Jahrhundertsommer

Magda, DIE Frauenfigur dieses Literaturjahres …

… schreibt die Literaturvermittlerin Birgit Böllinger in ihrer Rezension zum Roman Jahrhundertsommer.

„Es ist eine Stärke dieses Romans, dass er Figuren nahebringt, die zu Menschen werden. Man muss sie nicht mögen, sie haben ihre Schwächen, ihre dunklen Seiten, Viktor, der Typ, der sich einfach hängen lässt, Ursula, die sich in Glückserwartung an den jeweils greifbaren Mann hängt, Magda, die ihre Schroffheit an Ellen auslebt. Doch sie werden so nah- und greifbar geschildert, dass sie förmlich aus dem Buch heraustreten. (…)
Das bewirkt auch die Sprache: Nicht literarisch überhöht, direkt, mit leisem Humor, viel Mutterwitz und dezent eingestreuten Mundart-Sprengseln. (…)
„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman, der durch die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen verschiedene gesellschaftliche Themen anspricht, ohne überfrachtet zu wirken: Alleine Magda führt uns vor Augen, was Armut, gerade auch Altersarmut bedeutet – und dass sie, sowohl in der Literatur als auch im „echten Leben“ nicht wegzuleugnen ist.“


Zusammenfalten der Zeit

Walle Sayer und die Zeit

Wenn Zeiten sich ineinanderschieben und überkreuzen – davon schreibt Walle Sayer in seinem jüngsten Band „Das Zusammenfalten der Zeit“. In der Kindheit werden letzte Brosamen aufgelesen, in der Jugend geht es laut zu und her, mit Mofas und zerbeulten Autos über Landstraßen, später dann sinniert der Lyriker über den Abschied vom Vater und dessen Sterben. Und der Frage: „Wo sind wir selbst geblieben“?

Schon einmal habe ich über Walle Sayer geschrieben, und zwar für das literaturblatt.ch; die Rezension zum aktuellen Band wurde in der orte Literaturzeitschrift, Mai 2023, veröffentlicht. Das Buch selbst ist erschienen in der Edition Klöpfer bei Kröner.

Rabe

Raben

Irgendwann, eines Nachmittags vielleicht, hob draußen ein dunkles Getöse an. Undefinierbarer Lärm. Ich stand auf, trat auf den Balkon, suchte nach der Geräuschquelle. Unten hockten schwarz berockte Geschöpfe auf einem kreisförmigen Haufen, als hätten sie etwas Überlebensnotwendiges zu bereden, so laut ging es zu und her.
Daraus entstand dieser kleine Text, den die Illustratorin Theres Rütschi treffend illustrierte.

Aus dem Alltag

Der Text ist schon einmal unter meinem Pseudonym erschienen, womöglich war es der erste, mit dem ich mich überhaupt an die Öffentlichkeit traute?

Pema Tseden

RIP Pema Tseden

Ein wichtiger tibetischer Filmemacher

Das erste und letzte Mal traf ich Pema Tseden 2007 in Peking. Da sprachen wir über seine Erzählungen, die er auf Tibetisch schrieb und selbst ins Chinesische übersetzte – ein rundlicher junger Mann mit Nickelbrille, voller Elan und Zuversicht, die beiden Welten und Kulturen, die tibetische und chinesische, in seinen Filmen und Texten schon irgendwie zusammenbringen zu können.

Vielleicht war er deshalb vielen jungen Tibetern, vor allem Filmemachern, so wichtig? Sie sahen genau hin, wenn ein neuer Film von ihm erschien, tasteten die Filme nach verdächtigen Spuren der Kollaboration ab. Integer schien er jenen, die ihn trafen. Immerhin war er der erste Tibeter mit einem Abschluss der Filmakademie in Peking. Doch später, 2016, traf auch ihn der Fluch der chinesischen Regierung; er wurde unter einem Vorwand am Flughafen in Xining verhaftet und körperlich misshandelt.

Für seine Filme, die erstmals durchweg auf Tibetisch gedreht wurden, erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, in Hongkong wurde man bald auf ihn aufmerksam, nach Locarno wurde er eingeladen, wurde mir erzählt und von Begegnungen mit diesem unaufdringlichen, wachen Geist.

