Bankrotterklärung

gila-lustigerWeil Gila Lustiger verstehen wollte, wie es zu den Attentaten am 13. November 2015 in Paris kommen konnte, versucht sie zu verstehen, warum zehn Jahre zuvor in den Pariser Banlieus und im Norden Frankreichs mehrheitlich Jugendliche „mit Migrationshintergrund“ alles zerstörten, was um sie war. Und sie stellt Fragen, die immer wieder ins Leere laufen. Wie viele Hiphop-Kurse werden in einem Vorortzentrum organisiert und scheinen doch kaum mehr zu sein als ein Feigenblatt für das schlechte Gewissen der Nation? Und was bitte sehr hätten sie mit Terrorvermeidung zu tun? Warum z.B. werden gerade junge Lehrer direkt nach dem Studium in Brennpunkt-Schulen geschickt, ja verheizt, weshalb nirgendwo sonst im Lande der Lehrerwechsel so häufig sei wie hier? Wo Schulen und Bibliotheken brennen, in denen eigentlich nur das Beste gewollt wird? „Viele der Randalierer waren Schulabbrecher, und ihr Hass galt nicht nur dem Buch, sondern auch ganz allgemein dem geschriebenen Wort, das sie als Instrument ihrer Unterwerfung empfanden. […] Sprache, das waren Gebote und Verbote. Nichts, als eine weitere Strategie, sie zu zähmen.“ Terror als logische Folge, da radikalste Integrationsverweigerung.

Der Protest wird erstaunlicherweise nicht etwa dahingetragen, wo die Entscheidungen gefällt werden, nach Paris ins Stadtzentrum zum Beispiel, wie all die Bauern, Handwerker, Rechtsanwälte es tun, die mit ihren Aktionen oft genug den Verkehr lahmlegen. Die Jugendlichen zerstörten alles, was stellvertretend für den Staat stand, aber die Regierung und deren Repräsentanten blieben unbehelligt. Warum, fragt Gila Lustiger? Die Jugendlichen haben ihre Viertel trotz ihres Zorns nie verlassen. Und nie haben sie konkrete Forderungen gestellt, was ihrer Meinung nach ein absoluter Konkurs derjenigen Parteien ist, „die sich den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben haben.“

eribonDie Banlieusards nehmen auch kaum an Wahlen teil, stattdessen wird der Gegensatz von „Die da oben und wir da unten“ von Marie le Pen geschickt aufgegriffen, deren größte Wählerschaft die 18- bis 24 Jährigen sind. Der Feind ist nicht mehr nur der Ausländer, sondern das ganze Establishment. Und die Rechten aller Länder wissen diese Angst zu schüren und zu nutzen. Dies analysiert treffend auch der Soziologe Didier Eribon in der autobiografisch-soziologischen Reflexion Rückkehr nach Reims.

In einer Gesellschaft, in der neoliberale Intellektuelle begründen, weshalb in einer neoliberalen Ökonomie alles möglich, ist, weil jeder alles tun kann und jeder alles tun darf, um reich zu werden, sind – will man der Rechnung auf den Leim gehen – Immigranten und Minderheiten schuld, weil schlichtweg ein Sündenbock herhalten muss. Die wirtschaftlich Entmündigten wurden von der Geschichte und der Globalisierung verraten, Rattenfänger haben Hochkonjunktur, ist seine Bilanz. Und der Verrat der Elite sei schließlich zentrales Motiv jedes Mythos`.

Gila Lustiger trägt eine Wut in sich, will verstehen, was sich kaum verstehen lässt, und ist am Ende froh, auf Menschen zu treffen, die versuchen, die Schieflage einzurenken. Auf eine Lehrerin beispielsweise, die ihre Schüler nicht auf ihre Schwächen reduziert, sondern antwortet: „Braucht nicht jeder von uns etwas spontane Sympathie?“ So banal diese Äußerung oder das Bild vom Einrenken auf den ersten Blick scheinen mag, tröstlich ist es allemal angesichts einer Bestandsaufnahme, die ansonsten keine wohlfeilen Erklärungen bietet, sondern eher einer Bankrotterklärung der französischen Gesellschaft (und auch anderer westlicher Länder) gleichkommt. Es sei wichtig aufzuzeigen, „dass eine andere Welt möglich ist“ in dieser aus den Fugen geratenen und zu einer profitorientierten und egoistischen gewordenen Gesellschaft. Und wie viele Lehrer, Ärzte, Kindergärtner etc. würden tagein, tagaus versuchen, jeder auf seine eigene bescheidene Weise, diese Welt ein wenig einzurenken? Davon dürfe man sich einfach nicht abhalten lassen.

Gila Lustiger: Erschütterung. Über den Terror. Berlin-Verlag, 2016

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Edition Suhrkamp, 2016