Zwei Bauern mit Spitzhüten auf Reisfeldern, einmal vor grünem, blauem und orangefarbenem Hintergrund. Es muss 1972 gewesen sein, als ich diese kleinen gezackten Gemälde ganz nah vor meine Augen gehalten habe, um die Szenerie genauestens zu inspizieren, gänzlich versunken in diese Welt. Wo das sei, fragte ich meinen Vater, an den diese Briefe adressiert waren. Vietnam, ein Land im Krieg, furchtbar, wo die Kinder Hunger leiden und den ganzen Tag nichts als Reis zu essen bekommen. Reis? Das sei doch meine Lieblingsspeise, könnte ich jeden Tag essen, wochenlang, rief ich begeistert. Na vielleicht warst du in einem früheren Leben ja einmal ein vietnamesisches Waisenkind.
So oder so ähnlich mag sich meine erste Begegnung mit Vietnam zugetragen haben. Später gesellten sich zu den Briefmarken TV-Bilder von Kampflinien, die in diese und in jene Richtung verschoben wurden, von Flugzeugen, die Bomben abwarfen, von Listen, die Gewinne und Verluste aufzählten, vom legendären letzten Hubschrauber, der von der amerikanischen Botschaft in Saigon abhob.
Und wieder ein paar Jahre später ausgelaugte Kindergesichter von Bootsflüchtlingen, zusammengepfercht auf kleinen Booten, Spendenaufrufe. Die Zusammenhänge sollte ich erst viele Jahre später verstehen, als das Land als eines der fünf aufstrebenden Tiger zum Sprung über den asiatischen Tellerrand ansetzte.
Doch jenseits der ökonomischen Schlagzeilen stieß ich eines Tages bei Recherchen auf einen Text von Peter Weiss, der den Finger auf die Flüchtlingswunde legte – schon damals, als die Bilder von den ausgemergelten Vietnamesen in deutsche Wohnzimmer strahlten. Viel würde berichtet über die vietnamesischen Flüchtlinge, die es nur knapp geschafft hätten. Irgendwie. Kein Wort aber verloren über jene, die gestorben, vergewaltigt und übel zugerichtet worden seien, über diese Tragödien im südchinesischen Meer. Schon viel früher hatte ein amerikanischer Autor über thailändische und burmesische Piraten geschrieben, die die Ärmsten der Ärmsten ausraubten und dem Meer übergaben, wochenlang die Frauen für sich schuften ließen und sie in die Wellen warfen, wenn sie ausgedient hatten. Ein Land wurde in den Wahnsinn getrieben, da versprochene Hilfsleistungen ausgeblieben waren, wo doch gerade die USA Wiedergutmachung zu leisten hätten und dem Land beim Wiederaufbau helfen müssten, doch es passte nicht zum Zeitgeist des Kalten Krieges, erklärte Peter Weiss später, ein kommunistisches Regime zu unterstützen, stattdessen berichtet man lieber über dessen Opfer. Stimmen, die Jahrzehnte später vollkommen verstummt waren, da westliche Unternehmer mit der kommunistischen Partei Geschäfte machen wollten, wie sie es schon mit dem nördlichen Nachbar getan hatten.
Heute wird das Land angeboten als „Top-Destination“ in Reisekatalogen, ja es gilt als eines der beliebtesten asiatischen Reiseziele, und Traveller können es in nur zehn Tagen „machen“. Nun war es opportun, terrassierte Reisfelder anzupreisen, kilometerlange Badestrände und die vietnamesische Küche. Dass der vermeintliche Wohlstand, der Aufschwung auf dem Rücken der armen Bevölkerung ausgetragen wurde, Enteignungen im großen Stil durchgeführt wurden, dass die wirtschaftliche Erneuerung – Doi Moi – einherging mit der Beschneidung einfacher Grundrechte wie Meinungsfreiheit, bekamen Schrifsteller und Blogger zu spüren, deren Worte bald zensiert wurden, die selbst oft genug hinter Gitter landeten. Kritisierten Politikern indes gelang es stets, ihre Haut zu retten.
Ein kriegsversehrtes, traumatisiertes Volk, möchte man meinen, wenn man die Berichte westlicher Reisender liest, doch keiner konnte wirklich erfassen, was all die Greuel wirklich bedeuteten für die „vietnamesische Seele“, davon können nur vietnamesische Autoren jenseits der wie auch immer gearteten Schwarz-Weiß-Malerei erzählen. Wo liegt die Wahrheit? Irgendwo dazwischen. Wie immer.
Das Faszinosum Vietnam hat mich nie losgelassen, erstaunlich nur, dass ich so viele Jahre verstreichen ließ, bis ich selbst hinfuhr. Die Spuren des Krieges waren tatsächlich auch nach mehr als 40 Jahren noch überall zu sehen, gleichwohl überraschte der scheinbar selbstverständliche Umgang mit der Vergangenheit und auch das Selbstbewusstsein und die Offenheit dieses Volkes. Was bleibt ihm anderes übrig, rätselte ich. Trotz der Schmach weiterleben, vor allem Ende der 70er-Jahre ums nackte Überleben kämpfen, als die Hungernot grassierte und Vietnam zu einem der ärmsten Länder der Welt zählte.
Doch dann, bei einer Wanderung durch die Bergwälder im Norden, vorbei an verlassenen Gebäuden, die wohl noch aus der Kolonialzeit stammten, den Blick über weite Teeplantagen, die bis zum Horizont reichten, der im Nebel verschwand. Angekommen, dachte ich. Und mir fielen die Briefmarken aus meiner Kindheit wieder ein.
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