Bevor er als Filmemacher bekannt wurde, hörte ich von seinen Erzählungen und seinem Roman Tharlo. Für die Anthologie Flügelschlag des Schmetterlings bat ich den Übersetzer Franz Xaver Erhard um die Erzählung „Schneekinder“; ein wunderschönes modernes Märchen, das u.a. vom Einsickern der Moderne erzählt, denn am Ende soll das Herz der tibetischen Kultur an Ausländer verkauft werden. Um sich diesem Schicksal zu entziehen, fliehen die Kinder in die Berge, wo – so der letzte Satz – „weiß und erhaben der vergletscherte Gipfel über dem Land leuchtete.“

Als ich das erste Mal vom Tod Pema Tsedens erfahren habe, glaubte ich noch an einen Irrtum, konnte es nicht glauben, denn er war doch noch jung, viel jünger als ich, so hatte ich ihn in Erinnerung. Erst als die zweite, dritte Meldung mich erreichte …

Ein wichtiger Influencer, würde man heute sagen, ist mit ihm von uns gegangen, einer, der als Erzähler und Filmer der modernen tibetischen Kultur wichtige Impulse gab.

Weitere Infos auf Wikipedia und bei Words Without Borders.

Scheherazades Erben

Tödlicher Reigen

Lektürenotiz zu „Scheherazades Erben“ von Hussein Mohammadi

Die Hauptgeschichte ist rasch zusammengefasst: Ein Mädchen verliebt sich in einen Jungen aus dem Nachbardorf, obwohl sie bereits ihrem ungehobelten Cousin versprochen ist. Die beiden fliehen, Vater und Onkel entdecken sie schon anderntags in Kabul, der Junge wird getötet. Es sind indes die Nebengeschichten, die den Charme dieses Romans ausmachen: Eine Figur reicht den Erzählstab an die nächste weiter, und so entspinnt sich ein Fadengeflecht aus Geschichten, das sich engmaschig über Kabul legt.

Der Polizeiinspektor z.B. macht seinem alten Kampfgefährten – dem Onkel des Mädchens – einen Gefallen, nur unwillig zwar, denn mit Ehrenmorden will er nichts zu tun haben. Immerhin gebe es in Kabul mittlerweile ein Rechtssystem, grummelt er, das er selbst jedoch permanent mit Erpressungen durchlöchert. Von seinen zahlreichen falschen Entscheidungen kriegt er Knoten im Kopf, die er nicht lösen kann. Stattdessen trinkt er lieber Tee, knackt Sonnenblumenkerne und überlegt, wie er jede Situation zu seinem Vorteil ausnutzen kann.

Der Vater des geflohenen Mädchens aber – ihm bleibt wenig. Als er sich einmal gegen die Steinigung eines Mädchens wehren, ja einschreiten möchte, läuft er Gefahr, gleich selbst vom geifernden Mob getötet zu werden. Auch seine eigene Tochter kann er nicht retten vor dem Zugriff der bigotten Verwandtschaft, die auf Wiederherstellung der Ehre pocht. Wenn er mithilft, seine Tochter zu finden, so verspricht es ihm der Bruder, werde seine Tochter „nur“ getötet, nicht gesteinigt. Ein schwacher Trost, mit dem er sich nicht recht zufriedengeben will; doch irgendetwas regt sich nun ihm, auch wenn da zunächst nur ein winziges Flämmchen Widerstand in ihm lodert.

Ein weiteres, nicht minder interessantes Detail ist die Verdienstquelle des Onkels. Als Dank dafür, dass er die Nachbardörfer mit seiner eigenen kleinen Terrorgruppe vor Überfällen schützt, erhält er wertvolle Gegenstände – Schmuckstücke, Skulpturen, Truhen -, die er vor den Talibans versteckt, obwohl er sich ihnen angeschlossen hat. Später verkauft er sie für viel Geld an ausländische Experten.

Eine Geschichte, wie man sie aus Afghanistan kennt, aus den Medien, aus der Literatur. Ein Klischee? In Kabul tragen sich viele solcher Geschichten zu, es ist nur eine von vielen – mit diesen fast lakonischen, ja geradezu desillusionierenden Worten endet der Autor diesen tödlichen Reigen.

«Morgen wird sich diese Geschichte in ganz Kabul herumgesprochen haben. Sie wird zu einer weiteren Geschichte geworden sind, die dieses Land zu erzählen hat.»

Hussein Mohammadi: Scheherazades Erben. Aus dem Persischen von Sarah Rauchfuß. Edition Bücherlese, 2023, 176 Seiten.

