Tschoir – ein Unort

Die Silbe mitsamt der Konsonanten hart ausstoßen und wieder einsaugen – das könnte der korrekten Aussprache dieses Ortes nahekommen; der Reiseführer empfiehlt, nur zum Tanken anzuhalten, mehr sei hier nicht zu sehen. Dieser Unort also, wie ich ihn für mich nenne, wird an diesem Freitagnachmittag heftig aufgewühlt von lauwarmen Sturmböen, die Staub und Plastiktüten vor sich hertreiben, erst recht zwischen den flachen Nebengebäuden des örtlichen Krankenhauses. Dort werden wir empfangen vom Gesundheitsverantwortlichen des hiesigen Aimag, der sich jedoch wegen weiterer Verpflichtungen sogleich entschuldigt, dem Chefchirurgen, dessen rechte Hand seltsam zuckt, und dem IT-Spezialisten des Krankenhauses.

Im Ort fallen die älteren Häuser auf, weil sie einen Holzanbau haben und die Fensterrahmen auf eine Weise gefertigt sind, wie man sie in Europa kennt. Dies ist vermutlich zurückzuführen auf die Russen, die weiter nördlich einen unterirdischen Flughafen für ihre Kampfjets angelegt hatten. Heute liegt die mit 25 Kilometern längste Landebahn der Mongolei verlassen da, besichtigt werden darf sie trotzdem nicht.

Von der seit Jahrhunderten geopolitisch bedeutsamen Rolle des Ortes zeugt heute allerdings nur noch die Bahnverbindung: Die transsibirische Eisenbahn fährt hier zwei Mal die Woche durch, in 400 Kilometer Entfernung liegt die chinesische Grenze. Und dass japanische Truppen über ihren Vasallenstaat Mandschukuo hierherkamen, um in den Norden Chinas vorzudringen, darauf deutet eine Statue im Niemandsland hin: gefallene Mongolen im siegreichen Kampf gegen die japanischen Imperialisten. Dahinter erhebt sich der neuere Teil der Stadt: Wohnblocks, gegen die Winterkälte abgeriegelt, und nur in den inneren Zirkeln sieht man Werbetafeln, die u.a. auf einen Minimarkt hinweisen, einen Frisörsalon, ein Hotel.
Später betreten wir in der „alten Stadt“ ein Gebäude, vor dem ein Lautsprecher in Endlosschlaufe vermutlich Waren anpreist. Üppige Frauen stehen hinter spärlich ausgelegten Waren, BHs, Blusen aus Polyester. Makrelen im Glas werden uns angeboten, laut Etikett kommen sie aus Russland. In einem großen Saal mit ausgetretenem Parkett stehen ein paar Tische, dahinter sitzen Frauen und kreischen in einem fort. Nur was sie sagen, verstehen wir nicht, deuten vielleicht auch das Lachen in ihren feisten Gesichtern falsch, verlassen jedenfalls eilig wieder den Saal, treten hinaus in den staubigen Wind, der zugenommen hat. Die Windräder an den Straßenlaternen, die zudem mit Solarpanels ausgestattet sind, surren wild und so schnell im Kreis, dass man die einzelnen Flügel nur wie ein verwischtes Segel sieht.
Der Weg zum Bahnhof ist ein dröger, im Internet-Café sitzen Kinder vor Computern, die buntblinkende Gegenstände über den Bildschirm jagen, weit und breit kein Erwachsener. Vermutlich die einzige Art von Kinderbetreuung hier während der dreimonatigen Sommerferien. Vor einem Geschäft spricht uns eine Frau an. Sie öffnet ein halbhohes Gefäß aus Aluminium, lupft das angegraute Leinentuch und sagt: Busz. Gedämpfte Teigtaschen. Wir lehnen dankend ab. Den Sanddornsaft, den ich soeben gekauft habe, stelle ich nach dem ersten Schluck in eine Ecke, er schmeckt vergoren, wer weiß, wie lange das Ablaufdatum schon zurückliegt. Ich kann die Ziffern nicht zuordnen. Auf dem Rückweg kommen wir an einer Kirche vorbei, was man daran erkennt, dass in den viereckigen Bau zur Straße hin ein Kreuz in die Betonwand geritzt worden war.

Nichts an diesem Ort entspricht dem Mongolei-Bild aus Reisekatalogen. Keine Weidelandschaft, keine Pferde, Rinder, Schafe. Doch es ist die Vergänglichkeit, die einen von überallher anweht, dieses vollkommene Nichtverstehen, die erfolglose Dechiffrierung, die bleibt, und eben keine Hochglanzbilder.

Am Nachmittag holt uns der Klinikchef im Hotel ab, der uns Stunden zuvor als Chefchirurg vorgestellt worden war, und wir fahren etwa eine Stunde lang zuerst auf einer asphaltierten Straße, dann einfach mitten hinein in eine Steppenlandschaft, in der sich Felsen kegeln. Hinter zwei mit blauen Khadags umwickelten Pfosten versteckt sich die weiße Tara. Und der Chefchirurg, belassen wir es bei dieser Bezeichnung, mit seiner Frau und seinem Begleiter, der ein schwarzes T-Shirt mit goldenem Masarati-Logo trägt, zeigt uns ein Foto aus dem Jahr 1912, auf dem eine riesige Klosterstadt abgebildet ist. Hier lebten bis in die zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts 1500 Mönche, doch unter sowjetischem Einfluss wurde die Anlage zerstört. Keine Ruine, kein einziger Stein mehr ist zu sehen, nur hier und da verraten dunkle Grasnarben vielleicht Spuren der einstigen Grundmauern.

Als der Tag dämmert und oben am Himmel Geier ihre Kreise ziehen, wird der Kofferraum geöffnet und das Hammelfleisch herausgeholt, Pferdedung gesammelt, angewärmte Steine zusammen mit dem Fleisch und ein paar wenigen Kartoffeln in einen Dampfkochtopf getan. Und dann sitzen wir am Boden auf einer Plastikdecke mit dem Klinikchef, der stolz darauf ist, uns dieses typisch mongolische Gericht auf diese typisch mongolische Weise anbieten zu können samt dem Wodka, den er großzügig ausschenkt. Noch stolzer ist er später, als er in halsbrecherischer Geschwindigkeit mit seinem Toyota durch die bizarre Feldlandschaft rast und uns die seltenen Angali-Schafe zeigt. Die Landschaft ringsum sieht aus, als hätten Götter zum Zeitvertreib mit Felsen geworfen, um zu sehen, wer wohl der Stärkste sei. Zuletzt fahren wir zur Quelle Nordon, deren säurehaltiges Wasser gut gegen sämtliche Krankheiten sein soll.
Jeder Mongole, so hörte ich später in einem Dokumentarfilm, sei im Grunde seines Herzens ein Nomade, egal, wie städtisch und modern er sich gebe. Am nächsten Tag fragt unser Begleiter, als er schon Richtung Norden abgebogen war, ob dies die Straße nach Ulaan Bataar sei? Zuerst meinen wir, er mache einen Scherz, doch es ist ihm ernst und er will schon umdrehen. Offenbar scheint so manchem modernen Nomaden dann doch den Orientierungssinn abhanden gekommen zu sein.