Synagoge

Zuschütten

Das Gemäuer, bis auf die Grundmauern verkohlt, verrußt die Steine, Säulen, geschmolzen die Kronleuchter, Kerzenständer, Treppengeländer. Und ein Jahr danach die Trümmer in den Keller geschoben, die Küchenfliesen mit Schutt zugedeckt. Viel später dann alles wieder aufgerissen für eine Tiefgarage, doch den Behörden ging das Geld aus, das Loch also wieder zugeschüttet. Und heute jeden Stein, jede Scherbe, jeden Knopf einzeln bergen, hineinsehen in Abgründe, in das freigelegte Fundament und sich vorstellen, wie es einmal gewesen war – vor dem 9. November 1938.

Mehr Informationen zur Bornplatzsynagoge in Hamburg auf der Website der Jüdischen Gemeinde.

Ciao amore ciao

Liebe, Migration und Backlist

Wie gehören diese drei Begriffe zusammen? Ein Interview mit Franco Supino

Ein wenig sind mir die Hips und Hypes, Trends und Lifestyle-Literatur, die Buchpreise und Festivalprogramme mit stets denselben Namen und Titeln aufgrund der erregten Berichterstattung verleidet worden – und so greife ich in jüngster Zeit immer öfter zu Titeln, die abseits des Mainstreams ihr eigenes Dasein fristen: unbekannt und vielleicht damals wie heute auch unerkannt. Und entdecke Themen und Stile, die in ihrer Unaufgeregtheit ziemlich wohltuend sind. So zum Beispiel Ciao amore, Ciao von Franco Supino (2004 erschienen), die Geschichte der Schlagersängerin Dalida und ihres Geliebten Luigi Tenco; ein Roman auch über das unerbittliche Musikbusiness und die Schnoddrigkeit eines undankbaren Publikums. Wie ich ausgerechnet zu diesem Buch kam? Durch einen einfachen Büchertausch; ich hatte irgendwo gelesen, dass der Roman durch seine Montagetechnik auffällt, das interessierte mich.

Weil mich diese Geschichte auf seltsame Weise streifte, mich der Ohrwurm „Ciao amore, Ciao“ anfing zu plagen, ich einen Abend lang durch Dalidas Leben und ihr Schlagerrepertoire surfte, nicht wusste, warum mir diese Personen so eigenartig nah und vertraut waren, fragte ich Franco Supino ein wenig aus. Denn von der Sängerin hatte ich nur den Namen gekannt, vom Schlagerfestival Sanremo noch nie gehört, auch nicht von einem Sänger, der sich nach einem erfolglosen Auftritt im Hotelzimmer erschoss.

Franco Supino, wie ist es, nach einem Buch gefragt zu werden, dessen Veröffentlichung schon so lange zurückliegt? Ist es noch immer präsent oder haben Deine anderen Schreibprojekte, Bücher diesen Roman mittlerweile vollkommen überlagert? An was denkst, Du, wenn Du ans Schreiben dieser Geschichte von heute aus zurückblickst?

Ich erinnere mich gut daran, was ich mit diesem Text darzustellen versucht habe: Iolanda Gigliotti, Dalida, stammte aus einer nach Schubra, Kairo, ausgewanderten italienischen Familie. Als junge Frau ging sie Mitte der 50er nach Paris und feierte als Schlagersängerin phänomenale Erfolge (der Durchbruch gelang ihr mit einem italienisch angehauchten Lied «Bambino»). 1967 wurde sie zum Schlagerfestival von Sanremo eingeladen. In diesem Jahr sah der Modus vor, dass immer ein einheimischer Sänger mit einem internationalen Star im Duett zum Wettbewerb antreten sollte. Luigi Tenco gehörte zur jungen Generation der politisch engagierten Cantautori, die die Welt mit ihrer Musik verändern wollte. Er war talentiert und inspiriert, sah gut aus – doch mit einer beliebigen Partnerin wäre er nie aufgetreten. Die Musikmanager brachten Iolanda und Luigi zusammen, und die beiden verliebten sich sofort ineinander. Ihr gemeinsames Lied, so Luigi Tenco, sollte mit ihnen beiden und mit der Gegenwart zu tun haben. Deshalb schrieb er für sie (und sich) das Lied «Ciao amore, ciao», das zum ersten Mal in der Musikgeschichte das Elend der süditalienischen Migranten besang – also das, was Dalidas Familie vor dem Ersten Weltkrieg erlebt hatte und viele Süditaliener in den 50er und 60er Jahren erlebten. Dalida zweifelte zwar daran, dass das Schlagerpublikum so etwas hören wollte, doch Luigi Tenco überzeugte sie davon, dass man als Künstlerin bei sich bleiben müsse und sich nicht nach dem Publikumsgeschmack richten dürfe. (Ihre Version des Liedes ist hier nachzuhören: )

Wie bist Du überhaupt auf diese Geschichte gekommen?

Ich bin selber mit dem Festival von Sanremo aufgewachsen: zuerst haben wir das Festival am Radio mitverfolgt, später im Fernsehen auf Rai Uno (erst fand es Ende Januar statt, heute im Februar) – immer von Montag bis Samstag. (Ja, ich verfolge auch heute noch das Festival von Sanremo – vielleicht nicht mehr jeden Abend und bis in die Puppen – meistens endet die Übertragung nicht vor 1 Uhr –, aber ich möchte mitbekommen, welche Lieder man dann das ganze Jahr in Italien hört). So erfuhr ich auch von der Tragödie um Luigi Tenco, zwar nicht live, dafür war ich noch zu jung, aber hin und wieder wurde Tenco verstohlen erwähnt – und ich stellte fest, dass sich dahinter ein nationales entsprechend tabuisiertes Trauma verbarg. Ich fand rasch heraus, dass Dalida damals als Partnerin von Tenco auftrat. Doch nie war dabei das Lied ein Thema, und merkwürdigerweise konnte sich in meiner Familie niemand an die Botschaft des Liedes erinnern.

Das schreibst Du auch in einer Stelle im Buch, dass der Ich-Erzähler sich wundert, weil sich das Lied doch an die italienischen Arbeitsmigranten richtete, auf die das Lied jedoch keinerlei Eindruck machte, geschweige denn, einen hinterließ. Waren das musikalisch-politische Engagement demnach umsonst?