Am Fusse des Kavulungan

Eine philosophische Reise in den Süden Taiwans

Ein Schülerin wird von ihrem buddhistischen Meister weggeschickt: um die richtige Art des Sehens zu erlernen, um weiterzukommen im Leben – im buddhistischen Sinne; ein bekanntes Motiv in der ostasiatischen Literatur. Damit beginnt auch die taiwanische Autorin Lung Ying-Tai ihre „philosophische Reise“, so der Untertitel ihres jüngst auf Deutsch erschienenen Buches „Am Fuße des Kavulungan“.

Der buddhistische Meister rät also seiner zutiefst verunsicherten Schülerin und Ich-Erzählerin: „Geh zurück ins Dorf. Bleib zwei Jahre lang am Fuße des Kavulungan und schaue dich dort aufmerksam um. Such mich nach den zwei Jahren wieder auf.“

Zwar zögert die Erzählerin zunächst, denn ein Dorfleben erscheint ihr mäßig attraktiv, das Dorf wie ein Loch, um das sich von Großstädtern erlogene Märchen von wunderschönen Landschaften ranken. Doch der Meister bleibt hartnäckig, unbeeindruckt von ihren Zweifeln. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich auf die Reise in den Süden Taiwans zu begeben. In 84 kurzen Geschichten – oder zeichnerischen Notizen, wie die Autorin im Nachwort ihr Schreiben deutet – entfaltet sich die Geschichte des Landes im Großen und des Dorfes im Kleinen. Zögerlich öffnet sich die Ich-Erzählerin den Menschen, ist lange hin und her gerissen zwischen der Sehnsucht nach dem Meister und seiner buddhistischen Klause auf der Insel Lantau in Hongkong, wo sich sich ruhig und weitab von weltlichen Angelegenheiten ihrer buddhistischen Versenkung hingegeben könnte, und den Alltäglichkeiten, mit denen sie sich nun im Dorf herumschlagen muss. Erst als sie sich einlässt auf die Natur, die Menschen, sich mit ihnen verbindet, erst da sickert so etwas wie Ruhe in ihre rastlose Seele.

Das Leben im Dorf ist eines zwischen Traum und Erwachen oder zwischen der sogenannten Realität und der Geisterwelt. Immerhin sei das Austreiben eines übelwollenden Geistes billiger als ein Arztbesuch, rechnet eine Geisterbeschwörerin vor. Eines Tages trifft die Ich-Erzählerin ein Mädchen, das uralt, weise und aus einer anderen Welt zu sein scheint. Die Einführung dieser Figur erlaubt es der Autorin, im Dialog mit dem unsichtbaren Mädchen über zahlreiche Themen zu raisonnieren: sei es über das Wesen der Schmetterlinge oder das Ansteigen des Meeresspiegels aufgrund der Klimakrise. Doch sie belässt es nicht etwa dabei, denn im Laufe der Geschichte schält sich heraus, dass das Mädchen einst Opfer eines Gewaltverbrechens war – daher die späte Rache, als Geist wiederzukehren? Jedenfalls bildet diese Geschichte einen raffinierten Gegenpol zur buddhistischen Einsicht, wonach das Leben nichts als Staub sei – so jedenfalls Ich-Erzählerin nach Ablauf der zwei Jahre „Licht verschwindet, die Gedanken verflüchtigen sich, aller Staub wird zu Nichts.“

Daher rührt auch der Untertitel des Buches, „eine philosophische Reise“, die eine der bekanntesten Autorinnen Taiwans mit feinem Sensorium ausgestaltet hat – die gekommen war, um am Fuße des Kavalungan ihre demente Mutter auf der letzten Lebensetappe zu begleiten, dann aber merkte, wie wichtig ihr das Dorf und die Natur wurden und das Schreiben darüber.

Lung Ying-Tai: Am Fuße des Kavulungan. Eine philosophische Reise. Deutsch von Monika Li. Drachenhaus Verlag, 2023, 364 Seiten

Weitere Artikel über Taiwan hier auf dieser Website.

Jahrhundertsommer

Gesellschaftsroman, Ganovenkomödie, Anti-Dorfroman: Eine Frau zwischen sozialer Ächtung und dem Streben nach Selbstbestimmung.

Als Magdas Mann sie wegen einer jüngeren Frau verlässt, bricht für sie eine Welt zusammen. Denn in ihrem Dorf ist sie nun die einzige geschiedene Frau, wird geächtet, gemieden, gerät in existenzielle Nöte. Doch so leicht gibt sie nicht auf. Mit einem amerikanischen Soldaten verbringt sie einen unvergesslichen Sommer – an dessen Ende Magda schwanger und der Soldat verschwunden ist.

