An einem Sonntag in Paris

Leer sind die Straßen, und wenn ich mich recht erinnere, war es auch früher so, wenn ich ausnahmsweise samstags für das Baguette eine Straße weiter gehen musste, weil die anderen Bäckereien geschlossen hatten. Aber ich muss mich anstrengen, will ich mich an diese Leere erinnern. Ist es die Erinnerung, die so mitten hinein trifft? Oder ist es dieses beständige Sonntagsgefühl, das in all den Jahren dasselbe geblieben ist, nur schlummerte, jetzt unvermittelt wieder hervorbricht? Ist die falsche Erinnerung ein Schmuggelpfad des Denkens? Warum scheint in der Erinnerung die Stadt so groß und laut? Vielleicht nicht hier, nicht im 5. und 6. Arrondissement, nicht an diesem Sonntag, vielleicht sind Ferien. Aber auch an den Tagen zuvor war es nicht anders, so schien mir. Strichgerade Boulevards, zu beiden Seiten vier- bis fünfstöckige Appartementhäuser, darüber, abgesetzt nach hinten, die kleinen Dachluken der Dienstmädchenzimmer. Ab und an ein Restaurant, Läden und Cafés mit Rollgittern verschlossen, als hätte man aufgegeben, als wäre ohnehin nichts mehr zu erwarten.

Die Fahrt mit der Metro, zuvor noch Tickets gekauft, aber nicht am Schalter – selbst an dieser kleinen Metrostation gibt es einen Infoschalter, doch die Frau zeigt einem lediglich, wie der Automat zu bedienen ist. Place de la Concorde, die Station ist geschlossen, wir steigen Madeleine aus. Fouchon hat die Schokolade aus dem Schaufenster geräumt, die Juweliere ihren Schmuck. Kameras, wird auf Schildern gewarnt, seien überall angebracht. Concorde, Tuillerien, darüber im Jeu de Paume ein Film über eine verschwundene Großmutter in Kambodscha, eine von vielen, die dem Regime von Pol Pot zum Opfer gefallen ist. Der Enkel und Filmemacher Vandy Rattana sucht vergebens ihr Grab, filmt stattdessen zwei Mangobäume, unter denen ein Massengrab sein soll. Der Bürgermeister des Dorfes weiß von nichts, seinen Vater interessiert es nicht sonderlich. Das Schweigen im Film ist fast unerträglich.

Über die Champs Elysee brettert ein Rennwagen mit aufheulendem Motor hinauf zum Triumphbogen. Der Gehsteig, wie immer nur der rechte vom Louvre aus gesehen, dicht bevölkert, Französisch hört man selten, dafür viele andere Sprachen. Und Gesichter, die man keiner Weltgegend zuordnen kann. Schwer bewaffnete Soldaten stehen am Sternenplatz. Sollte gerade hier und jetzt? An einem Sonntag?

Hinüber auf die andere Straßenseite zum Luxus-Refugium Louis Vuitton, zur Ausstellung „Le fil rouge“, der Titel sprang mir selbst im klein gedruckten „L’officiel spectacle“ ins Auge. Fäden quer gespannt durch Räume, die schwarzen Geflechte von Chikara Shiata sind wie dicht gesponnene Netze, geben nichts mehr frei. Fred Sandback will mit seinen Fäden Nicht-Materie, Nicht-Existenz aufzeigen. Im Video von Hans Op de Beeck flickt ein sichtlich gealterter Punker seiner Lady das Hemd. Auf einer Parkbank in apokalyptischer Umgebung, Weltende. Inszenierte Melancholie und draußen das regennasse Paris. Ist er das, der rote Faden? Die Ausstellungsmacher greifen weit zurück auf Goethe, zitieren ihn mit seiner Erklärung vom roten Faden, der durch englisches Tauwerk gehe und sich nicht herauswinden lasse, ohne alles aufzulösen.

Und abends singt La Demoiselle inconnu:

Nos silences nos absences se confondent et se touchent.

Noch später lese ich bei Kurt Aebli: „Der Sonntag war wieder Nichttag der Regen eine nichtexistierende Wand.“