Ich stellte es mir (wie Luigi Tenco) eher romantisch vor: Wenn Menschen wie meine Eltern, wenn ihr Leiden und ihre Sehnsüchte in Sanremo besungen werden, wird dies in der italienischen Gesellschaft ein Bewusstsein für deren Situation schaffen und das Thema würde in der Politik ankommen – und gleichzeitig würde es die Emigranten, die das Festival hörten, freuen, sie ermutigen, bestärken. Aber, wie du sagst, das Lied hinterliess keinen Eindruck – auf keiner Seite. Tencos Selbstmord in der Festivalnacht von Sanremo erschütterte Italien, er wirkte wie ein auf sich selbst gerichteter Terroranschlag – und bewirkte, dass ein paar Jahre später (durch Amilcare Rambaldi, einen Blumenhänder aus Sanremo, der ebenfalls im Buch vorkommt) das Tenco-Festival gegründet wurde, ein bis heute sehr wichtiges und aktives Festival für die Cantautori, bei dem die Qualität und nicht die Verkaufszahlen im Mittelpunkt steht. Aber auf den Migrationsdiskurs bezogen war die Wirkung von „Ciao amore, ciao“, soweit ich feststellen konnte, und ich habe viel recherchiert: Null!

Überhaupt habe ich viel gelernt in diesem Buch; ich wusste z.B. nicht, dass es vor dem Zweiten Weltkrieg so eine große italienische Migrantenszene in Kairo gab und Italiener in britische Kriegsgefangenenlager in Ägypten kamen – so z.B. auch Dalidas Vater.

Dass Dalida (auch) Italienerin war, wusste ich von meinen Eltern, ich kannte einige ihrer Lieder. Als ich mir dann „Ciao, amore Ciao“ genauer anhörte und mich fragte, wie kam Luigi Tenco dazu, ein solches Lied zu schreiben und es nach Sanremo zu bringen, entdeckte ich erst diese Zusammenhänge. Meistens werden die Umstände nur aus Luigi Tencos Sicht erzählt, ich erzähle die Geschichte auch aus Dalidas Sicht.

Wie erzählt man ein Leben, wenn doch die Eckdaten schon alle bekannt sind, was gibt es da noch zu erzählen, wie bist Du vorgegangen beim Schreiben, wie sehr hast Du Dich von den Fakten leiten lassen, wo hast Du fiktionalisiert und warum?

Bei Luigi Tenco und Dalida gibt es klar zwei Sichtweisen. Die französische sieht nur Dalida, die italienische nur Luigi Tenco (die jeweils andere Figur bleibt sekundär und ganz sicher inferior). Von diesen beiden Perspektiven sind auch die Fakten geprägt. Niemand in Italien nahm Dalida als Künstlerin ernst, die mit Luigi Tenco auf Augenhöhe arbeitete. Niemand in Frankreich kannte Luigi Tenco – außer als revoluzzender Songwriter, der mit Dalidas Hilfe den Durchbruch schaffen wollte. Ich wollte die Sichtweisen der beiden Figuren zusammenbringen: als zwei sich liebende Menschen, die versuchen, künstlerisch und als Paar (in den 60er Jahren, also in einem bestimmten historischen Kontext) zusammenzufinden.

Auch in Deinem jüngsten Roman Spurlos in Neapel schickst Du eine Ich-Person als „Rechercheur“ vor und durch die Geschichte. Warum?

Ich habe Mühe damit zu glauben, dass die Wirklichkeit in Texten abbildbar ist. Was wir lesen und schreiben sind nur Projektionen, genährt aus unseren Wünschen, Hoffnungen, Enttäuschungen – gerade wenn es um Fakten geht. Sie in einem Roman zu deuten, steht nur einem Subjekt zu.

Franco Supino: Ciao amore, ciao. Rotpunktverlag, 2004, 276 Seiten,

Franco Supino: Website

Yao Jui-Chung

Von Gold und Schatten

Die erste umfassende Darstellung des taiwanischen Künstlers Yao Jui-Chung

Als ich das erste Mail den Innenhof des C-Lab betrat, ein angesagtes Kulturzentrum in Taipei, musste ich lachen: olivgrüne, aufblasbare Panzer standen vor einem Mann, da mokierte sich einer offensichtlich über die aufgeblasene Machtdemonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens am 4. Juni 1989 oder überhaupt über Macht wie z.B. der einstigen Militärdiktatur Taiwans, denn das Kulturzentrum war früher Hauptquartier der Luftwaffe. Und so ging ich weiter durch Räume, in denen auf Gold grundierten Gemälden gefurzt wurde, verschlungene Körper fluchten oder Weltfrieden heraufbeschwörten. Das war 2020, unversehens war ich in eine Ausstellung von Künstlern geraten, denen nichts heilig war – die Vielfalt nicht nur der Themen, auch der Medien war stupend.

Erst als ich im Frühjahr 2023 den Katalog eines Künstler aus Taiwan in Händen hielt, weil mich ein Schweizer Verlag per Newsletter darauf hingewiesen hatte, begriff ich, dass die Kunstwerke, die ich damals in den über dem ganzen Gelände verstreuten Gebäuden sah, alle von einem einzigen Künstler stammten: Yao Jui-Chung. Ich musste wieder lachen und blätterte very amused in dieser Gesamtschau.

Von Schatten befreien

Yao Jui-Chung, 1969 geboren in Taipei, hinterfragt gängige Kunstformen und Normen, stellt sie buchstäblich auf den Kopf, zieht ihnen in seinen Peformances den Boden unter den Füßen – nimmt alles auseinander und setzt es wieder neu zusammen; aus dem Schatten der Vergangenheit holt er Unterdrücktes hervor und besteht damit gleichsam darauf, dass Taiwan mit seiner Geschichte und Kultur einen eigenen Platz in der Welt erhält. Zudem pocht er darauf, dass man zuerst ein Bewusstsein dafür entwickeln müsse für die Beziehung der Menschen untereinander, zur Umwelt, zur Welt im Allgemeinen, bevor man seine eigene Identität definieren könne – ein Thema, das viele Taiwaner:innen umtreibt.

Yao selbst, so schreibt es die Kuratorin und Herausgeberin Sophie McIntrye, habe eine „mixed heritage“: die Mutter Taiwanerin, der Vater war aus Changzhou (China) und mit den Truppen der Kuomintang-Nationalisten vor den Kommunisten nach Taiwan geflohen. Yao selbst gehörte zur letzten Generation, die noch unter der Kuomintang (KMT) zur Schule ging, als auf den Lehrplänen ausschließlich chinesische Geschichte und Geografie stand, und wenn sie in der Schule Taiwanisch sprachen, mussten sie dem Lehrer dafür einen Taiwan Dollar bezahlen. (vgl. S. 10) Auch im Studium wurde ausschließlich die antike und moderne chinesische Kunst bis zur Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 vermittelt. Bald gab er diese Art der Malerei auf, die er als viel zu traditionell empfand, widmete sich der Fotografie, die ihm geeigneter schien, die Entfremdung in der Gesellschaft zu entlarven. Anfang der neunziger Jahre gründete er zusammen mit Kommilitonen eine Theatergruppe, und schon bald stand die Performance im Mittelpunkt seiner künstlerischen Auseinandersetzung, ja, bis heute gilt er als Pionier der Performance-Szene Taiwans.

