Für alle, die unter Schüchternheit leiden

Dieses Palimpsest ist entstanden aus verschiedenen Textanfängen und Sätzen, über denen wir beim 3. Über-Kreuz-Workshop für Übersetzer und Lektoren von Kinder- und Jugendbuchliteratur gebrütet haben. Vermutlich werden nur die TeilnehmerInnen dieses Workshops den „tieferen Sinn“ dahinter verstehen und sich amüsisieren, aber sei’s drum. So viel Text-Recycling, Überschreiben und durch den Textwolfdrehen muss einfach sein.

Am frühen Morgen hatte ich die Luft knistern hören. Eine Nacht war vom Erdboden verschwunden. Der Wind heulte geisterhaft in den Bäumen, geheimnisvoll nah. Die plötzliche Kälte an meinem Rücken ließ mich zittern. Tief in meinem Innersten fühlte ich mich schwach und krank. Jemand kratzte an der Fensterscheibe. Was waren denn das für schräge Töne? Schritt, Schritt, Schritt, knarz, knarz, knarz. Ich erschauderte. Das Kratzen kam und ging mit dem Wind.

Ich schnupperte nach einem Geruch, einer Spur. Toblerone, ein metallischer Geruch von Blut, viele Mikroskope von hier entfernt, purer Mord für die Lungen. Es war die Gestalt im Abgrund, ein Gott mit einem Riss in der Hose, bespannt mit einem großen Segeltuch. Er musterte mich unverhohlen, dann grinste er breit und flirtbereit: „Willst du’n Kaugummi? Frisch gepflückt!“ Das Gesicht eines Gentlemans, vielleicht ist es ein netter Mensch. Schade, dass du nach Fisch stinkst, dachte ich. Eine Eule rief unheimlich „huhuu“.

Kaugummi? Es fühlte sich zu viel an und gleichzeitig nicht genug. „Wie bitte? Ich bin doch kein Wal“, schnauzte ich. „Ach so“, sagte er dümmlich. Ich trat gegen die Glaswand, aber die tat keinen Mucks. Noch nie war ich in meinem Leben so hungrig gewesen. „Essen ohne Giftköder, Lippenstift, Rouge, Wimperntusche, Nagellack und Scheißminischokoeier!“, brüllte ich. „Ne echte Sahneschnitte? Erdbeer! Deine Lieblingssorte! Und Pommes sind auch noch da!“, flüsterte er.

Ich wanderte mit dem Finger über seinen Bauch und spielte ein wenig an seinem Bauchnabel. Sein Kopf war schon ganz dick und rot. Seine Schnurrhaare zitterten. Ich ließ mich auf der Bettkante nieder, kleine Maus im rosa Nachthemd. Seine Zunge teilte meine Lippen, drückte den Kiefer der Frau auseinander. Ich habe meinen Mund für ihn geöffnet, ihn geschmeckt. Ich tat es, obwohl mir davon schlecht wurde, Ruß und Magensäure im Mund. „Das war jetzt aber etwas mehr als ein Kuss“, kicherte ich. „Ach so“, sagte er dümmlich.

Wir legten uns zueinander gewandt aufs Bett, das eigentlich eher eine große Holzkiste war. Überall lagen Muffinkrümel. Sieh mich an, sieh mich an, sieh mich an. Seine großen Augen waren starr und flehend. Langsam glitt meine Hand in seinen Slip. Schwacher Rauch ringelte aus dem Schornstein, zäh wie gerinnendes Blut. „Spürst du, dass da so etwas wie ein kleiner Knopf ist?“, flüsterte er. Es fühlte sich an, als wäre all sein Blut plötzlich in seine Hose geschossen. Mein lieber Scholli, nicht mal für ein eigenes Spiegelbild bist du groß genug, dachte ich. Ich rückte ihn ein bisschen nach rechts. Rückte ihn ein bisschen nach links. Dann grinste er mich an, superzufrieden mit sich selbst. Als ich mich ein Stück auf ihn zubewegte, glitt sein Mittelfinger in mich hinein, in mein tiefstes Inneres. (Wie ein Wurm, dachte ich noch, wie ein widerlicher kleiner Wurm.) Ich holte mein Klappmesser aus der Hosentasche und schlitzte den Stoff mit zwei schnellen Bewegungen auf, böses Schneewittchen. In seinem Blick dämmerte Verständnis: Großer Gott, hast du nun wieder vor? Ich arbeitete präzise, aber auch nicht gerade phänomenal, mit einer Effizienz, die eine geübte Hand verriet. Im Schritt. Und dann schrie er, lauthals, durchs ganze Labor.

