist und sich mit zahlreichen hehren Worten um Kopf und Kragen redet. Singhalesen haben eben das schönste Alphabet der Welt, so Michael Ondaatje. Und wer die Zunge einer Echse esse, der werde garantiert ein Meister der Redekunst.

So faszinierend Sri Lanka auch ist, so unerklärlich bleibt es, wie es zu diesem Hass zwischen Tamilen und Singhalesen, aber auch zwischen rivalisierenden Tamilen-Gruppen kommen konnte. Mit Michael Ondaatje und Ranjith Henayaka werfen wir einen Blick hinter die exotische Tropenkulisse. Selbst Tamilen schießen aufeinander, davon gerät das Weltbild ins Wanken, die tamilische Befreiungsfront zeigt Risse.

Ums Töten, aber auch um die Liebe und ungestüme Lebenslust geht es selbst in der Küche, oder vielmehr beim Einkaufen auf einem Fischmarkt, wohin uns Romesh Gunesekera entführt. Mit roher Gewalt wird auf einen Riffhai eingeschlagen, bis das Blut spritzt, doch eingekauft wird trotzdem, um einen Leckerbissen zuzubereiten: Kulinarische Dekadenz am Vorabend zur Ausrufung der Republik, als aus Ceylon Sri Lanka wurde? Düstere Ahnungen liegen in der Luft, selbst ein Delfin ist vor dem Morden nicht geschützt, was kommt als Nächstes dran, fragt Nili, die Geliebte des Masters?

Vielleicht hilft doch nur wieder ein Pilgergang, dieses Mal auf den Adam‘s Peak, der von Gläubigen aller vier Religionen verehrt wird, den Buddhisten, Hindus, Moslem und Christen. Christoph Ransmayr berichtet von einem Ehepaar, das als Dank für die Rettung vor dem Tsunami auf den Gipfel pilgert, als Dank auch dafür, vom Bürgerkrieg verschont worden zu sein. Buddha hatte einen Fußabdruck hinterlassen, Shiva getanzt, der Apostel Thomas habe gedankt, dass ihm sein Gott diesen Blick in das Tal gewährte. Und schließlich ist es dieser Berg, der die unterschiedlichsten Menschen zusammenführt, und es ist diese Erzählung „Wallfahrer“, die das Schicksal Sri Lankas in sich vereint.“

Weitere Artikel aus Sri Lanka:

Buchcover schwrz gelb auf Literaturkritik - Yan Lianke - Der Tag, an dem die Sonne starb

Wenn die Sonne nicht mehr scheint

Es war während der Hundstage, am sechsten Tag des sechsten Monats. Es war so heiß, dass Menschen starben und der Bestattungladen im Dorf alle seine Totengewänder verkaufte, alle Trauerkränze, das ganze Flittergold.

Denn die Menschen hatten wieder einmal den ganzen Tag lang gackert, sie arbeiteten wie blöd, um dem Unwetter zuvorzukommen, das die Arbeit eines ganzen Jahres zunichte machen würde. Die Menschen wetzten die Sensen und dreschten das Korn – sie waren hundemüde, ja sterbensmüde, manche schliefen aus Erschöpfung auf den Feldern ein.

Mit diesen Szenen beginnt der wunderliche Roman des chinesischen Schriftstellers Yan Lianke, die ganze Rezension ist nachzulesen in der WOZ.

Yan Lianke: Der Tag, an dem die Sonne starb. Aus dem Chinesischen von Marc Herrmann. Matthes & Seitz, 2024, 366 Seiten.

Eine weitere Besprechung eines Roman von Yan Lianke ist hier nachzulesen.

Bei Matthes & Seitz wurden zudem die beiden Romane Dem Volke dienen und Der Traum meines Großvaters wieder aufgelegt, beide in der Übersetzung von Ulrich Kautz.

