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Küsten – von Tsai Wan-Shuen

Lyrik – übersetzt aus dem Chinesischen von Alice Grünfelder, erschienen im hochroth Verlag 2024.

Wenn der letzte Paradiesfisch mit dem Bauch nach oben liegt und Vater den schummrigen Mittagsschlaf hält, schlagen Leuchtkäfer Passwörter mit ihren Flügeln. Warum aber haben die weißen Delphine der Insel den Rücken gekehrt?

Die taiwanesische Künstlerin und Lyrikerin Tsai Wan-shuen konzentriert sich in ihrem Werk – mixed-media Installationen, Videos, Gedichte, Workshops an Schulen – auf die Auseinandersetzung mit dem Meer, der Inselwelt, den Verlust einer intakten Natur. Lakonisch, mit etwas Wehmut und Bitterkeit geht sie an Küsten entlang, immer das Meer im Blick, den ein wenig verlorenen Menschen, und bietet mit ihren Gedichten seltene Einblicke in die sogenannte Meeresliteratur als wichtiges Merkmal der zeitgenössischen taiwanischen Literatur.

Fischer
Generationen von Seefahrern sind an Land gegangen
ihre Netze taugen nicht mehr, Fische zu fangen
nun wühlen sie stattdessen im Müll
einst war es eine Beziehung
ein beseelter Tausch

Tsai Wan-Shuen, Küsten

Aus dem Nachwort:

Mitten im Meer geboren, sammelt Tsai Wan-Shuen Zeichen im Taumel unserer Zeit, Töne und Schwingungen, die wir nicht mehr sehen, nicht mehr hören – die Dichterin hat ein eigenes lyrisches Sensorium entwickelt und ist Archivarin der Zeichen aus dem Meer. Das kleinste Detail, das Elementarteilchen aller Lebewesen, ist ihr eine Quelle der Poesie. Ihr Schreiben ist tastend, intuitiv, ihr Ton sinnend, sinnlich; sie sucht, was einmal war, was sein könnte, warum etwas so ist, wie es geworden ist. Sie klagt nicht an, auch wenn an den Küsten, den scharfkantigen Trennlinien zwischen Wasser und Land, Leben zerschellt. So könnte das Gedicht über die Weißen Delphine als Elegie gelesen werden. Es ist wohl das einzige in ihrem Oeuvre, das als konkrete Bezugnahme und Kritik an den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen ist: während Umweltschützer gegen den Bau eines weiteren Chemiewerks an der Westküste Taiwans protestierten, wo das Habitat der Delphine ohnehin schon empfindlich gestört ist, antwortete der damalige Vizepremier lakonisch: „Die Weißen Delphine sind schlau, wenn die Umgebung ihnen nicht mehr gefällt, weichen sie einfach aus.“ Der Schönheit der (Meeres-)Welt wird die neue Totalität gegenübergestellt.

Die Inselwelt mit ihrer Ambivalenz ist zentral im Werk von Tsai Wan-Shuen, sei es in ihren Kunstinstallationen oder Video- und Tonaufnahmen. Sie selbst ist auf Penghu aufgewachsen, einer Insel mitten im Meer zwischen China und Taiwan. Fern von Inselromantik sind ihre nachdenklich gestimmten Betrachtungen zur Natur – die Menschenwelt wirkt wie ein ferner Echoraum. Fische aller Arten springen, schwimmen in diesen Versen, werden geräuchert, gegessen, liegen im Abfluss. Derweil laden die Menschen den „Schaum der Welt“ hoch, drehen sich immer schneller um sich selbst, werden darüber hart – fast dystopisch glimmt kühl und kalt in der Ferne nur noch ein kleines Feuer („Familie im Frost“).

Die Autorin Tsai Wan-Shuen

Tsai Wan-Shuen wurde 1978 auf Penghu geboren, einer Insel westlich von Taiwan. Sie lebte einige Jahre in Frankreich, wo sie Bildende Kunst studierte. Seit 2004 erarbeitet sie zusammen mit ihrem Mann, dem Sound-Artist Yannick Dauby, Video-Sound-Installationen. Mit ihren Arbeiten zur Insel Penghu und den indigenen Volksgruppen Hakkas und Atayal wurden sie 2016 zur Sydney Biennale eingeladen. Ihr künstlerisches Werk – seien es Installationen und Videos oder Lyrik – ist geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Meer, der Welt der Inseln, der Natur allgemein. Bisher sind zwei Lyrikbände erschienen:
潮 汐“(Flut, 2006) und „ 感官編織” (Verwobene Gefühle, 2021).

Tsai Wan-Shuen: Küsten.
Gedichte, zweisprachig – Chinesisch, Deutsch
Aus dem Chinesischen von Alice Grünfelder
mit Zeichnungen von Tsai Wan-Shuen
Verlag hochroth Leipzig, 2024
41 Seiten, Broschur, 10 Euro
ISBN: 978-3-949850-35-6

Verlagswebsite:
hochroth.de/8813/tsai-wan-shuen-kuesten/

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Buchcover hochroth-Verlag