Ich legte einen Finger auf seinen Mund. Er kaute auf seiner Unterlippe, drückte ein paar Tränen hervor. Die Tränen fielen von der kleinen, schiefen Kuhle an seiner Nase auf seinen schiefen Hals, aufgeschürft, rau und pink. Seine Haut wurde goldgelb. Ich legte die Fingerspitzen an seine Kehle, er fühlte sich tot an. Gerade gefallen. Ich bellte den Wachen den Befehl zu, den Leichnam zu holen: „Hopp! Toter Mann!“ Wachemann Eins, Führungskraft der Polizei, rollte ihn auf den Platz hinaus, am Waldrand lag eine kleine Polizeistation.

Das wuschige Gefühl ebbte allmählich ab. Die Sterne bewegten sich über mir. Mitunter ertönte ein Geläut von tausend Silberglöckchen, zarter als Luftblasen. Ka-Dunk! Ich merkte, dass ich immer noch seinen Penis in der Hand hielt.

Zusammengestellt von Thomas Weiler. in memoriam Looren Über Kreuz, 7.-11. April 2017

Gehört und gesponnen

 

Zeige- und Mittelfinger in eine Denkfalte legen,

wenn Bedeutendes in Gedanken vorformuliert wird.

Beim Denken zusehen.

Zeilen später stöckelt eine Frau

zwischen Rauchschwaden über Toteninseln,

werden Sehnsuchtsblicke nach Costa Rica

über die Donau geworfen,

weil der Himmel derselbe ist,

denn endlich ist nie.

 

Aufgeschnappt und weitergesponnen nach einer Lesung dreier Lyriker: Svenja Herrmann, Ernst Halter, Pierre Alain-Tâche und sein Übersetzer Markus Hediger, Autoren des Wolfbach Verlags.

 

Comicwelten

Für mich war es das erste Mal. Mehr als 1000 Einsendungen sichten an nur einem Tag. Mir grauste vor der Fülle, vor möglichen Wiederholungen, davor, den einzig, wirklich guten Comic vor lauter Comics nicht zu sehen. Am meisten überrascht haben mich die Einsendungen der Kinder – weil sich da die Fantasie noch am ehesten unverbraucht und unbeeinflusst auslebt?

Sébastian Friedberg (*2000, FR)

«Welten» – ein weites Feld, entsprechend viele Einreichungen gab es beim diesjährigen Fumetto-Comic-Wettbewerb, der nun schon zum 26. Mal ausgeschrieben wurde. Welten und ihre Bilder waren gefragt, Welten, in denen wir leben, aus denen wir uns manchmal fortwünschen und Wunschwelten.

In der «Kinder-Kategorie» (bis 12 Jahre) erstaunte die Vielfalt sowie die Komplexität so mancher Geschichte und die Antwort auf die Frage: Welche Welt ist denn nun die bessere – die, in der wir leben, oder die andere? Viele Geschichten endeten zwar damit, dass es zu Hause immer noch am schönsten ist, doch so manches Mal schnitt die eigene Welt im Vergleich nicht unbedingt besser ab, und manchmal braucht es nicht viel, um das Leben in einer anderen Welt für diejenigen, die dort leben, ein bisschen angenehmer zu machen.

Nur wenige träumten sich hinweg in eine andere Welt, was in der Kategorie 13-17 Jahre schon ganz anders aussah. Hier überwogen die epigonal anmutenden Science-Fiction-Szenarien, umso stärker leuchteten dann die Storys auf, die sich davon abhoben: ein Junge stürzt sich gegen den Willen der Eltern in eine Karriere als Gitarrist, ein anderer, der im Rollstuhl sitzt, träumt von einer Fußballkarriere, in einem Comic wird der Exportartikel «Freiheit» gegen Öl eingetauscht und Umweltkatastrophen werden heraufbeschworen.