Magda bringt Ellen zur Welt, während das Verhältnis zur älteren Tochter Ursula – mittlerweile selbst Mutter – immer schwieriger wird. Beide leben im selben Dorf, gehen sich aber aus dem Weg. Ellen schlägt sich wacker, hat früh schon eigene Pläne und versucht in Paris, die Murrheimer Vergangenheit abzuschütteln. Währenddessen rappelt sich Magda immer wieder auf, selbst wenn ihr das Leben ein Schnippchen nach dem anderen schlägt. Als sie endlich ihren Traumjob findet, löst sich dieser Traum über Nacht in Rauch auf. Unbeugsam ist ihr Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen, auch nicht von der „Altersarmut“ – nur schon, „um es denen da oben zu zeigen“. Darin sind auch alle anderen einig, wenngleich die ganze Familie zunehmend in einen Abwärtsstrudel gerät. Schließlich hat Enkel Viktor eine glorreiche Geschäftsidee, um seine Familie aus den prekären Verhältnissen zu befreien. Endlich scheint Magda das Glück zum Greifen nah.

Vor dem Hintergrund eines halben Jahrhunderts deutscher Geschichte, die subkutan in den Text eingeschrieben ist, wird von einer Familie erzählt, die oft knapp am Abgrund vorbeischrammt. Über die Hintergründe des Scheiterns wird mit dokumentarischer Nüchternheit scharfkantig berichtet. An den Bruchkanten der Scherben entlang entwickelt sich das Familiendrama. Gleichzeitig drängt sich die Frage nach Schicksal und Eigenverantwortung auf. Hatte Magda je eine Wahl? Gesellschaftliche Umstände können so manchen Menschen brechen, ihn an den Rand, in den Schatten drängen, wo die Regeln des Systems fragil sind und ihre Gültigkeit verlieren. Oder sind das lediglich billige Ausflüchte? Und sobald Träume erfüllt werden, verschwinden sie, von wegen Glück! Ungeachtet dessen gelingt es den Menschen in diesem Roman, sich von den schwierigen Umständen nicht unterkriegen zu lassen und bauernschlau am eigenen Schopf aus der Misere zu ziehen.


Stimmen

„Alice Grünfelder zeichnet das Milieu ihrer Figuren mit präzisem, unverwandtem Blick, mit Sinn fürs sprechende Detail und gelungenen Dialogen. Sie kann packend und schnörkellos erzählen. Präzis und suggestiv arbeitet sie mit Wörtern aus der Umgangssprache, die Bände sprechen. (…) Zwar sind ihre Figuren – ähnlich wie bei Zola – weitgehend gesellschaftlich determiniert, gleichwohl bleiben sie keine bloßen Funktionsträger, sondern sind lebendige Menschen in ihrem Widerspruch. Man leidet und fiebert mit ihnen mit.“
Manfred Papst, NZZ am Sonntag

„Die soziale Determiniertheit der Figuren erinnert an Romane von Émile Zola, Gerhart Hauptmann oder Upton Sinclair – wäre da nicht der präzis verknappte und gleichzeitig lyrisch schwebende Stil, der dieses Elend immer wieder überraschend bricht und mit lakonischer Ironie subvertiert.“
Franziska Meister, WOZ

„Alice Grünfelder schreibt in einer einnehmenden, präzisen Sprache über eine Familie, die, frei nach Tolstoi, auf ihre eigene Weise unglücklich ist und für die kein Happy End vorgesehen ist.“
Ensuite, Bern

„Gerade lese ich mit Begeisterung deinen Roman. Ein ganz eigener Sound. Spröd charmant, lakonisch, ungeschönt. Die Figuren lassen mich nicht mehr los.“
Caroline Grafe, Litquartier
Mit Caroline Grafe unterhielt ich mich auf Instagram über den Roman.

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman, der durch die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen auch verschiedene gesellschaftliche Themen anspricht, ohne überfrachtet zu wirken: Allein Magda führt uns vor Augen, was Armut, gerade auch Altersarmut bedeutet – und dass sie, sowohl in der Literatur als auch im „echten Leben“ nicht wegzuleugnen ist. Magda, das ist für mich eine der Frauenfiguren dieses Literaturjahres.“
Birgit Böllinger, der freitag.de

„Die mitreissende Familiengeschichte ist geprägt von diversen Überlebenskämpfen, dem Wunsch nach Selbstbehauptung und der Suche nach Glück, was zugleich die Kehrseite jedes Dorfidylls aufdeckt.“
Selina Seiler, Schweizer Monat