Tempel

Von Göttern und Glück-losen

Gefunden, was nicht gesucht im 13. Arrondissement in Paris

Zeichen, die Essen, Geruch, Geschmack bedeuten, aus China, Vietnam, Laos, Kambodscha und der Fisch, des guten Rufes wegen, aus Japan, weil der besonders gut sei – aus den Tiefen eines Gebäudes wird er per LKW im ganzen Land verteilt. Dann ein Gang durch einen Supermarkt, meterweise dieselben Waren, hundert verschiedene Suppentüten mit dem Aufdruck „Mama“, Hunderte Arten von Tofu, weiter hinauf in den ersten Stock, vorbei an Spielkneipen, Wettbüros, um im Olympia lackierte Ente zu essen.

Die Vietnamesin, die uns durch das Viertel führt, erzählt, dass die Nachkommen der französischen Café-Besitzer keine Lust gehabt hätten, rund um die Uhr zu öffnen, auch an Wochenenden, deshalb haben die Chinesen – oder waren es andere? Hintermänner gar? – die „Tabacs“ übernommen, der Kaffee war dann nicht mehr so wichtig. Und immer säßen darin Asiaten, aber auch Araber und Afrikaner kämen, um ihr Glück zu versuchen, gingen mit ihrer Sozialhilfe dorthin, um leichtes Geld zu machen auf die Schnelle, das müsse man sich einmal vorstellen, die Ärmsten der Ärmsten tragen hierher ihr Geld. 2018 gab es eine Petition gegen diese Glückscafés, weil die Casinos sich ausgerechnet hier angesiedelt haben, wo doch ein knappes Viertel von der Sozialhilfe lebt, so erzählt sie sich in eine leise, resignierte Wut.

Unter mächtigen Lüftungsrohren in der abgelegenen Ecke einer Tiefgarage ist ein Tempel eingerichtet, mehrere kleine Altäre sind direkt auf dem Betonboden aufgestellt, und pro Gast darf nur ein Räucherstäbchen angezündet werden. Praktisch sei der Ort, meint die Vietnamesin, die uns auch hierher führt, denn für den alljährlichen Neujahrsumzug könnten die LKWs gleich vor dem Tempel parken und die Figuren aufladen. Die Götter thronen unter mächtigen Belüftungsrohren und können nichts mehr ausrichten, so scheint es.

Weitere Texte aus Paris:

Fragen

Fragen …

… wenn sie nicht gestellt werden, ist es irgendwann zu spät.

Das habe ich gemerkt, als ich nach zwei Lesungen rund um das Buch Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern bei meinen Tanten und Onkels nachgefragt habe. Wie war das damals genau? Welche Parole hat im nächtlichen Waldspaziergang welches Leben gerettet? Wann kam wer aus dem Krieg zurück? Die Erinnerungen „stimmten“ nicht mehr, die eine erinnerte anders als der andere, die entsprechenden Dokumente gingen bei Umzügen verloren. Und dass so viel über den Krieg gesprochen wurde, wie ich es in Erinnerung habe? Nur ein Kopfschütteln. Nein, der Opa hätte zu allem geschwiegen, sei auch nicht zu den Veteranen-Treffen gegangen mit jenen, die sie die ganze Kriegszeit über drangsaliert hätten, warum auch?

Dünn und falsch also sind die Erinnerungen womöglich, wer weiß? Doch sie wirken real, sind präsent und führen ein Eigenleben …

Dreißig Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz versuchen sich zu erinnern. Deshalb werden weite historische und auch geographische Räume umspannt. Nicht weiter verwunderlich auch, dass in den deutschen Texten Vertreibung, Pogrom und das Schweigen darüber präsent sind. Doch ein wahrliches In-Erinnerung-rufen war für mich die Reminiszenz von Waseem Hussain an seine Großmutter. Denn wer erinnert sich noch an die Machtergreifung von Zia-ul-Haq, dem Nachfolger von Zulfikar Ali Bhutto, der den US-Amerikanern nicht gepasst hat? „Die Strategen in Washington machten den radikalreligiösen Generalstabschef Zia zum neuen Staatschef Pakistans und gaben ihm zig Millionen Dollar, getarnt als Wirtschaftshilfe, um die gottlosen Sowjets, wie sie sie nannten, aus der Gegend zu vertreiben. […] Wer in Pakistan regiert und wer scheitert, wird bis heute nicht allein in Pakistan bestimmt, sondern von Regierungen und Geheimdiensten in Washington, Riad und Peking.“ Und Zias geistige Erben, die Taliban und Al-Kaida, terrorisieren heute die ganze Region. Die Folgen sind bis in die Schweiz zu spüren und werden den Geflüchteten angelastet.

