Endlich ist das Glück

Im Mitteldeutschen Verlag ist wieder ein vietnamesischer Band in wunderbarer Ausstattung und mit eigenwilligen Erzählungen erschienen.

Auf den ersten Blick irritieren die Dorf-Geschichten der vietnamesischen Autorin Nguyen Ngoc Tu, denn warum irrt ein vietnamesischer Bauer auf der Suche nach seiner Tochter zwölf Jahre durchs Land, meint er tatsächlich, er findet sie, indem er sich einer Schauspieltruppe anschließt? Und warum grämt sich ein älterer Inselbewohner, weil ein junger Arzt – ohne Abschied zu nehmen -, das Dorf wieder verlässt, weil es ihm nichts zu bieten hat?

Auch von enttäuschten Lieben hat man schon gelesen … Aber dann werden die Geschichten immer kantiger, die Existenzen, vor allem diejenigen der Frauen, immer fragiler. Warum nur?

„Die Männer auf dem Land … betranken sich ständig, sie bedienten sich gern ihrer Fäuste und Füße, um ihre Machtstellung zu wahren. Erschöpft von der Arbeit auf den Feldern, waren diese Männer ausgelaugt, ihre Herzen verknöchert; oft hatten sie ein ganzes Leben lang kein liebes oder auch nur freundliches Wort für ihre Frauen übrig. Sie waren nicht fähig, zärtlich zu sein, sie zu umwerben …“,

erklärt die Protagonisten in der titelgebenden Erzählung „Endlose Felder“ das Verhalten ihres Vaters und damit auch die Misere der Bauern und Entenzüchter, die im Mekong-Delta an Land oder zu Wasser ein ärmliches Dasein fristen. Schonungslos berichtet die Autorin von dieser Armut, die eine junge Frau dazu bringt, ihr Kind auszusetzen, Männer ihre Frauen zu schlagen, Frauen ihre Männer zu verlassen, Kinder ihre Eltern zu fürchten.

Und damit handelt sie sich die Kritik des Parteikomitees ein, denn in Vietnam ist Literatur noch immer einem sozialistischen Realismus verpflichtet. Zwar stelle die Autorin das Leben auf dem Land realistisch dar, doch statt die Ausweglosigkeit der Bevölkerung zu zeigen, hätte sie gut daran getan, den Geschichten eine positive Wende zu geben und auf die Möglichkeiten hinzuweisen, die die vietnamesische Gesellschaft durchaus biete. Daher seien die „Geschichten auch untypisch für die Zustände auf dem Land und in Vietnam“, so zitieren die Übersetzer Günter Giesenfeld und Marianne Ngo die Regierungskritik in einem ausführlichen und fundierten Nachwort.

Herkömmliche Dorfgeschichten also sind es mitnichten, diese Erzählungen, die Erfüllung in der Liebe verwehren, in denen sich jeder traurig seinem Schicksal ergibt und der Zerfall der Familie unausweichlich scheint. Von Traditionen ist nirgendwo die Rede, vielmehr von Entwurzelung, dafür stehen auch die nomadisierenden Entenzüchter, die sich auf wackligen Kähnen nur mit Müh und Not buchstäblich über Wasser halten.

Und damit bin ich bei weitaus beeindruckenderen Merkmalen dieser Texte: Obwohl sie lokal zu verorten sind – im Süden Vietnams – und sich auch zeitlich fixieren lassen – von der Vogelgrippe ist die Rede, der ganze Entenherden zum Opfer fallen, von schmutzigem Wasser in einem Kanal, von einem alten Bombenkrater, in dem Menschen baden –, so sind die Erzählungen zeitlos. Sie stehen für viele Gegenden in dieser Welt, in der auf Landflucht Verarmung und soziale Verrohung folgt. Letztlich ist es die Zeitlosigkeit dieser Szenografien, die bleibt und verstört.

Der Autorin wird dieses Jahr der LiBeraturpreis verliehen und auf der Frankfurter Buchmesse 2018 überreicht.

Nguyen Ngoc Tu: Endlose Felder. Erzählungen. Aus dem Vietnamesischen von Günter Giesenfeld und Marianne Ngo, 272 Seiten, Mitteldeutscher Verlag, 24.95 Euro.

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