Ruinen und Zerfall – buddhistisch gedeutet

Die Welt der Kunstakademie wurde ihm Yao bald zu eng, er reiste durch Taiwan und fotografierte verlassene Gebäude. In der schwarz-weiß-Serie Roaming Around the Ruins (1993) zeigt Yao betonierte Affen hinter einem verlassenen Hotel, zerlegte Dinosauriere in einem Freizeitpark, zerbröckelnde Militärbunker, überdimensionale Buddhafiguren auf Autofriedhöfen, sich selbst überlassene Fabriken, weil es günstiger geworden war, in China zu produzieren. Doch anders, als ich sie verstanden hatte, nämlich als Kritik an sinnloser Umweltzerstörung angesichts eines raffgierigen und zerstörerischen Kapitalismus, zielt Yao darauf ab, mit diesen Ruinen auf den Kreislauf des Lebens, die Unvermeidbarkeit von Leben und Tod, die Wiedergeburt hinzuweisen, ganz im buddhistischen Sinne. „Obwohl unsere kurze Anwesenheit auf dieser Welt von Verfall begleitet wird, sind diese stillen Ruinen Symbol für ein kontinuierliches Gebären und Sterben.“ (S.17) Seine Fotografien sind wie Spiegel, in denen man mit dem eigenen Schatten konfrontiert wird. Über einen Zeitraum von 20 Jahren entwickelte Yao diese Serie, darauf folgte mit Mirage – Disused Public Property in Taiwan (2012-20) eine weitere Serie mit Bauruinen: einige waren gebaut worden, um Wahlversprechungen zu erfüllen, andere bezeugen den sorglosen Umgang der Behörden mit der Ressource Umwelt, mit Land oder einfach mit öffentlichen Geldern. „Moskito Hallen“ werden sie genannt, weil nur Moskitos darin leben können.
In Territory Takeover (1994) arbeitet Yao das erste Mal exzessiv mit Gold: sechs sepiafarbene Fotografien, auf denen ein nackter Mann uriniert, sind über sechs goldenen Kindertoiletten angebracht: Taiwans Geschichte, so Sophie McIntrye, sei für den Künstler nicht history, sondern shitory (Kot und Geschichte sind im Chinesischen Homophone). Gold bedeutet Reichtum und Glück, doch „für mich ist Gold wie Kot. Sobald Geschichte und auch Kunst für Macht und Geld instrumentalisiert werde, sei sie nichts mehr wert, so Yao. (vgl. S. 32)
Der Durchbruch kam mit 28, als Yao zur Biennale nach Venedig eingeladen wurde – beachtlich, da Taiwan als Land nicht international anerkannt ist. Eine Einladung folgte auf die andere, 1997 entstand die Serie Beyond The Blue Sky: Hier wird in allen erdenklichen Formen gefurzt. Sophie McIntrye deutete dies daoistisch im Sinne von: Loslassen. Bis der Künstler während eines Seminars erklärte, er habe während seine Aufenthalts in San Francisco an Verstopfung gelitten, der Anus sei im Mittelpunkt seines Lebens und eben dann auch seiner Bilder gestanden.

Gold und Geld

Dekolonialisierung der traditionellen chinesischen Tuschmalerei, den taiwanischen „Funky Local Style“ zurückgewinnen, lautet eine Zwischenüberschrift in diesem Katalog – ein Motto, das bis heute Yaos Kunst prägt, wie auch die Ausstellung im August 2023 in Taipei zeigte. Figuren in traditionell gekleideten Gewändern treiben über pinkfarbene Gewässer, sitzen vor Computern – oftmals sind diese Szenen in Gold getaucht, oder es tauchen goldene Einsprengsel in Bambuswäldern auf. In einem Gespräch mit dem chinesischen Künstler Hou Hanru erklärt er die Verwendung von Gold mit seiner Affinität zur Tempelästhetik, so wie seine ganze Kunst von der Tempelarchitektur inspiriert sei. (S.64) Yaos neuere Arbeiten versteht er als Satire auf die traditionelle chinesische Gelehrtenmalerei; er male diese Pseudolandschaften auch, um die Absurdität traditioneller ästhetischer Normen herauszufordern. Alles, was falsch und heuchlerisch ist, fordert Yao heraus mit frechen Bildern. Nicht zuletzt mit seiner jüngsten Arbeit „Altar Space“, in der er den Hype um Kryptowährungen mit der Wahrsagerei in einem Tempel überblendet, denn: Für Reichtum zu beten ist für Tempelgänger schließlich so selbstverständlich wie für Krypto-Spekulanten.

Yao, so steht es in der Erklärung zu dieser Arbeit, zeigt sich auch hier einmal mehr als ewiger Skeptiker und Zyniker, der sich über jene lustig macht, die zwar die Wissenschaft ernst nehmen, aber an globale Märkte glauben und Götter, wenn der Erfolg lockt.

Sophie McIntrye (ed): Yao Jui-Chung. englisch, zahlreiche Abbildungen, 208 Seiten, Scheidegger & Spiess, Zürich / Tina Keng Gallerie Taipei, 2023

schön & glücklich

Ein Buch wie ein Leben – Autorin Alice Grünfelder und Fotografin Mine Dal zeichnen in Text und Bildern einen Lebensbogen.

«schön & glücklich» ist ein gemeinsamer Foto-Text-Band der Autorin Alice Grünfelder und der Fotografin Mine Dal. Das Buch schildert ein Leben und Möglichkeiten eines Lebens: von der Kindheit übers erste Verliebtsein bis hin zur schmerzhaften Trennung im Alter.

Ein Lebensbogen, der Abgründen entlanggleitet, von der Ohnmacht des Einzelnen erzählt und das Versehrte zeigt.

Die Figuren in den Geschichten werden seziert, ohne sie zu denunzieren, sie kommen vielmehr in ihrer eigenen Schönheit und Tragik zu Wort. Sei es das Kind, das nicht mehr Kind sein darf, eine Jugendliche, die auf den Anruf ihrer ersten grossen Liebe wartet.

Mine Dals Fotografien und Alice Grünfelders Texte führen in eine Welt, die erst auf den zweiten Blick zu erahnen ist. Das Bild verspricht zunächst Orientierung, die Haikus, Prosaminiaturen und Erzählungen schaben die Oberfläche frei, legen Verborgenes bloss.

Und das ist nicht immer nur schön.