Wird in manchen Texten in dieser „Großelternanthologie“ belastendes Schweigen durch das Nachfragen der Enkelin gebrochen, so bei Sabine Bierich, war anderswo doch gar nie ein Schweigen, denn: „Es ist kein Geheimnis. Alle wussten das“, heißt es bei Daniela Engist. Und dass es nicht Hitler war, denen die jüdischen Verwandten in Dnjepropetrowsk zum Opfer fielen, sondern Stalins Schergen, bringt die Welt der jüdischen Gemeinde in Zürich zum Wanken, schreibt André Seidenberg.

Es ist eine besondere Qualität der Erzählungen, wie sich Weltgeschichte in die Einzelschicksale eingeflochten hat, von der dreißig Autor:innen auf ganz eigene Art erzählen, wie dreißig erste Sätze zeigen.

„Meine Großmutter Else passte nicht an diesen Ort.“
„Es ist der 30. August 2013.“
„Seltsam, wie ähnlich meine Großväter einander waren.“
„Ich bin ohne Großväter groß geworden.“
„Mein Großvater wusste nichts von mir.“
„Meine früheste Erinnerung an meinen Großvater Karl ist das unregelmäßige Klopfen seiner Krücken.“
„Es ist Sonntag.“
„Mein Großvater mütterlicherseits hieß Jakob, doch die Familie nannte ihn nur den Kobus.“
„Ma io, ero sposato?“, fragte er, als man ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau überbringt.“
„Daran, dass mein Großvater Laci 1956 wegen eines Glases Gewürzgurken fast erschossen wurde, konnte sich meine Großmutter auch dann noch erinnern, als sie bereits ihren eigenen Namen vergessen hat.“
„Mein einer Großvater war Taglöhner und Invalide, wie das damals hieß.“
„Worte fallen.“
„Ein warmer Frühlingstag auf Usedom, 1972.“
„Er hat sich hingelegt.“
„In einem großen Sessel sitzt ein kleiner Mann mit großen Ohren.“
„Wochenlang war meine Familie in Aufregung, wir kauften Geschenke, ließen uns gegen Hepatitis, Malaria und Cholera impfen, gingen zum Friseur, besorgten unsere Visa.“
„Und wieder war es so weit.“
„Nonna Miria band den weichen Gürtel um den Morgenmantel und verließ die Wohnung, trat aus dem Haus auf die Straße, wandte sich nach links Richtung Altstadt.“
„In seinen letzten Lebensjahren saß mein Großpapa Karl Hasler oft in einem Lehnstuhl in der Nähe des schwarzen Wandtelefons.“
„Da seid ihr ja!“
„Meinen Großvater Adolf, den Vater meiner Mutter, habe ich nur als kleines Kind erlebt.“
„Deine Hände.“
„Die Wochen folgen gleichförmig aufeinander, tagsüber grau und kalt, nachts schwarz und eisig.“
„Mein Großvater trug ein Totenhemd.“
„Oma Werfel?“
„Jetzt werden sie wieder sagen, eine Amsel, na gut, ein sympathischer Vogel, schwarzes Federkleid, gelber Schnabel, was soll’s, eine Amsel, pickt Würmer aus der Wiese, reißt Himbeeren vom Strauch, bevor du sie in den Mund schieben kannst, hockt im Apfelbaum und weiß genau, welche Früchte süß sind …“
„Ziegelhausen bei Heidelberg, am 13. Dezember 1967, gegen 22 Uhr.“
„Ich gestehe: Meine eine Großmutter habe ich verabscheut, zeitweise sogar gehasst.“
„Mein Großvater mütterlicherseits, der Cellist Jakob Margoler, wurde 1906 in Zürich geboren.“
„Bis zu meinem zwölften Lebensjahr war mein Großvater für mich ein ganz normaler Großvater: elegant und gut aussehend, wenn auch streng und distanziert.“

Welches Universum, welche Rätsel geben dies Sätze auf? Und vor allem eine Mission: Fragen, bevor es zu spät ist.