In der dritten Kategorie, ab 18 Jahren also, hätten die Welten nicht variantenreicher ausfallen können, so dass die Nominierung schwerfiel. In einem Comic spielte ein Haarföhn die Hauptrolle, in einem anderen ein Flüchtling, der sich endlich emanzipiert und lustvoll seiner Opferrolle entledigt. In einem aufwendig hergestellten, comicartigen Scherenschnitt wurde die Schweizer mit der arabischen Welt verglichen – um nur einige Beispiele zu nennen, die mir neben vielen anderen in Erinnerung geblieben sind.

Gerade in der dritten Kategorie schlägt sich die Internationalität der Wettbewerbsteilnehmer nieder. Aus 58 Ländern wurden 997 Arbeiten eingereicht. Und dass Comic längst kein altersspezifisches Genre mehr ist, zeigen nicht zuletzt dieses Zahlen: Die jüngste Teilnehmerin war 4 Jahre alt, der älteste Teilnehmer 74.

Ausstellung der Sieger und Nominierten: Kunsthalle Luzern, 1.-9. April 2017, 10-20 Uhr.
Partner: Der Wettbewerbspartner Comundo zeigt seine Comic-Favoriten im Mai 2017 im Luzerner Romero-Haus.

Gegen die Empörung …

 … durch kurze lärmige Texte.

Lärmend ist dieses Endlos-Haiku von Franz Dodel wahrlich nicht, das sich auf 602 Seiten dahinschreibt und noch lange nicht zu Ende geschrieben ist, ein „Geflecht das freundlich bleibt“, sich ins Ungefähre träumt, nur um Zeilen, Seiten später sich im Gespinst des Alltags zu verfangen. Hart ist der Aufprall, doch man lasse sich nicht täuschen, denn der Aufschwung ist so sicher wie das strenge 5-7-Vermaß des Haikus. So ist dieses Wogen der Zeilen mal ein Abbild der Welt, die auf der gegenüberliegenden Dünndruckseite zitiert wird, wenn sich der Lyriker von ihr inspirieren ließ – mal sind die Reflexionen voller Zweifel und Gewissheit, dass nichts zu trösten vermag, denn: „Wenn das Herz einmal krank ist / und es den Worten / auch noch an Ordnung mangelt / was hält die Dinge / überhaupt noch zusammen?“ (zitiert nach Liu Zongyuan).

Doch es bleibt nicht beim subjektiven Bild, beim sinnlichen Auskosten der Farben (Welches Gelb ist Nankinggelb, wie schmeckt trinkbares Gold?), der Blick weitet sich gelegentlich über Waldränder und Stadtlandschaften, um sprichwörtlich im Keller zu landen und auf verstörende Weise eine Mitteilung aus der Budapester Zeitung aufleuchten zu lassen:

oder weshalb merkt niemand

dass einer schläft

im Keller des Hauses das

man abreißt vielleicht

ein Obdachloser aus dem

elften Bezirk die

Feuerwehr barg den Toten.

Wie liest man dieses Buch, habe ich mich so manches Mal gefragt angesichts des bunten Blätterwalds aus Post-it-Zetteln und Lesezeichen, um später zurückkehren zu können zu einem flüchtigen Gedanken, einem reizvollen Bild? In diesem auf viele Jahre angelegten Kettengedicht gibt der Autor auf den letzten Seiten einen Hinweis: „Unbeschwert blättere ich / nach vor und zurück / ohne Verpflichtung kann ich / jederzeit grundlos / das Verstehen verweigern.“ Die Zeilen drehen sich in einem fort, und auf die Folter lässt sich derjenige spannen, der nach dem einen, endgültigen Sinn sucht, denn der wird vorenthalten, da hilft im Silben- und Lektürerausch auch das immer schnellere Lesen und Blättern nichts. Indes weht einen so manche Silbe, mancher Gedanke noch Tage später an, wenn man – Dodel sei dank! – ganz anders in die Welt blickt:

Ich habe lange

weit in die Landschaft geschaut

bis ich merkte mein

Blick glitt einer Fassade

entlang hinauf um

über den Dachrand in den

Himmel zu kippen.

 

Franz Dodel: Nicht bei Trost. Haiku endlos. Edition Korrespondenzen. Wien 2008.

 

Lykische Küste

Gastbeitrag von Ines Balcik.