„Dieser Roman spiegelt wider, was so manche:r in meiner Umgebung und auch ich selbst immer wieder erfahren haben: Das Versprechen der sogenannten Leistungsgesellschaft ist hohl, es stimmt eben nicht und hat auch nie wirklich gestimmt, dass man sich nur genug anstrengen müsse, dann schaffe jede:r den Aufstieg. Es gibt viele Menschen, die sich abstrampeln und aufreiben und doch auf keinen grünen Zweig kommen. Und dazu noch der Häme und dem Unverständnis derer ausgesetzt sind, die es aufgrund von Herkunft, Beziehungen, günstigen Umständen, persönlichem Glück oder sonstiger Gründe nach oben gebracht haben. Genau das schilderst du vor allem in deiner Hauptperson Magda und ihrer Tochter Ellen hervorragend. Und überhaupt, Deine Sprache, die Darstellung und Entwicklung der Figuren, die Art und Weise, wie Du 50 Jahre bundesdeutsche Realität unterhalb des immer so hochgehaltenen, aber bei weitem nicht alle betreffenden Wohlstandsmodus geschildert hast … Danke für dieses großartige Buch.“

Sabine Adatepe, Übersetzerin

„Romane, die sich dem Leben der Menschen der Unterschicht annehmen und dieses glaubhaft darstellen können, sind in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart selten. Alice Grünfelder schafft dieses Kunststück. Und sie weiss, wie man das macht, welche Details wichtig sind, welche Bögen geschlagen werden müssen und wie man für überraschende Wendungen sorgt: Sie ist eine geborene Erzählerin!“

Franco Supino, literaturblatt.ch

„Dergel“, „hummeldumm“, „Augendeckel“ – schon beim Lesen der ersten Kapitel: Diese Worte, diese Sprachfärbungen machen die Figuren lebendig, authentisch, finde ich, man kommt ihnen noch näher, lauscht ihnen noch genauer …“

Walle Sayer, Lyriker

„Es ist eine große Qualität des Romans, dass am Ende noch mal alles eine ganz andere Wendung nimmt, man zunächst überrascht ist, und dieser Schluss trotz allem irgendwie versöhnt. Viktor und die anderen haben ja großen Erfolg, schaffen gemeinsam etwas … Ich freue mich jedenfalls sehr auf das Buch, das mich auf eine ganz besondere Weise berührt hat .“
Esther Böminghaus, Lektorin

„Deine Sprache ist in diesem Buch ganz eigen, sehr stimmig, sehr mündlich – die Erzählsprache immer auch Figurensprache – das gefällt mir und hat trotz schwerem Inhalt ein grosses Komikpotenzial.“
Eva Roth, Autorin

Playlist, Hörbuch

Playlist

Playlist zum Roman auf spotify
https://open.spotify.com/playlist/35aDtjn8101gqj2MCqRc8h

Hörbuch: https://www.audible.de/author/Alice-Gruenfelder/B001K1CBO6

Jahrhundertsommer – von Alice Grünfelder
dtv Verlag. 320 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-423-28345-8

Blick ins Buch bei www.dtv.de/buch/jahrhundertsommer-28345

Zu bestellen in jeder Buchhandlung, in der Autorenwelt, auf genial lokal

Menschenkette

Menschenkette – Friedensbewegung – Abrüstung

Drei Stichwörter, die heute zu Unrecht in Verruf geraten sind. Doch 1983 protestierten mehrere Hunderttausend Menschen gegen die geplante Stationierung der US-Atomraketen in Süddeutschland. Einzelpublikationen zu diesem Thema sind rar. Was und wer damals hinter der 108 Kilomenter langen Menschenkette stand, welche Zweifel und und Gedanken die Menschen bewegte, darüber hat Cäcilie Kowald nun einen Roman geschrieben.

Du warst 10 Jahre alt, als Du bei der Menschenkette mitgemacht hast. Woran erinnerst Du Dich noch genau bzw. an was erinnerst Du Dich besonders gut?

Vor allem erinnere ich mich an die Fahrt entlang der Menschenkette. Wir waren mit dem Auto gekommen, zwei Familien mit insgesamt fünf Kindern, und wir Kinder haben uns beömmelt über die Namen der Orte, durch die wir fuhren: Süßen, Gingen, Kuchen; wir fanden, die Reihenfolge sei falsch, es müsse doch „Gingen Süßen Kuchen“ heißen. Außerdem erinnere ich mich an die Menschenmassen am Straßenrand, und dass wir nicht bis Geislingen fuhren, wie geplant, sondern irgendwo bei Kuchen anhielten und ausstiegen, um uns einzureihen. An das Stehen in der Kette erinnere ich mich jedoch gar nicht mehr – das wird vermutlich relativ langweilig gewesen sein, zumal für ein Kind.