Die Vertonung eines Gedichts von QT8 ist hier nachzuhören:

Einen Blick ins Buch gibt’s als Blick auf die Ausstellung in der Photobastei, Zürich: Vom Tag, als wir die ersten Fotografien aufgehängt haben.

Ein Text – Litfaßsäule – ist auf der Bühne des Alltags zu lesen.

Erste Stimmen zum Buch:

„Ein Spannungsbogen herrscht zwischen Mine Dals Fotografien und Alice Grünfelders Texten, handeln doch letztere von Menschen und ihren Beziehungen. Mine Dals stille Bilder zeigen weite Landschaften, Felder, städtische Innenhöfe, Spielplätze, entsorgtes Mobiliar und abgelegtes technisches Gerät. Es sind häufig Bilder des Dazwischen zwischen Landschaft und Stadt. Nicht wenige Bilder geben Rätsel auf, führen beim Betrachten zu neuen Assoziationen.“
schreibt Michael Guggenheimer in seinem Fotoblog filmeinwurf.

schön & glücklich hab‘ ich nun gelesen, hab’s richtig verschlungen. Ihre Texte treffen ja immer den Punkt, der so wund ist und doch gern übersehen wird, ganz bewusst. („Er bekam eine 1, du eine 2. / Du verstandest die Zeichen nicht. Diese Welt. Worauf es ankam.“) Viele Texte, die mich staunen ließen, einer aber, der mich richtiggehend überrumpelt hat: „Utopia“.
Manfred Lipp, Aus dem Alltag

„Ein kleines, ironisch-melancholisches Büchlein, das perfekt ist zum Verschenken und an einem regnerischen Sonntagnachmittag auf dem Sofa aufzuschlagen.“
Urs Heinz Aerni, Journalist

Alice Grünfelder, Mine Dal
schön & glücklich

Zahlreiche Fotografien & Texte, 19.5 x 13 cm
€ 27.00 / CHF 29

Zu bestellen beim Songdog-Verlag: info[a]songdog.ch.
Zudem erhältlich in jeder Buchhandlung.


Tsai Kun-Lin

Panels verlieren ihre Fassung

„Ein Junge, der gerne las“ – so lautet der Untertitel des ersten Bandes einer auf vier Teile angelegten taiwanischen Graphic Novel; weil dem Jungen die Bücher zum Verhängnis wurden? Denn als junger Mann wird Tsai Kun-Lin Opfer des Weißen Terrors, der Taiwan 40 Jahre lang im Griff hatte. Schließlich regierte die Partei Chiang Kai-Sheks uneingeschränkt über das Land, und missliebige Personen wanderten vor allem nach dem Aufstand vom 28.2.1947 rasch hinter Gitter oder wurden gleich hingerichtet. So wurde Tsai Kun-Lin beispielsweise angeklagt, weil er angeblich einer Untergrundorganisation angehörte, was aber nur ein Lesezirkel war. Sein Leben und damit auch die wechselhafte Geschichte Taiwans liegt nun auf Deutsch vor.

Eine Rezension zu Band 1 und 2 erschien am 17.8.2023 in der WOZ.

Li Bai

Li Bai: der verbannte Unsterbliche

Die erste Biografie dieses bedeutenden chinesischen Lyrikers liegt nun vor.

Noch heute müssen Schulkinder seine auswendig lernen, werden bei Festen seine Gedichte als Trinksprüche aufgesagt; Li Bai (701-762) ist wegen der Bild- und Sinnhaftigkeit seiner Gedichte der wohl bekannteste Lyriker Chinas. Nach ihm sind Schnäpse und Weine benannt, Kneipen und Hotels tragen seinen Namen: Li Bai ist zu einer Marke geworden. Im Westen wurde er zunächst einer breiteren Leserschaft durch die Nachdichtungen von Ezra Pound bekannt und dessen wohl bekanntestes Gedicht „Die Frau des Flusshändlers“. Im deutschsprachigen Raum dichtete Hans Bethge altchinesische Lyrik nach, und auf eine seiner Li-Bai-Übertragungen bezog sich wiederum Gustav Mahler bei der Komposition „Lied von der Erde“. Nun liegt zum ersten Mal eine ausführliche Biografie dieses Poeten auf Deutsch vor.

Wer war dieser Jahrtausenddichter, der an der Westgrenze Chinas, im heutigen Kirgisien, von einer Nicht-Chinesin geboren wurde? Ausführlich beschreibt Ha Jin von Li Bais Ehrgeiz, politische Karriere machen zu wollen, aber auch von fröhlicher Unbekümmertheit und lustvollen Ausschweifungen. Dabei stützt sich er auf Li Bais Gedichte, wenngleich er gelegentlich mild-empathisch über die Stilisierung des lyrischen Ichs lächelt. Zwei Sammlungen mit etwa 1000 Gedichten und Prosaminiaturen sind erhalten geblieben, auch wenn der größte Teil seiner Werkes offenbar verlorengegangen ist. Zudem greift der Biograf auf die Aussagen von Zeitgenossen zurück. Du Fu (712 –770) beispielsweise, der sozialkritischere und jüngere der beiden Lyriker – auch sein Ruhm ist bis heute ungebrochen – hat ihm einige Verse gewidmet, da er ihn als junger Mann bewunderte.

„Wenn sein Pinsel zum Schreiben ansetzt, weckt er Wind und Regen auf.“ „Dein Talent ist zu groß für Erfolg / deine Tugenden sind zu nobel, als dass anderes sie teilen könnten.“
Du Fu

Stolz und Ungeduld

Sich selbst beschrieb der Lyriker als jemand, der die Laute im Arm herumfläzt, Nektar schlürfe und schluckt Elixiere für ein langes Leben schlucke, als „Schildkrötenangler im Ozean“, als großer Vogel Rokh, worin sich sein taoistisches Naturverständnis zeigte und die Überzeugung, die Natur trage im Grunde die Dichtung in sich und offenbare sich nur demjenigen, der offen sei für die passenden Verse.

Li Bai fällt bereits als Junge auf, hat einen wachen Geist und ein gutes Gedächtnis, sodass der Vater ihm eine gute Ausbildung zuteil werden lässt in der Hoffnung, sein Sohn könnte später aufsteigen, denn er selbst ist schließlich nur Händler, gehört damit zu den unteren Schichten der chinesischen Gesellschaft. Doch das Studium der alten Klassiker findet Li Bai bald fad, er tut sich stattdessen im Schwertkampf hervor und fühlt sich eher zu den Schriften der Taoisten hingezogen. „xiaoyao you – frei und ungehindert umherschweifen“ macht er sich als Lebensmotto zu eigen und bald schon zum Maßstab seiner Lyrik. Auch hier schätzt er die reglementierte Form nicht, sondern orientiert sich an der frühen Volksdichtung, die weder eine feste Metrik noch ein Reimschema kennt.

