Aus aktuellem Anlass: Der Autor Yan Lianke wird mit dem Franz-Kafka-Preis ausgezeichnet. Yan Lianke, einst Mitglied der Volksbefreiungsarmee, hat mehr als 20 Romane und Erzählungen verfasst. Seine auf Deutsch erschienen Romane „Dem Volke dienen“ und „Der Traum meines Großvaters“ wurden in China von der Zensur verboten. Der Traum wird indes zum Alptraum eines Dorfes.
Ein ganzes Dorf wird von einem geheimnisvollen Fieber heimgesucht, und „wer das Fieber hatte, würde sterben, so wie der Herbstwind die welken Blätter von den Bäumen fegt“.
Mit diesem Roman setzt der Autor Yan Lianke all jenen Menschen ein poetisches Denkmal, die dem Aids-Skandal der Neunzigerjahre in sechs südlichen Provinzen Chinas zum Opfer fielen. Die Gesundheitsbehörden der Provinzen, Hersteller von Blutprodukten, sogar Armee-Einheiten sollen an einem spektakulären Bluthandel mitverdient haben. Spendensammler waren über die Dörfer gezogen und hatten Bauern gegen Bezahlung zum Blutspenden animiert. Human Rights Watch berichtet, dass dem Blut das lukrative Plasma entzogen, in Containern gemischt und den Bauern erneut injiziert wurde, damit sie öfter Blut spenden konnten. Als Ende der Neunzigerjahre einige der offiziellen Blutbanken geschlossen wurden, verkauften die Bauern ihr Blut an illegale Blutsammler, weil sie zunehmend vom Verkauf des Blutes abhängig geworden waren. Diese „Blutsauger“ kümmerten sich jedoch wenig um Hygiene, und so verbreitete sich das HIV-Virus in Windeseile.
Aus der ungewöhnlichen Perspektive eines toten Jungen erzählt der Autor die Geschichte eines kleinen Dorfes in der Provinz Hunan, in dem die Bewohner auf Anraten des Großvaters Ding des Jungen ihr Blut verkaufen, damit dieses zu Wohlstand gelangt. Vor allem sein ältester Sohn profitiert von dem Handel – und mit ihm die ganze Familie –, doch als das Fieber grassiert, rächen sich die Dorfbewohner, vergiften zuerst sein Vieh, dann eben den 12-jährigen Sohn, der zum Erzähler des Romans wird.
Erst als der Großvater von der Kreisstadt zurückkehrt, bekommt das Fieber einen Namen: Aids. Bislang war diese Krankheit weit weg gewesen, hatte nur Ausländer und Menschen mit lasterhaftem Lebenswandel erfasst, nun war ein ganzes Dorf davon betroffen. Das aber war erst der Anfang, bald würde die Krankheit mit ganzer Heftigkeit ausbrechen und das Dorf von der Landkarte verschwinden. Darüber verlottert auch die Umgebung, denn die Äcker liegen brach. Alles scheint nur noch auf den Tod zu warten.
Je schlimmer die Krankheit wütet, je raffgieriger der älteste Sohn sich gebärdet, desto auffälliger ist die Verwandlung des Dorfes zur Kulisse. Die Ereignisse werden wie einzelne Szenen kunstvoll arrangiert. Die Schlafkammer des Ältesten quillt über vor lauter Geldscheinen, und man denkt unwillkürlich an Märchen mit vollen Goldkammern. Begräbnisse werden wie Theateraufführungen inszeniert, zu dem das Volk strömt, um sich am Geleitzug und Gepränge der Särge zu ergötzen.
Einmal mehr versucht hier ein chinesischer Autor, unter dem Deckmantel der Fiktion Fakten zu publizieren. Doch Yan Lianke geht noch einen Schritt weiter, denn im Laufe der Lektüre drängt sich die Frage auf: Träumt der Großvater nur von diesem abstoßenden Geschäft mit dem Tod, das sein ältester Sohn da betreibt? Schließlich verliert das Thema seine Schärfe auch durch einen wunderbar lyrischen Ton, den Yan Lianke bei all dem Elend anschlägt. Manche Bilder wiederholt er bewusst und verleiht dadurch der ganzen Szenerie fast die Anmutung eines Gemäldes oder eines melancholischen Requiems. Doch trotz seiner literarischen mehrmaligen Überarbeitung des Stoffes, um nur ja das Buch an der Zensur vorbei zu publizieren, wurde das Buch drei Tage nach Erscheinen in China verboten.
So humorvoll die Burleske Dem Volke dienen – Yan Liankes erstes Buch auf Deutsch – auch ist, in dem er politische Parolen ins Absurde und Lachhafte übersteigert, so poetisch und tieftraurig ist dieser Roman. Er handelt vom bäuerlichen Fatalismus in China, wo Bauern trotz aller Reformen in den letzten Jahrzehnten noch immer entrechtet sind. Nicht von ungefähr finden die meisten Aufstände auch heute wieder auf dem Land statt, wenn sich Bauern gegen korrupte Beamte und unrechtmäßige Landenteignungen wehren. Da ist kleines Glück kostbar, und Bauernfänger haben leichtes Spiel. Lingling, die spätere Geliebte des zweitältesten Sohns, erzählt, dass sie vom Erlös aus dem Blutverkauf ein Haarwaschmittel kaufen wollte, damit ihr Haar in Locken weich herabfällt.
Yan Lianke: Der Traum meines Großvaters. Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. Ullstein Verlag, 364 Seiten