Ich selbst habe über die Friedensbewegung einen Essay geschrieben, mir wurde in Rezensionen zum Teil vorgeworfen, ich hätte mich hinter der Uneindeutigkeit des Genres versteckt. Was war der Auslöser für Deinen Roman?

Den einen ausschlaggebenden Punkt gab es nicht, eher viele Punkte, die sich irgendwann zu einem Bild verdichteten. Im Zentrum stand die Frage, was damals, in einer Zeit, die mich sehr geprägt hat, aber an die ich nur unvollständige und sehr kindliche Erinnerungen habe, eigentlich wirklich los war. Und warum damals zu Demos Hunderttausende Menschen kamen, später aber, als ich erwachsen war, schon ein paar tausend Teilnehmer:innen ein Erfolg waren.

Die Kapitelüberschriften sind Uhrzeiten, der Roman beginnt um halb sieben und begleitet verschiedene Personen durch den Tag. Immer wieder werden Militärs und Politiker zitiert, Zeitungsausschnitte eingestreut, Dokumente angeführt, was die Stimmung auf der Gegenseite gut wiedergibt. Hast Du Deinem eigenen Text nicht genug vertraut, oder warum hast Du Zeitdokumente eingestreut?

Ich wollte auch die Gegenseite zu Wort kommen lassen; alles andere wäre mir unfair erschienen. Aber eine entsprechende „Gegnerfigur“ zu entwickeln und den anderen gleichberechtigt zur Seite zu stellen, reizte mich nicht. Mit den Zeitdokumenten konnte ich die Stimmung der damaligen Zeit sehr effizient und differenziert genug aufleben lassen.

Im Personenverzeichnis sind 21 Figuren gelistet. Ein gewagtes Unterfangen, und ich war gespannt, ob es Dir gelingen würde, die Protagonisten so zu zeichnen, dass die Leser:in sich zurechtfindet inmitten der vielen Namen. Erstaunlich, wie Du mit wenigen Strichen die Figuren so skizzierst, dass man sie tatsächlich wiedererkennt. Du lässt sie vor vor allem durch innere Monologe zu Wort kommen. Manchmal habe ich mich gefragt: Sind das Cäcilie Kowalds Zweifel und Überlegungen zu dieser Aktion, verteilt auf 21 Schulten, oder wie bist Du vorgegangen bei der Montage all dieser Reflexionen und Meinungen?

Es sind nicht nur meine Zweifel und Überlegungen, sondern auch die, die mir bei anderen begegnet sind. Ich habe auf der Suche nach einer politischen Heimat viele Menschen und politische Spektren kennengelernt und wie die so ticken. Zudem kenne ich Menschen, die zwar politisch interessiert sind, aber nie auf eine Demo gehen würden – einfach weil sie das nicht kennen, weil es ihnen sozusagen kulturell fremd ist, und weil ihre Zweifel größer sind als ihre Zuversicht, dass es etwas bringt. Letztlich wollte ich vor allem auch ihnen zeigen, dass das normal ist, dass die Auseinandersetzung mit diesen Zweifeln und Gedanken Teil des persönlichen politischen Prozesses ist, und dass auch die vordergründig so Überzeugten oft ihr Leben lang damit nicht fertig sind.

Eine Figur, Ines Heger, die gerade aus Nicaragua zurückkehrt ist, fällt ein wenig aus dem Rahmen. Vor allem gegen Ende stellt sie grundsätzliche Fragen, wie z.B. jene, inwieweit man sich durch sein Tun oder Nicht-Tun verantwortlich macht, eine Frage, die vor allem auf die deutsche Vergangenheit und das Mitläufertum anspielt. Sie selbst stellt Deutschland diesbezüglich kein gutes Zeugnis aus, fühlt auch eine starke Entfremdung zu den Deutschen, die noch eine Bahnsteigkarte kaufen, wenn sie einen Bahnhof stürmen wollen, wie es an einer Stelle heißt. Wie bist Du auf diese Figur gekommen?

