Die Journalistinnen Sabine Bitter und Nathalie Nad-Abonji haben die Hintergründe dieser Aktion recherchiert.
Es gibt meines Wissens bereits zwei Doku-Filme über tibetische Kinder, die von Schweizer Familien adoptiert wurden. Warum jetzt noch ein Buch?
Uns hat – über die in den Filmen dokumentierten Einzelschicksale hinaus – interessiert, wie es dazu kam, dass eine initiative Privatperson praktisch losgelöst von einer behördlichen Aufsicht 160 außereuropäische Kinder und Jugendliche in die Schweiz holen und diese nach eigenem Gutdünken bei Pflegefamilien unterbringen konnte. Wir wollten mehr wissen über die politische und juristische Dimension dieser Geschichte. Deswegen haben wir nicht nur Gespräche mit ehemaligen Pflegekindern und deren Angehörigen geführt, sondern haben in Archiven recherchiert und viele unbekannte Fakten zu Tage gefördert. Die Rahmenbedingungen dieser Aktion zu erhellen, ist wichtig, weil die jungen Tibeterinnen und Tibeter damals zur ersten Gruppe von außereuropäischen Kindern überhaupt gehörten, die in unser Land geholt wurden. Sie stehen am Anfang der Schweizer Auslandsadoptionen, die ein hochproblematisches Kapitel der Fremdplatzierung ausmachen, das bisher nicht aufgearbeitet worden ist. Und nicht zuletzt hat uns auch die Position des Dalai Lama in der Aeschimann-Aktion interessiert.
Vom damaligen Standpunkt aus gesehen, war die Aktion des Schweizer Charles Aeschimann begrüßenswert. Können Sie kurz skizzieren, wie es zu dieser Hilfsaktion kam, zumal zeitgleich in der Schweiz noch immer Verdingkinder in schwierigen Verhältnissen lebten und auch die Kinder der italienischen Gastarbeiter keinen legalen Status hatten.
Der Oltner Industrielle lancierte 1959 die Idee, tibetische Flüchtlingskinder aufzunehmen. Dies nachdem der Dalai Lama nach seiner Flucht aus Tibet nach Indien die westliche Welt darum gebeten hatte. Dank guter Beziehungen gelang es Aeschimann, einen direkten Kontakt zur Familie des Dalai Lama herzustellen. Als Erstes schlug er ein Tibeter-Haus im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen vor, wofür er selbst Mittel aufbrachte und ein finanzielles Risiko in Kauf nahm. Das Haus konnte bald gebaut und das Projekt schnell realisiert werden. Der Dalai Lama zeigte sich dankbar und erfüllte zugleich Aeschimanns Wunsch, selbst ein tibetisches Kind zu bekommen. Die Ankunft des Jungen und auch der kleinen Tibeterinnen und Tibeter, die ins Pestalozzi-Dorf zogen, löste ein enormes Medienecho aus. Viele Ehepaare und Familien meldeten sich danach bei Aeschimann, weil sie auch ein „Tibeterli“ aufnehmen wollten. So kam es, dass Aeschimann mit der Vermittlung von Pflegekindern begann. Die Aufnahme tibetischer Flüchtlingskinder war ein humanitäres, im Kalten Krieg aber auch ein politisches Statement, hatten sie doch vor den chinesischen Kommunisten flüchten müssen. So hatte man bereits 1956 auch die Ungarnflüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Mit der Aufnahme eines italienischen Saisonnierkinds, das in der Schweiz illegal im Versteckten leben musste, oder einem Kind, das auf einem Bauernhof verdingt war, hätte sich kein medial wirksames, antikommunistisches Statement verbinden lassen.
Es war von einer Aktion für tibetische Waisenkinder die Rede, doch die meisten Kinder hatten zumindest noch einen Elternteil, manche Eltern wurden gar nicht gefragt, zumal die Entscheidungen von Mönchen und dem Dalai Lama ohnehin nicht zu hinterfragen waren. Wie wurden die Kinder ausgewählt, die in die Schweiz reisen durften und später als gut ausgebildete Tibeter zurückkehren und ihrem Volk helfen sollten, wenn es denn eines Tages zurück nach Tibet gehen würde?
Die Kriterien, nach denen die Leitung des Heims – also maßgeblich die ältere Schwester des Dalai Lama, Tsering Dolma – die Kinder für die Pflegefamilien auswählte, sind nicht klar zu benennen und nirgends dokumentiert. Es spielte offensichtlich in einigen Fällen eine Rolle, ob die Kinder zur Tanzgruppe des Heims gehörten, musikalisch waren und sich gut bewegen konnten. Der Mönch, der damals mithalf, die Kinder auszusuchen, sagte uns in einem Gespräch 2015, er habe den Kindern auch einfach ins Gesicht geschaut und so versucht herauszufinden, ob sie eine schnelle Auffassungsgabe besaßen, lernwillig und wissbegierig waren. Anderen Kindern wurden Fotos und Postkarten aus der Schweiz gezeigt. Dann wurden sie gefragt, ob sie dahin möchten. Oder die Mädchen und Jungen wurden nach ihrem Berufswunsch gefragt, und wenn dieser zufällig zum Beruf eines Pflegevaters passte, hatte das Kind eine größere Chance, genau in dieser Familie platziert zu werden. So kam beispielsweise ein Kind, das angab, Arzt werden zu wollen, in eine Medizinerfamilie. An dieser Stelle manifestierten sich aus unserer Sicht auch die unterschiedlichen Interessen von Charles Aeschimann und dem Dalai Lama: Aeschimann wollte möglichst kleine bzw. junge Kinder in die Schweiz holen, die sich hier schnell zurecht fanden. Während der Dalai Lama ein Interesse daran hatte, wesentlich ältere Kinder in die Schweiz zu schicken, die bereits so stark von der tibetischen Kultur geprägt worden waren, dass sie später zurückkehren würden.