Dennoch strebt Li Bai schon früh danach, als wichtiger politischer Berater an den Hof gerufen zu werden: Wie oft spricht er vor, gibt in Gesprächsrunden sein Wissen und seine Dichtkunst zum Besten, lässt sich indes hinreißen zu Selbstüberschätzung und Spott – was seine Gastgeber irritiert, weshalb sie ihn rasch loswerden wollen. Überheblichkeit, Stolz, Verachtung: wenig sympathische Charaktereigenschaften, die Ha Jin indes nicht weiter bewertet. Einmal nur gelingt ihm ein kurzer Aufenthalt in der Hauptstadt, doch nach zwei Jahren reicht er bereits sein Rücktrittsgesuch ein – zu schal erscheint ihm die Politisiereri. Andererseits ist Li Bai zeitlebens getrieben von der Sehnsucht, sich zurückzuziehen und einzig der Dichtkunst zu widmen. Dass aber der Rückzug in die Natur ohne harte Arbeit nicht zu haben ist, davor verschließt Li Bai zeitlebens die Augen. Nie wäre er Bauer geworden, Natur ist für ihn vornehmlich ein religiöser und ästhetischer Raum. Er liebt das Leben in freier Natur, das schon, lässt aber lieber seine Bediensteten die Äcker bestellen, während er sich am Anblick eines Wasserfalls ergötzt. Wie zerrissen Li Bai zwischen seinem politischen Ehrgeiz, seinem lyrischen Schaffen, seiner Trunksucht ist – oft treffen ihn Freunde und Mitreisende schon nachmittags betrunken an, was ihn jedoch nicht am Schreiben hindert -, ist ein Topos in dieser Biografie des Tang-Dichters.

Schwärmt er in seinen frühen Gedichten noch von Kurtisanen und einem Leben am Hof, von unversehrter Natur und hochtrabenden Plänen, erzählen seine Lieder zunehmend vom Elend und Leid der Menschen, was ihn zum Höhepunkt seiner Dichtkunst führt, so der Biograf Ha Jin. Einmal springt ihn das das Schicksal der Treidler am Oberen Yangtse an. “Wie schwer sich die Treidler mit dem Kahn taten. / Das schlammige Wasser war ungenießbar, / jeder Kessel nach dem Abkochen halb voll mit Erde. / Von Ferne klang das Arbeitslied, das sie sangen. / Es brach mir das Herz und rührte mich zu Tränen. / Tausende Männer brachen riesige Steine, / und konnten sie kaum zu Ufer schaffen. / Sieh die vielen Felsbrocken, die noch herumliegen – / die endlose Fron machte mich weinen.“

Spät im Leben folgt die sehnsüchtig erwartete Chance, doch Li Bai setzt auf das falsche Pferd und macht sich für einen Rivalen des Kaisers stark. Er wird verhaftet, noch im Gefängnis tobt Li Bai, er sei zu Unrecht eingesperrt worden. Als der Kaiser ihn amnestiert, meint er, dies habe er seiner Dichtkunst zu verdanken. Schließlich wird er im Januar 764 als Berater an den kaiserlichen Hof gerufen, doch da ist er schon zwei Jahre tot. Der Legende nach, die sich bis heute hartnäckig hält, war er mit einem Boot unterwegs auf einem Fluss und wollte in betrunkenem Zustand den Mond auf dem Wasserspiegel umarmen.

Fron und Frauen

Was Li Bais Gedichte neben der Bildhaftigkeit und Regellosigkeit seiner Werke noch unterscheidet, ist die weibliche Perspektive in manch seiner Gedichte. Er schreibt über Kurtisanen und Sängerinnen, aber auch über Arbeiterinnen und seine erste Frau, die er bemitleidet, dass sie einen so untüchtigen und erfolglosen Lyriker zum Mann hat. „Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr / bin ich betrunken und schlapp wie Matsch. / Wie schrecklich für dich, dass du Bais Frau wurdest. / Es ist, als hätte man einen Idioten zum Mann.“ Seine zweite Frau, eine überzeugte Daoistin, hatte vergeblich versucht, ihn von der politischen Bühne fernzuhalten. Doch „seine Heimat war die Straße und sein Wesenskern das ewige Wandern“.

Die Problematik, sich am lyrischen Ich für eine Biografie auszurichten, erläutert die kompetente Übersetzerin Susanne Hornfeck in einem Nachwort: Ha Jin interessiere sich weniger für die Form der Gedichte, sondern lediglich für deren Inhalt, was die Übersetzerin in ein Dilemma stürzte. „Meine Aufgabe war es, Ha Jin zu übersetzen, nicht Li Bai. Dennoch habe ich das als Sinologin natürlich mit einem Seitenblick auf das Original getan. (…) Insofern war ich bei diesem Übersetzungsauftrag gleichzeitig Dienerin zweier Herren.“

Ha Jin erzählt linear und konventionell das Leben des Dichters nach, wobei sich die Frage aufdrängt, wie sich eine Biografie vielleicht anders als fadengerade erzählen ließe? Wenn sich die Zerrissenheit zwischen Rückzug und Karrierewillen in einer ermüdenden Redundanz wiederholt, weil Li Bai nicht aus sich herausfindet und es ihm zeitlebens nicht gelingt, endlich in Einklang mit den ihn zerreißenden Ansprüchen zu leben? Das moniert auch der Literaturkritiker Han Zhang in der New York Times. Gleichwohl sieht er Parallelen im Leben des Tang-Lyrikers Li Bai und Autors Ha Jin: Auch Ha Jin musste seine Heimat verlassen, seine Empathie mit dem Dichter rührt an eigene Gefühle, seine Sehnsucht, endlich anzukommen, die Zerrissenheit hinter sich zu lassen. In dem Gedicht „Dankbarkeit“ schreibt er über Du Fu und Li Bai, über deren bitterem Schicksal, aus dem so wunderbare Poesie erwuchs. Bitternis als Grundlage für exzellente Lyrik gar?

Der Rückzug à la Li Bai hat jedenfalls Tradition – Unter dem gegenwärtigen harschen Regime hört man gelegentlich von Kulturtätigen, die sich aufs Land zurückziehen, um dort auf bessere Zeiten zu warten. Dass Bedeutendes in dieser neuerlichen selbstgewählten Isolation entsteht, darauf wird zu hoffen sein.

Erschienen ist eine kürzere Rezension in der NZZ, das Buch selbst wurde bei Matthes&Seitz veröffentlicht.