Nicaragua war damals ein hochaktuelles Thema! Und das, was man heute globale Gerechtigkeit nennen würde, also die Berücksichtigung von Interessen der sogenannten Dritten Welt und von Staaten jenseits der führenden Industriestaaten und Machtblöcke, spielte in den Bewegungen der damaligen Zeit durchaus eine Rolle. Warum also hätte ich ausgerechnet das auslassen sollen? Dass es den Blick auf die Heimat verändert, wenn man länger weg war, bis hin zu einer gewissen Fremdheit, kenne ich aus späteren eigenen Erfahrungen – als Slavistik-Studentin war ich in den 1990er Jahren einige Male länger in Russland.

Das Buch, so scheint mir, kommt gerade zur rechten Zeit – einer Zeit, in der wieder massiv Aufrüstung gefordert wird, manchmal ausgerechnet von Menschen, die damals in der Friedensbewegung aktiv waren, womöglich Teil der Menschenkette waren. Ist das Buch insofern ein bewusstes Statement oder war der Erscheinungstermin ein verlegerischer Zufall?

Wahrscheinlich weder noch. Die ersten Skizzen zum dem Buch stammen tatsächlich schon von 2010, als überhaupt nicht zu vermuten war, dass das Thema jemals wieder so brisant werden würde. Aber dass es mich umtrieb, ist sicher kein Zufall; und es gab seitdem tatsächlich schon mehrere Zeitpunkte, zu denen ich dachte: Wie schade, dass das Buch noch nicht fertig ist! – zum Beispiel, als Donald Trump den INF-Vertrag aufkündigte. Aber das waren letztlich Ereignisse, die die breite Öffentlichkeit kaum wahrgenommen hat. Der genaue Termin war tatsächlich Zufall: Mit dem Verlag wurde ich Mitte Februar einig; den Vertrag haben wir wenige Tage vor Beginn des Ukrainekriegs unterschrieben. Was aber nur einmal mehr zeigt, dass das Buch auch heute noch eine Menge zu sagen hat.

Cäcilie Kowald: Menschenkette. Verlag 8 Grad, Freiburg, 2022, 226 Seiten, 24 Euro

Weitere Artikel zum selben Thema:

Richard Rohrmoser: Sicherheitspolitik von unten. Ziviler Ungehorsam gegen Nuklearrüstung in Mutlangen.

Wozu? , nachzulesen auf dem Blog „Aus dem Alltag“ von Manfred Lipp.

Alice Grünfelder: Wird unser Mut langen?

Banus Erlösung

Rückkehr nach Xinjiang


Die Nachrichten aus Xinjiang sind erschütternd, oder sind es nur Gerüchte? Deshalb kehrt die Universitätsdozentin Banu 2017 von der Türkei nach Xinjiang zurück, weil sie sich selbst ein Bild von der momentanen Lage machen möchte. Gleich bei ihrer Ankunft wird sie tagelang festgehalten und von einer Frau Zhang verhört, die sich insbesondere für ihre Liebesaffäre – oder doch eher ein Fall von #metoo – mit ihrem ehemaligen Gönner und Professor Guo interessiert. Erst viel später wird Banu erfahren, dass Professor Guo ausgerechnet diese Verhörbeamtin geheiratet hat. Überhaupt schlägt die Romanhandlung so manch seltsame Kapriole, doch der Reihe nach.

Verrat ohne schlechtes Gewissen

Erstaunlich offenherzig berichtet Banu von ihren Mitmenschen, ihrer Vergangenheit, ihren amourösen Liebschaften, nur um nicht ins Umerziehungslager gebracht zu werden – ein verständliches Ansinnen. Doch warum sie ihren damaligen Chef, der nach den gewalttätigen Demonstrationen von 2009 hingerichtet wurde, und ihre beste Freundin Senem, die seitdem verschwunden ist, denunziert hat, bleibt eines der zahlreichen Rätsel der Protagonistin. Damals informierte Banu die Polizei, dass die Uiguren eine Sitzblockade abhalten. Vielleicht war ihr Anruf nicht ausschlaggebend. Als Uigurin und Parteimitglied kam sie nur ihrer Pflicht als Staatsbürgerin nach, sagte sie sich leichthin. Gleichwohl plagt sie fortan ein schlechtes Gewissen, und sie setzt bei ihrer Rückkehr 2017 alles daran, wenigstens die Tochter ihrer Freundin aus einem der berüchtigten Berufsschulzentren zu bekommen. Dafür lässt sie sich auf ein gewagtes Spiel ein: Im Gegenzug verspricht sie, einen Bekannten – oder ist er gar ihr Liebhaber? – in der Türkei sowie die chinesische Diaspora auszuspionieren.

