Am Fusse des Kavulungan

Eine philosophische Reise in den Süden Taiwans

Ein Schülerin wird von ihrem buddhistischen Meister weggeschickt: um die richtige Art des Sehens zu erlernen, um weiterzukommen im Leben – im buddhistischen Sinne; ein bekanntes Motiv in der ostasiatischen Literatur. Damit beginnt auch die taiwanische Autorin Lung Ying-Tai ihre „philosophische Reise“, so der Untertitel ihres jüngst auf Deutsch erschienenen Buches „Am Fuße des Kavulungan“.

Der buddhistische Meister rät also seiner zutiefst verunsicherten Schülerin und Ich-Erzählerin: „Geh zurück ins Dorf. Bleib zwei Jahre lang am Fuße des Kavulungan und schaue dich dort aufmerksam um. Such mich nach den zwei Jahren wieder auf.“

Zwar zögert die Erzählerin zunächst, denn ein Dorfleben erscheint ihr mäßig attraktiv, das Dorf wie ein Loch, um das sich von Großstädtern erlogene Märchen von wunderschönen Landschaften ranken. Doch der Meister bleibt hartnäckig, unbeeindruckt von ihren Zweifeln. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich auf die Reise in den Süden Taiwans zu begeben. In 84 kurzen Geschichten – oder zeichnerischen Notizen, wie die Autorin im Nachwort ihr Schreiben deutet – entfaltet sich die Geschichte des Landes im Großen und des Dorfes im Kleinen. Zögerlich öffnet sich die Ich-Erzählerin den Menschen, ist lange hin und her gerissen zwischen der Sehnsucht nach dem Meister und seiner buddhistischen Klause auf der Insel Lantau in Hongkong, wo sich sich ruhig und weitab von weltlichen Angelegenheiten ihrer buddhistischen Versenkung hingegeben könnte, und den Alltäglichkeiten, mit denen sie sich nun im Dorf herumschlagen muss. Erst als sie sich einlässt auf die Natur, die Menschen, sich mit ihnen verbindet, erst da sickert so etwas wie Ruhe in ihre rastlose Seele.

Das Leben im Dorf ist eines zwischen Traum und Erwachen oder zwischen der sogenannten Realität und der Geisterwelt. Immerhin sei das Austreiben eines übelwollenden Geistes billiger als ein Arztbesuch, rechnet eine Geisterbeschwörerin vor. Eines Tages trifft die Ich-Erzählerin ein Mädchen, das uralt, weise und aus einer anderen Welt zu sein scheint. Die Einführung dieser Figur erlaubt es der Autorin, im Dialog mit dem unsichtbaren Mädchen über zahlreiche Themen zu raisonnieren: sei es über das Wesen der Schmetterlinge oder das Ansteigen des Meeresspiegels aufgrund der Klimakrise. Doch sie belässt es nicht etwa dabei, denn im Laufe der Geschichte schält sich heraus, dass das Mädchen einst Opfer eines Gewaltverbrechens war – daher die späte Rache, als Geist wiederzukehren? Jedenfalls bildet diese Geschichte einen raffinierten Gegenpol zur buddhistischen Einsicht, wonach das Leben nichts als Staub sei – so jedenfalls Ich-Erzählerin nach Ablauf der zwei Jahre „Licht verschwindet, die Gedanken verflüchtigen sich, aller Staub wird zu Nichts.“

Daher rührt auch der Untertitel des Buches, „eine philosophische Reise“, die eine der bekanntesten Autorinnen Taiwans mit feinem Sensorium ausgestaltet hat – die gekommen war, um am Fuße des Kavalungan ihre demente Mutter auf der letzten Lebensetappe zu begleiten, dann aber merkte, wie wichtig ihr das Dorf und die Natur wurden und das Schreiben darüber.

Lung Ying-Tai: Am Fuße des Kavulungan. Eine philosophische Reise. Deutsch von Monika Li. Drachenhaus Verlag, 2023, 364 Seiten

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