Wie beurteilen Sie selbst die eher paternalistische Haltung des Industriellen Charles Aeschimann, der damals sowohl die Zusammenarbeit mit kompetenten Hilfsorganisationen wie dem Schweizer Roten Kreuz verweigerte als sich auch die Einmischung von Behörden verbat?
Charles Aeschimann war durch und durch ein Macher, der es gewohnt war, dass andere sich nach seinen Ansagen richten. Hinzu kamen seine exzellenten Verbindungen in Politik und Wirtschaft, die er geschickt zu nutzen wusste. Wohl auch mit dem Anspruch, sich humanitär zu engagieren. Wie sich beispielsweise an seiner Initiative für die beiden Tibeter-Häuser im Pestalozzidorf ablesen lässt. Allerdings verfügte er weder über pädagogische noch über entwicklungspsychologische Kenntnisse. Hinzu kam, dass seine Aktion, wie bereits erwähnt, weitgehend losgelöst von behördlicher Kontrolle war. Und das war von ihm durchaus so gewollt.
Welche Motivationen steckten hinter den Adoptionen, nicht alle Tibeter waren „glücklich“, auch weisen Sie auf die relativ hohe Suizidrate unter diesen Kindern und später Jugendlichen hin.
Nur ein Teil der „Aeschimann-Kinder“ wurde adoptiert. Und wenn, oft erst Jahre später. Hinter der Pflegekinder-Aktion standen widersprüchliche Interessen. Und gerade dies hatte für viele Tibeterinnen und Tibeter eine große psychische Belastung zur Folge. Die Pflegeeltern, die ein tibetisches Kind aufnahmen, wollten eine Familie gründen oder die bestehende erweitern. Der Dalai Lama aber vermittelte die Kinder nur auf Zeit: Sie sollten der tibetischen Kultur und dem Buddhismus stark verbunden bleiben und dereinst nach einer möglichst guten Ausbildung als hochqualifizierte Elite in ein befreites Tibet, so die Hoffnung, zurückkehren. Es zeigte sich aber bald, dass dieses politische Bildungsprogramm nicht aufging: Die Mädchen und Knaben kamen als traumatisierte Flüchtlinge und Heimkinder in die Schweiz, waren oft schon im Schulalter, konnten aber noch nicht lesen und schreiben. Sie standen von Anfang an unter einem hohen Anpassungsdruck, sich möglichst schnell zu integrieren, in der Schule und Ausbildung erfolgreich zu sein, um dereinst die Ansprüche des Dalai Lama zu erfüllen und zurückzukehren. Spätestens in der Pubertät kam es bei vielen zu außerordentlich schweren Krisen. Viele Pflegeeltern waren denn auch überfordert. Sie erwarteten, dass die jungen Leute die Bildungschance dankbar ergreifen und „etwas aus sich machen“. Die Jugendlichen standen in einer Zeit, in der sich in der Schweiz nach 1968 autoritäre Strukturen aufzulösen begannen, unter einem Bildungsdiktat und waren zudem von religiös geprägten, ungewohnt autoritären Anweisungen ihrer leiblichen Eltern, die sich aus der Ferne meldeten, konfrontiert. Mit der Herkunftsfamilie konnten sie sich aber nicht angemessen verständigen, denn die jungen Leute konnten kein Tibetisch mehr. Viele fühlten sich so hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen, entwurzelt und psychisch unter Druck. Manche konsumierten Drogen, andere wurden krank. Dass es in dieser Community spezifische Probleme und einen Zusammenhang zu einer hohen Suizidrate gibt, wurde bereits in einer früheren Studie (Brauen/Kantowski) in den 1980er-Jahren belegt und muss aufgrund unserer Recherchen bestätigt werden.
Wie sehen die betroffenen Tibeter-Kinder die Aktion heute?
Ihre Sicht auf die Aktion ist sehr unterschiedlich, da sie alle mit unterschiedlichen Voraussetzungen (Herkunft, Alter, Bildungsstand etc.) in die Schweiz kamen, wo sie auf sehr unterschiedliche Verhältnisse in den Pflegefamilien trafen. Davon ist auch ihre heutige Sicht auf die Aktion geprägt. Wir kennen Fälle, in denen Kinder schwer krank in die Schweiz kamen und hier behandelt oder gar geheilt werden konnten. Da ist auch heute noch eine große Dankbarkeit gegenüber dieser als Chance bewerteten Aktion zu spüren, im Bewusstsein, dass sie unter Umständen im indischen Exil nicht überlebt hätten. Darüber hinaus gibt es eine Reihe ehemaliger Pflegekinder, die sich in der Schweiz beruflich verwirklichen konnten, wie es in Indien kaum möglich gewesen wäre. Aber wir haben auch mit zahlreichen «Aeschimann-Kindern» gesprochen, die sich bis heute entwurzelt und nirgends heimisch fühlen. Oft berichteten sie auch davon, sich sogar in der tibetischen Exilgemeinschaft fremd zu fühlen, weil sie, im Gegensatz zu anderen Exil-Tibetern, die Sprache nicht sprechen und die Bräuche nicht kennen. Teilweise beeinträchtigt dieses Gefühl der Entwurzelung bis heute die Lebensqualität der Betroffenen sehr.
Sabine Bitter, Nathalie Nad-Abonji: Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann. Rotpunkverlag, 240 Seiten, 38 Franken.