Ha Jin: Der verbannte Unsterbliche. Das Leben des Tang-Dichters Li Bai. Aus dem

Buch Vernissage Schön Glücklich

„schön & glücklich“ – Noch …

… kann ich es kaum glauben: Nach fünf Jahren, nach dem immer wieder neuen Kombinieren von Text und Fotografie, dem Überarbeiten, dem Weglassen und Hinzufügen, dem Überdenken und neu schreiben, der Verlagssuche, feiern wir – Mine Dal und Alice Grünfelder – unsere erste gemeinsame Publikation „schön & glücklich“. Hinter dem Titel könnte durchaus ein Fragezeichen stehen, denn genau um die Hinterfragung dieser gesellschaftlich erwünschten, aber unerquicklichen Ziele geht es uns.

«schön & glücklich» (Songdog-Verlag, September 2023) skizziert in Text und Bild einen Lebensbogen, der Abgründen entlanggleitet: von der Kindheit übers erste Verliebtsein bis hin zur schmerzhaften Trennung und inneren Schönheit im Alter. Bei der Vernissage sprechen wir über die Bedeutung von leeren Schaukeln im Niemandsland, über Verborgenes unter Plastikplanen, über steinerne Landschaften. Denn die Fotografien und Texte führen in eine Welt, die erst auf den zweiten Blick zu erahnen ist. Und das Zusammenspiel von Sprache und Bild eröffnet noch eine weitere, ein dritte Dimension.

Das Gespräch moderiert Nadine Olonetzky, Autorin und Herausgeberin von Fotobüchern.

Ort und Zeit: Photobastei, Zürich; 7. September 2023, 19 Uhr.

Taiwankatze

Taiwan – Eine Grenzüberschreitung mit Katze

Gastbeitrag von Margrit Manz

Von 1989-94 hatte die Sinologin, Übersetzerin und Schriftstellerin Susanne Hornfeck eine Stelle in der Fremdsprachenabteilung der National Taiwan University angetreten. Den Anfang in Taipei beschreibt sie als harte Erfahrung. „Ich bin aus der Zeit gefallen. Überall fühle ich mich einen Kopf zu groß, bin sofort als Ausländerin erkennbar. Eine feuchte Hitze überzieht meinen Körper mit einem Schweißfilm, unvermittelte Regengüsse durchweichen die Schuhe, Moskitos stürzen sich auf unbedeckte Körperstellen. Um in die Uni zu kommen, muss ich zweimal täglich die Stadt durchqueren, immer im Nahkampf mit dem chaotischen Verkehr.“
Ein Glück, dass sie dieses Abenteuer nicht alleine bestreiten muss. Ihr Mann, im Buch G. genannt, bietet ihr nicht nur Halt in der Fremde, sondern auch ein mentales Zuhausesein, das nur eine langerworbene Symbiose möglich macht. Mit G. sind wieder Rituale in den Alltag eingekehrt, zum Beispiel der abendliche Gang mit Zigarette und Müllbeutel. Er versteht sich auch ohne weitreichende Sprachkenntnisse mit den Menschen in der neuen Umgebung. G. ist Maler, also ein Augenmensch, und sieht die Schriftzeichen in ihrer ursprünglichen Bedeutung, als Wasser, Mond und Sonne. Auf dieser Ebene kann er mühelos mit dem Hausmeister plaudern, irgendwie geht’s um Familie, Hühnerhaltung und Gemüseanbau. Dass bald noch eine weitere Hausgenossin hinzukommt, macht aus dem Zweier- ein Dreierbündnis und ermöglicht die perfekte Balance, eine fremde Kultur bewohnen zu können.
Die Wildkatze Shaobai wird der Autorin ausgeliehen, um Plagegeister wie Ratten und Mäuse fernzuhalten. Sie ist bei weitem kein Schmusetier, sondern kratzbürstig, unnahbar und verteidigt ihren Willen mit ausgefahrenen Krallen. Ihre Streifzüge durch die benachbarte Wildnis sind unberechenbar. Sie kommt und geht wie sie will. Und doch entsteht eine Art Kommunikation zwischen der Autorin und ihr. „Ihr kann ich von meinem anstrengenden Tag erzählen und sie spricht zurück. Sie miaut in langen, modulierten Phasen. So reden wir miteinander.“ Trotzdem oder gerade deswegen bleibt Shaobai immer eine echte Katze und wird nie zum Lebensersatz. Der Name Shaobei bedeutet übrigens „wenig Weiß“ und hat mit einem weißen Fleck unter dem Schnauzbart zu tun.
Nach und nach erwärmt sich Shaobai für ihre menschlichen Mitbewohner und erwartet die Autorin schon, wenn sie abends von der Universität kommt. Doch will sie nicht sofort begrüßt werden, sondern klettert erst den Baum hinauf, um sich von oben gebührend zu präsentieren. Auch G. wird umworben. Wenn Shaobai seine Ischias-Schmerzen spürt, schmiegt sie sich heilend an seine Hüfte.

Einen „Wildling“ zähmen?

Um das mal klarzustellen, auch wildlebende Katzen verirren sich manchmal in die Nähe des
Menschen. Doch im Gegensatz zur Hauskatze kommen sie wunderbar ohne dessen Zuwendung zurecht. Wildkatzen, wie Shaobai, lassen sich nicht mit jedem ein. Sie sind nicht wirklich auf den Menschen als Sozialpartner geprägt. Gewöhnung ist erlernbar, und das dauert ein Leben lang. So hat Shaobai gelernt, mit ihren beiden Mitbewohnern zu leben! Die größte Liebe, die man solch einem Tier entgegenbringen kann, besteht darin, dass man akzeptiert, den Vierbeiner nie richtig „besitzen“ zu können! Die Gegenliebe funktioniert nur unter Wahrung einer körperlichen Distanz. Das bedeutet nicht, dass die Katze ihre Menschen weniger gern hat. Zum Glück sind Katzen ein Ausbund an Neugier, man kann sie immer wieder mit etwas „Neuem“ verführen.
Obwohl Shaobai eine Haupt- oder Mittlerrolle im Buch einnimmt, wird hier keine nette
Katzengeschichte erzählt, sondern in 32 leichtfüßigen – oder sollte ich sagen – samtpfotigen Kapiteln eine Hommage an das Leben und das Glück gemacht. Denn es ist nichts anderes als Glück, das Leben genau am richtigen Ort und zur richtigen Zeit verbringen zu dürfen. Fünf Jahre, die abenteuerlich und herausfordernd waren und noch lange nicht fertig geschrieben sind.