„Kein Ort der Welt kann schöner sein als die westlichen und südlichen Küsten der Türkei“, schrieb einst Freya Stark. Die britische Forschungsreisende und Reiseschriftstellerin erkundete in den 1950er Jahren die lykische Küste „auf den Spuren Alexanders des Großen“ (Originaltitel: Alexander’s Path).

Blick vom Baba Dağı (1.969 m) bei Fethiye

Weite Strecken ihrer Reise legte Freya Stark im Sattel eines Pferdes zurück. Denn selbst Jeeps streikten Mitte des vorigen Jahrhunderts noch auf den unzureichenden Verkehrs-wegen in der zerklüfteten Berglandschaft südwestlich von Antalya.
Diese Zeiten sind natürlich vorbei. Längst ist die Küstenstraße ausgebaut, Tunnel erschließen einst unwegsames Gelände und der Massentourismus hat auch dort Einzug gehalten, wo die Taurusberge direkt ins Meer abfallen.

 

Ich kenne und liebe die lykische Küste, seit mein Mann und ich Anfang der 1990er Jahre mit unseren damals kleinen Kindern einige Jahre in Antalya lebten und die Küste zu Wasser und zu Land erfuhren und erwanderten. Bevor Touristen aus aller Welt die Strände der Südtürkei für sich entdeckten, zogen Einheimische im Sommer lieber hinauf in die Berge, um der Hitze am Meer zu entfliehen. Heute kann man auf dem Lykischen Weg insgesamt 509 Kilometer von Fethiye nach Antalya an der Küste und in den Bergen wandern – und dabei viel entdecken. Imposant sind zum Beispiel die lykischen Sarkophage und Felsgräber, die an eine der Kulturen erinnern, die in Kleinasien ihre Spuren hinterlassen haben.

Strand von Patara

Noch viel mehr Interessantes ließe sich über die Lykier berichten, die bereits Homer mehrfach in der Ilias erwähnt. Zum Beispiel diente der Lykische Bund, ein Zusammenschluss von Städten, der seit dem 3. Jh. v. Ch. über mehrere Jahrhunderte bestand, als Vorbild beim Entstehen der amerikanischen Verfassung von 1787. Auch mit Theorien zum Matriarchat werden die Lykier in Zusammenhang gebracht: Dem Schweizer Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen dienten sie als Paradebeispiel für eine Welt, in der die Frauen das Sagen hatten. 1861 erschien seine Schrift „Das Mutterrecht: eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur“, deren Thesen, wen wundert es, vielfach umstritten sind.

Zu den bedeutendsten Städten Lykiens gehörte Patara, das heute für seinen kilometerlangen Sandstrand berühmt ist. Als Brutgebiet für die Karettaschildkröten steht er unter Naturschutz und bleibt von Bettenburgen verschont. Durch die Dünen und die teilweise ausgegrabenen Ruinen der antiken Stadt (in der im 3. Jh. Nikolaus von Myra geboren wurde) zu wandern, fasziniert mich. Besonders reizvoll finde ich die Reste des antiken Leuchtturms, eines der ältesten der Welt. Erst im Jahr 2004 wurde er im Sand entdeckt, der weitgehend den antiken Hafen im Mün-dungsgebiet des Xanthos (heute: Eşen Çayı) bedeckt.

Wenn mein Mann und ich heute segelnd an der Küste unterwegs sind, ausgerüstet mit GPS, Funk und weiteren technischen Mitteln unserer Zeit, und dabei doch froh über jedes Leuchtfeuer sind, das uns den Weg weist, dann denke ich voller Hochachtung an die Seefahrer der Antike. Welcher Mut gehörte dazu, sich hinaus aufs Meer zu wagen. Menschliche Neugier im besten Sinne zeigt sich in vielen Facetten.

Ines Balcik ist freie Lektorin und Sachbuchautorin (www.ib-klartext.de). Sie lebt in Hessen und immer öfter auf Reisen, stets mit mobilem Büro im Gepäck.
Diesen Text hat sie im Rahmen des Texttreff-Blogwichtelns 2016 geschrieben.

Dossier von Tsering Woeser

Januar 2017: Film und Gespräch.