Wolfram Schneider-Lastin (Hg.): Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern. Rotpunktverlag 2024, 250 S eiten

PS. Auch im Roman Jahrhundertsommer geht es um eine Großmutter-Enkel-Geschichte, schließlich hält als einziger Viktor zu seiner Oma.


Todesursache Flucht

Die Menschlichkeit an Land gespült

Lektürenotiz zu Todesursache Flucht. Eine unvollständige Liste.

Das Mittelmeer ist ein Grab, die Liste mit den Namen der mehr als 50.000 Toten durchzusehen, ist buchstäblich und wörtlich zu nehmen: nervtötend. Verschwunden, ertrunken, erhängt, erschossen und so geht es in einem fort und weiter. Chancenlos der Blick ins weite Blau, schreibt Bernd Mesovic, ehemaliger Leiter der Abteilung Rechtspolitik von Pro Asyl. Warum also diese Liste? Weil nackte Zahlen uns vor der Nähe schützen, vor eventuellen Gefühlen, die wir hätten, würden wir vom Schicksal derer wissen, die hinter diesen unvorstellbaren Zahlen stehen. Und diese Liste verspottet zugleich die hehren und heuchlerischen Werte Europas, das auf bestem Weg ist, zu einer Festung zu werden, sich damit auch den Zugang zu ihren eigenen Werten zu verbauen. (Was passiert eigentlich mit den Menschen hinter diesen Festungsmauern, womöglich wollen und müssen sie eines Tages aus dieser Festung ausbrechen, die manche Politiker derzeit als Ideal und Ziel propagieren?) Und so schreibt auch der Autor Abdel Wahab Yousif, der aus dem Süden Sudans stammt, in seinem Gedicht „Andere Zeit“, dass es viel mehr Wildheit brauche, „mehr Entschlossenheit gegen den Griff der Verwüstung / der unseren letzten Atem auspresst.“ Am 15. August 2020 besteigt er mit vielen anderen ein weißes Schlauchboot. Die Odyssee seiner Fahrt, das Hin und Her zwischen Küstenwache und erpresserischen Männern, zwischen haushohen Wellen und vergeblichem Alarmieren des Alarm Phones ist nur eine von vier in jener Nacht …

Zahlen über Zahlen also, aber auch Geschichten und Porträts, die von der Verzweiflung und den Träumen erzählen jener erzählen, die sich aufgemacht haben in ein vermeintlich besseres Leben und nie angekommen sind.

Kristina Milz und Anja Tuckermann zeichnen z.T. verantwortlich für diese Liste, die seit dreißig Jahren vom europäischen Netzwerk UNITED fortgeschrieben wird, hier nachzulesen.

Kristina Milz, Anja Tuckermann (Hg.): Todesursache Flucht. Eine unvollständige Liste. Hirnkost-Verlag, 2023, 858 Seiten.

Ein Hörbuch erschien im Verlag Der Diwan, gesprochen von mehr als 50 Schauspielerinnen und Schauspielern, Autoinnen und Autoren.

*Ist es nicht bezeichnend? Dass ausgerechnet der Hirnkost-Verlag wie so viele andere kleine, engagierte Verlage dieses Jahr in ernsthafte finanzielle Not geriet und im Juni zu einer Spendenaktion aufrief, die glücklichweise erfolgreich war und hoffentlich ein Weile lang das Verlagsschiff durch sicherere Gewässer gleiten lässt.