Vom Sinn des Fremdseins erzählen

Im Buch Taiwankatze, das vor kurzem im Drachenhausverlag erschienen ist, erzählt Susanne Hornfeck über ihre Erfahrung, vielfältige Grenzen zu überschreiten. Grenzen, die sowohl im mentalen wie auch im physischen Bereich eigentlich fest eingeschrieben zu sein scheinen, deren Überschreitung dann im besten Fall die Entdeckung von unbekannten Zwischenorten oder fremden Kulturen ist. Doch wie sagt man so schön: Nichts ist aus sich heraus und notwendig fremd. Fremd ist nur, was als solches erlebt wird. Solch ein Gefühl also umzuwandeln in etwas Akzeptables oder sogar Vertrautes, ist manchmal Schwerstarbeit, für Menschen genauso wie für Tiere. Susanne Hornfeck weiß eine Menge über das Leben in Taipei zu berichten, etwa, dass Taiwaner auf dem Friedhof Angst vor hungrigen Geistern haben oder dass große schwarze Vögel, Drongos genannt, täuschend echt Klingeltöne von Handys nachahmen können. Sie erklärt, warum es Filmvorführungen vor der Statue des Erdgottes gibt, der wohl Kungfu-Darbietungen bevorzugt, und warum ihre Studenten total irritiert auf Goethes Vers „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ reagieren. Dass im Tale Hoffnungsglück grünet, ist für sie nicht nachvollziehbar, denn ein Frühlingserwachen nach einem kalten Winter kennen die Taiwaner nicht. Es ist entweder heiß oder weniger heiß auf der Insel.

„Ein neues Leben aufs Gleis setzen“

Susanne Hornfecks Interesse an China wurde schon als Schülerin geweckt, als ihr ein chinesisch-deutscher Gedichtband in die Hände fiel. Die fremdartige Schrift faszinierte sie. Damals konnte sie nicht wissen, dass diese Leidenschaft für ein ganzes Leben reichen würde. Hornfeck studierte später Sinologie, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache in Tübingen, London und München. Danach ging sie für fünf Jahre als DAAD-Lektorin nach Taipei, um Deutsch zu unterrichten. Unterdessen sind über dreißig Jahre vergangen, und es war höchste Zeit, ihren Aufenthalt in Taipei und ihre Rückkehr nach Schliersee noch einmal literarisch aufzurufen. Eine Neuorientierung nach ihrer Rückkehr blieb nicht aus, und auch hier half die Katze, Routine in die Alltagsgeschäfte zu bekommen. Als gefragte Übersetzerin blieben die Angebote nicht aus. Neben renommierten Autoren aus China und Taiwan (Ha Jin, Qiu Xiaolong, Zhang Ailing, Yang Mu) übersetzt sie auch aus dem Englischen. Ihre Domäne sind Sachbücher, Kinder- und Jugendbücher. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem mit dem C.H. Beck Übersetzerpreis, der Blauen Brillenschlange (Stiftung Pro Helvetia), dem Max-Geilinger-Übersetzerstipendium und dem Sonderpreis der Jury der Jungen Leser des Literaturhauses Wien ausgezeichnet. Sie ist Autorin mehrerer Jugendbücher in der Reihe Hanser dtv und hat zusammen mit Nelly Ma Bücher über TCM verfasst. Heute lebt und arbeitet sie in Oberbayern. Was für sie die Kunst des Übersetzens ausmacht, hat Hornfeck so beschrieben: „Auch literarische Texte verlassen eine Kultur, setzen in eine andere über und führen in einer anderen ein neues „übersetztes“ Dasein.“

Weiter „mit eingezogenem Kopf“

„Die Inselrepublik, in die wir nach unserem Aufenthalt von 1989 bis 1994 immer wieder zurückgekehrt sind, ist über die Jahre eine andere geworden. Taiwan hat sich nach den Rangeleien der Anfangszeit zu einer mustergültigen Demokratie entwickelt. In Sachen Diversität können wir von Taiwan nur lernen. Eine ehemalige Hackerin ist die erste Transgender-Ministerin der Welt. Zu den Naturkatastrophen, wie Erdbeben, Taifune, Überschwemmungen und Erdrutschen ist jetzt die menschengemachte Bedrohung vom gegenüberliegenden Ufer hinzugekommen. Das wandelt natürlich auch die Menschen. Der Optimismus aus den Jahren des Aufbruchs ist zu einer Art „Schockstarre“ geworden und einem Leben „mit eingezogenem Kopf“ gewichen“. So fasst Susanne Hornfeck ihre Gedanken zur aktuellen Situation in Taiwan zusammen.
Taiwans wechselvolle Geschichte von einer Provinz, über eine Kolonie und Diktatur bis hin zur Demokratie war ein mühevoller Prozess. Immerhin war das Kriegsrecht in Taiwan von 1949-87, dass längste das jemals in der Welt verhängt wurde. Seit Ende der 1980er hat sich das Land zu einer der fortschrittlichsten Demokratien Asiens entwickelt mit einer gesetzlich verankerten Ehe für alle und einer vorbildlichen Gesundheitsversorgung. In nur wenigen Jahren wurde die Gründung neuer Zeitungen und Zeitschriften liberalisiert. Zahlreiche soziale Bewegungen forderten immer wieder politische, aber auch gesellschaftliche Reformen ein. Auch der Umweltschutz wurde dabei zu einem wichtigen Thema. Unterdessen hat Taiwan durch seine Halbleiter- und Computerchipproduktion weltweit eine große wirtschaftliche Bedeutung erlangt. Die Probleme Taiwans liegen also weniger in der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern in der geopolitischen Weltlage.

Kompliment an die Autorin

Kurzum, es macht einfach Spaß in den Erinnerungen der Autorin zu schwelgen. Durch die Katze Shaobai wird gekonnt eine Brücke zwischen ihnen geschlagen. Gegenteiliger können wohl die Kulturen nicht sein, die taiwanische, wie sie vor dreißig Jahren war und in vielem noch heute funktioniert, und die Oberbayerische, die sicher auch ihr Kontinuum vorweisen kann. Susanne Hornfeck macht deutlich, wie schwer es war, nach fünfjährigem Aufenthalt in Taipei ins bayrische Leben zurückzufinden. Als das Ehepaar beschlossen hatte, auch die Katze mit an den Schliersee zu nehmen, wussten sie nicht, wie Shaobai das Fremdsein verkraften würde. Vielleicht ist es ihrem eigenwilligen Charakter zu verdanken, dass sich die Zumutungen der Ankunft und die Neugier auf Neues die Waage hielten.
Mit der „Taiwankatze“ ist ein poetisches Buch über die Freundschaft zwischen Mensch und Tier entstanden. Eine wunderbare Lektüre, ein Lesevergnügen der Extraklasse.