Tsering Woeser ist die unerschrockene Stimme Tibets, die immer wieder durch Tibet reist und ihre scharfen Beobachtungen und ihre kenntnisreichen Analysen über ihren Blog mit Tibetinteressierten auf der ganzen Welt teilt. Sie lebt zwar im relativ sicheren Peking, steht aber immer wieder unter Hausarrest und unter ständiger Beobachtung. Wie man das aus Stasi-Dossiers oder auch aus der Fichenzeit in der Schweiz kennt, gibt es ein Dossier über Woeser, das dem Filmemacher Zhu Rikun in die Hände fiel und woraus die Betroffene vorliest. Dieses Dokument wird zum roten Faden im Film, eingeblendet sind immer wieder auch Reflexionen von Tsering Woeser über Vergangenheit und Gegenwart.
Über den Film und Tsering Woeser spricht Alice Grünfelder mit dem Filmemacher Zhu Rikun am 16. Januar 2017 im Filmpodium Zürich.

Zeit: Mo, 16.01.17, 20.15 Uhr
Ort: Filmpodium Zürich

Mongolen erzählen

März 2017: Lesung und Gespräch.

20160930LebenImDazwischen

Die Mongolei ist ein Land von berückender Schönheit und gleichzeitig voller Gegensätze. Noch vor hundert Jahren zogen die Menschen als Nomadinnen und Nomaden durchs Land und lebten von dem, was der Boden hergab. Heute sitzen sie in Dörfern und Städten, vielerorts von Armut gezeichnet.
Viele tragen ihre Geschichte(n) in sich weiter, wollen das Beste aus der neuen Situation machen, andere wiederum haben sich und ihre Herkunft längst verloren, sie haben sich verirrt im Gewirr von westlichen Einflüssen, Kapitalismus und Marktwirtschaft.

Erna Käppeli hat die Mongolei immer wieder besucht, und sie hat den Menschen zugehört. In den Porträts, die in der Edition Bücherlese erschienen sind, lässt sie Frauen und Männer erzählen – vom grossen und kleinen Glück als Unternehmerin, vom Konflikt zwischen Tradition und Moderne, vom Rückbesinnen auf eine starke Tradition…

Lesung und Gespräch mit Erna Käppeli und Alice Günfelder.

Ort: Zürich, Tibet Songtsen Haus
Zeit: 10.3.2017, 19.30 Uhr

Bankrotterklärung

gila-lustigerWeil Gila Lustiger verstehen wollte, wie es zu den Attentaten am 13. November 2015 in Paris kommen konnte, versucht sie zu verstehen, warum zehn Jahre zuvor in den Pariser Banlieus und im Norden Frankreichs mehrheitlich Jugendliche „mit Migrationshintergrund“ alles zerstörten, was um sie war. Und sie stellt Fragen, die immer wieder ins Leere laufen. Wie viele Hiphop-Kurse werden in einem Vorortzentrum organisiert und scheinen doch kaum mehr zu sein als ein Feigenblatt für das schlechte Gewissen der Nation? Und was bitte sehr hätten sie mit Terrorvermeidung zu tun? Warum z.B. werden gerade junge Lehrer direkt nach dem Studium in Brennpunkt-Schulen geschickt, ja verheizt, weshalb nirgendwo sonst im Lande der Lehrerwechsel so häufig sei wie hier? Wo Schulen und Bibliotheken brennen, in denen eigentlich nur das Beste gewollt wird? „Viele der Randalierer waren Schulabbrecher, und ihr Hass galt nicht nur dem Buch, sondern auch ganz allgemein dem geschriebenen Wort, das sie als Instrument ihrer Unterwerfung empfanden. […] Sprache, das waren Gebote und Verbote. Nichts, als eine weitere Strategie, sie zu zähmen.“ Terror als logische Folge, da radikalste Integrationsverweigerung.