Absurde Bürokratie

Dieses Buch, der erste uigurische Roman, der je ins Deutsche übersetzt wurde, liegt nun zweisprachig vor – insofern ist er auch eine Gelegenheit, Chinesisch-Lernenden einen aktuellen Stoff erfahrbar zu machen, zumal sich der Text im Chinesischen recht flüssig liest. Erzählt wird in vielen Rückblenden die jüngste Geschichte der Region. Banu zerreißt es fast zwischen ihrem Glauben an den modernen Vielvölkerstaat China, „wie ihn die Kommunistische Partei Chinas propagiert und den im Zeichen antiterroristischer Maßnahmen stehenden ethnischen und „pädagogischen“ Säuberungsmaßnahmen der jüngsten Zeit“, schreibt der Übersetzer Andreas Guder im Nachwort. Die Absurditäten der Bürokratie, die womöglich zu dem ambivalenten Verhalten der Protagonistin führen, mögen in solch einer Umgebung verständlich sein, nur erschweren sie die Nachvollziehbarkeit der stellenweise sprunghaften Handlung – auch bleibt die Figur seltsam widersprüchlich, zumal im knappen ersten Viertel ihre sexuellen Ausschweifungen, Sehnsüchte und Wünsche einen breiten Raum einnehmen. Mal ist Banu impulsiv, dann wieder berechnend, selbstverliebt und eitel – diese Ambiguität ist für die Leserin, den Leser nicht wirklich verständlich. Bestenfalls kann darin eine Charakterstärke gesehen werden, sich durch keinerlei Schikanen beirren zu lassen.

Worauf also will die Autorin, die mittlerweile in Berlin lebt, hinaus? Andreas Guder deutet den Roman als eine Erinnerung „an unzählige namenlos gebliebene Menschen, die in den letzten Jahrzehnten gezwungen wurden, ihre Kultur, ihre Traditionen und Überzeugungen aufzugeben – und die die Welt nicht vergessen sollte.“

Gülnisa Erdal  古 莉 尼 萨·厄 达 尔: Banus Erlösung  巴 奴 的 救 赎. Aus dem Chinesischen übersetzt von Andreas Guder, Ostasien Verlag 2022, 353 Seiten.

Weitere Artikel über Xinjiang: Die Wüstengängerin.

Taiwan. Insel der Vielfalt.

Geister und Kirchen …

… wie passt das zusammen? Eine Lektürenotiz

Bücher über Taiwan sind noch immer rar, selten nur anzutreffen in Buchhandlungen, noch seltener besprochen in Feuilletons. Dabei gäbe es noch viele Lücken zu schließen. Warum zum Beispiel sind weite Teile der indigenen Bevölkerung Taiwans zum Christentum konvertiert, warum findet man gerade in Wäldern und Bergen, in abgelegenen Dörfern kleine Kirchen und große Jesusstatuen? Und warum waren es ausgerechnet presbyterianische Missionare, die den Einheimischen Praktiken des zivilen Ungehorsams vermittelten und sie darin bestärkten, für ihre Rechte zu kämpfen?

Die Korrespondentin Carina Rother beantwortet mit ihrem Buch Taiwan. Insel der Vielfalt diese Fragen. Im zweiten Teil „Götter, Geister, Gegenwelten“ erklärt sie leichthändig, warum es in Taipei nicht nur an Feiertagen allerorten qualmt, Erd- und anderen Göttern auf kleinen Klapptischen Opfer dargeboten werden und selbst der Supermarkt 7-Eleven seine Verkäuferin ein halbstündiges Opferritual durchführen zu lassen – während ihrer Arbeitszeit wohlgemerkt. Und im dritten Teil beleuchtet die Autorin das Verhältnis eben der Indigenen zur christlichen Kirche.

Nachvollziehbar beschreibt Carina Rother den Polytheismus der Inselbewohner. Das Nebeneinander, das streng Gläubigen wie ein Durcheinander erscheinen mag, ist aber das Kennzeichen schlechthin für den Umgang mit Dogmen, für den Pragmatismus nicht nur in Glaubensangelegenheiten der Inselbewohner.

Ein Buch also, das gut als Zweitlektüre taugt für jene, die nach einem ersten Blick auf Geschichte und Land der Insel ihre Kenntnisse vertiefen möchten.

Carina Rother: Taiwan. Insel der Vielfalt. Missionshilfe Verlag, 182 Seiten

Weitere Artikel rund um Taiwan zum Nachlesen auf literaturfelder.com/blog.