P.S. Das erste Katzencafé in Taipeh
Die meisten Katzencafés der Welt befinden sich in Japan. Mittlerweile können Menschen in über 300 Cafés in ganz Japan ihren Kaffee trinken und dabei eine Katze streicheln – wenn diese es zulässt. Katzencafés sind in Japan vor allem deshalb so beliebt, weil viele Wohnungen dort sehr klein sind und sich nicht für die Katzenhaltung eignen. Der Trend stammt allerdings aus Taiwan, wo 1998 in Taipei das erste Katzencafé der Welt eröffnete.

Margrit Manz ist Journalistin und Redakteurin mit Themenschwerpunkt China. Seit über 20 Jahren berichtet sie über Wirtschaftsbeziehungen und Kulturaustausch, informiert über Tourismus und regionale Küche, rezensiert neue Bücher. Ihre Texte werden regelmäßig in Print- und Online-Magazinen in Deutschland und der Schweiz veröffentlicht, u.a. im Magazin RUIZHONG der Gesellschaft Schweiz-China und auf der Internetplattform China Report.

Susanne Hornfeck: Taiwankatze. Drachenhausverlag 2023, 100 Seiten.

Wut

CH-Frauenstreik – aus taiwanischer Sicht

Zum Frauenstreik am 14. Juni 2023 bat mich der Rotpunktverlag um ein Statement. Warum nicht einmal von außen beschreiben, was an der sogenannten Gleichberechtigung à la Suisse auffällt? Ich fragte also bei meinen taiwanischen Bekannten nach, die in der Schweiz leben. Denn die taiwanische Zivilgesellschaft ist für ihre Streitbarkeit durchaus bekannt.

Die Gleichberechtigung in Taiwan, auch die Lohngleichzeit zwischen Mann und Frau ist in Taiwan eine Selbstverständlichkeit bzw. Taiwan belegt diesbezüglich – je nach Datenerhebung – weltweit und insbesondere in Asien die vordersten Plätze. So sagt beispielsweise Sound-Artistin Pei: „Gender equality for me is just like water or air.“ Mina Yeh schreibt, dass sie über den Frauenstreik in der Schweiz nie groß nachgedacht und erst aus den Medien erfahren habe, dass Frauen und Männer ungleiche Löhne erhielten. „Warum bezahlen Frauen hier mehr Krankenkassenprämien als Männer?“ fragt eine dritte. „Als ob wir von der Gesellschaft dafür bestraft werden, Frau zu sein?“

Für Monica Hung, Mutter und Pianistin, ist der „Frauenstreik“ absolut notwendig. „Ich war überrascht, als ich vor drei Jahren in die Schweiz zog, wie konservativ und traditionell die Gesellschaft hier ist. Zwar geben die Menschen sich betont kinderfreundlich, aber nicht so freundlich gegenüber arbeitenden Müttern. Die meisten glauben noch immer, dass eine Mutter zu Hause bleiben sollte, wenn sie nicht arbeitet, und dass sie unverantwortlich handelt, wenn sie ihre Kinder in eine Tagesstätte schickt. Muttersein ist ein 24-Stunden-Job, der das ganze Jahr über unbezahlt ist. Warum sollte eine Frau das ganze Jahr über zu Hause bleiben müssen, um sich um ihre Familie und ihre Kinder zu kümmern, wenn sie Mutter wird? Und wenn sie eine gute Arbeit findet, muss sie, wenn ihr Kind in den Kindergarten geht, zum Mittagessen zu Hause sein, weil das Kinderbetreuungssystem so rückständig ist. Selbst in Taiwan essen die Kinder seit 40 Jahren in der Schule zu Mittag. Als Frau und Mutter, die lange Zeit in Asien in Taiwan gelebt hat, war ich verblüfft, dass die Gesellschaft in diesem fortschrittlichen westeuropäischen Land immer noch in einer agrarisch strukturierten, von Männern dominierten Gesellschaft feststeckt.“



Lawine

Lawinengeröll

Lektürenotiz zu einem Bergroman. In Robert Prossers jüngstem Roman wird viel zugeschüttet, entgleitet, driftet ab.

Die Kusine des Protagonisten Xaver und deren Freund werden von einer Lawine erfasst, sie wird gefunden, nach ihm wird noch immer gesucht. Zähes Misstrauen legt sich über das Dorf: Wer ist schuld? Aus Xavers Familie kann ja nichts Gutes kommen, sagt die Mutter des vermissten Jungen, als sie Xaver einmal auflauert. Und ja, die blutig-fleischigen Schlachtszenen am Anfang könnten diesen Verdacht aufkommen lassen, doch bei der Beschreibung und überhaupt beim Lesen des Romans merkt man schnell, dass es um etwas anderes geht als um Offensichtlichkeiten. Zum Beispiel um Glück, wenn Xaver und sein Freund Flo, der von einem Pilztrip nicht mehr zurückfand in die Welt, nebeneinander auf einem Felsen sitzen und ins Wasser schauen.

Berührend ist das Verhältnis zwischen Xaver und seiner Mutter, die sich nach dem Bankrott des Gasthofes – wie ein Lawine stürzt sich die unaufhaltsame Moderne ins Tal und reißt alles mit sich, was den neoliberalen Normen und Ansprüchen der Touristen nicht mehr genügen kann – in die felsenkalte Gebirgseinöde zurückzieht und ein schwärendes Mutterloch zurücklässt. Ihr Mann und Vater von Xaver ist längst dahin wieder zurückgekehrt, woher er einst gekommen war, weil ihn die Gastwirtinspielerei seiner Frau nur noch abgestoßen hat. Die lebt nun dort oben in einer Steinwelt, wohin sich bloß wenige Menschen verirren, in einem nicht über alle Zweifel erhabenen Zusammenspiel mit dem Eremiten Mathoi – einem Seher bestenfalls, der dem Sohn nicht geheuer ist. Doch ausgerechnet und wie Xaver es auch hofft, findet der Einödler den vermissten Jungen. Um aber seine Mutter und Mathoi vor den gehässigen und Zungen wetzenden Dörflern zu schützen, gibt er vor, den Jungen selbst gerettet zu haben.

Lawinen schütten zu. Robert Prosser deckt in seinem kühlkalten Bergroman auf, ohne seine Figuren zu entlarven, erzählt von leisen Versehrungen, von Träumen und Sehnsüchten, die meistens unerfüllt bleiben. Und doch klingt das Ende des Romans so, als gehe das Leben um ein Nuance versöhnlicher weiter.

Robert Prosser: Verschwinden in Lawinen, Jung und Jung, 2023, 192 Seiten

Robert Prosser, der auch ein begnadeter Perfomer ist, wurde zu den Literaturtagen in Klagenfurt 2023 eingeladen (hier gehts zum Autorenporträt).