Der Protest wird erstaunlicherweise nicht etwa dahingetragen, wo die Entscheidungen gefällt werden, nach Paris ins Stadtzentrum zum Beispiel, wie all die Bauern, Handwerker, Rechtsanwälte es tun, die mit ihren Aktionen oft genug den Verkehr lahmlegen. Die Jugendlichen zerstörten alles, was stellvertretend für den Staat stand, aber die Regierung und deren Repräsentanten blieben unbehelligt. Warum, fragt Gila Lustiger? Die Jugendlichen haben ihre Viertel trotz ihres Zorns nie verlassen. Und nie haben sie konkrete Forderungen gestellt, was ihrer Meinung nach ein absoluter Konkurs derjenigen Parteien ist, „die sich den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben haben.“

eribonDie Banlieusards nehmen auch kaum an Wahlen teil, stattdessen wird der Gegensatz von „Die da oben und wir da unten“ von Marie le Pen geschickt aufgegriffen, deren größte Wählerschaft die 18- bis 24 Jährigen sind. Der Feind ist nicht mehr nur der Ausländer, sondern das ganze Establishment. Und die Rechten aller Länder wissen diese Angst zu schüren und zu nutzen. Dies analysiert treffend auch der Soziologe Didier Eribon in der autobiografisch-soziologischen Reflexion Rückkehr nach Reims.

In einer Gesellschaft, in der neoliberale Intellektuelle begründen, weshalb in einer neoliberalen Ökonomie alles möglich, ist, weil jeder alles tun kann und jeder alles tun darf, um reich zu werden, sind – will man der Rechnung auf den Leim gehen – Immigranten und Minderheiten schuld, weil schlichtweg ein Sündenbock herhalten muss. Die wirtschaftlich Entmündigten wurden von der Geschichte und der Globalisierung verraten, Rattenfänger haben Hochkonjunktur, ist seine Bilanz. Und der Verrat der Elite sei schließlich zentrales Motiv jedes Mythos`.

Gila Lustiger trägt eine Wut in sich, will verstehen, was sich kaum verstehen lässt, und ist am Ende froh, auf Menschen zu treffen, die versuchen, die Schieflage einzurenken. Auf eine Lehrerin beispielsweise, die ihre Schüler nicht auf ihre Schwächen reduziert, sondern antwortet: „Braucht nicht jeder von uns etwas spontane Sympathie?“ So banal diese Äußerung oder das Bild vom Einrenken auf den ersten Blick scheinen mag, tröstlich ist es allemal angesichts einer Bestandsaufnahme, die ansonsten keine wohlfeilen Erklärungen bietet, sondern eher einer Bankrotterklärung der französischen Gesellschaft (und auch anderer westlicher Länder) gleichkommt. Es sei wichtig aufzuzeigen, „dass eine andere Welt möglich ist“ in dieser aus den Fugen geratenen und zu einer profitorientierten und egoistischen gewordenen Gesellschaft. Und wie viele Lehrer, Ärzte, Kindergärtner etc. würden tagein, tagaus versuchen, jeder auf seine eigene bescheidene Weise, diese Welt ein wenig einzurenken? Davon dürfe man sich einfach nicht abhalten lassen.

Gila Lustiger: Erschütterung. Über den Terror. Berlin-Verlag, 2016

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn. Edition Suhrkamp, 2016

 

Die Korrekturleserin

korr_03_040116Wie viele Künstler oder kreativ Tätige gehören zum Prekariat? Und wie sieht das im Verlagswesen aus, bei den Grafikern, Lektoren, Korrektorinnen? Wenn Selbstausbeutung nicht mehr funktioniert, weil eine Familie zu ernähren ist?

In ihrem ersten gemeinsamen Comic erzählen Theres Rütschi und Alice C. von irrlichternen Hoffnungen einer Korrekturleserin.

Limitierte Auflage (23. Ex., Leporello, 4 Seiten, 8 Franken) direkt bei der Illustratorin erhältlich: atelier(a)theresruetschi.ch.

Kurdische Literatur

Lesung.
Nicht erst seit den jüngsten Ereignissen in der Türkei sind kurdische Autorinnen und Autoren der Verfolgung und staatlichen Willkür ausgesetzt: Kurdische Literatur wird seit Jahrzehnten mit Restriktionen und Verboten belegt. Trotzdem gibt es eine lebendige und vielfältige Literaturtradition, die gerade im letzten Jahrhundert zahlreiche bedeutende Stimmen hervorgebracht hat.
Thomas Sarbacher liest aus „Im Schatten der verlorenen Liebe“ von Mehmed Uzun, erschienen im Unionsverlag Zürich.
Alice Grünfelder gibt eine kurze Einführung in das Werk des kurdischen Autors.

Ort: Literaturhaus Basel
Zeit: 22. November 2017, 19 Uhr