Staunen und Reisen

Wenn einer eine Reise tut, könnte er was erzählen … wenn er es denn könnte. Oft genug lege ich Reiseberichte gelangweilt weg, weil sie nichts Neues zu berichten wissen oder eben Altbekanntes nicht gut erzählen.

Nicht so bei John Dos Passos, und ich frage mich, warum bei ihm die Stereotypen, die über den Orient im Umlauf sind, sich während der Lektüre nicht aufdrängen? Tagespolitische Ereignisse so beschrieben werden, dass sie zwar auf die damaligen globalen Zusammenhänge verweisen wie das Attentat auf einen aserbaidschanischen Gesandten – aber eben ohne jeden besserwisserischen Kommentar auskommen. Stattdessen wird der Brief der Witwe eben jenes Gesandten abgedruckt, werden politische Gespräche wiedergegeben.

Heute noch und damals erst recht ist schwerlich nachzuvollziehen, welche politischen Wirrnisse in den Weltgegenden herrschten, die der Autor Anfang der 1920er Jahre bereiste. Länder (Türkei, Georgien, Armenien, Iran, Irak, Syrien) hatten zwar einen Namen, die Grenzen dieser Länder aber waren verwischt, zudem künstlich und wurden von den Einheimischen nicht wirklich als solche akzeptiert. Willkürlich wurden historische Landschaften zerschnitten, ebenso willkürlich waren Grenzkontrollen, wenn es sie überhaupt gab.

Typisch für die Reiseliteratur damals mag wohl gewesen sein, sich ganz dem Versuch hinzugeben, mit der einheimischen Kultur zu verschmelzen, kombiniert mit Kritik an der eigenen Zivilisation. Dieser eskapistische Aspekt wird beim Kamelritt quer durch die Wüste – von Bagdad nach Damaskus – deutlich: „Es ist die feinste Sache der Welt, keine Uhr zu haben und kein Geld und für nichts Verantwortung zu empfinden.“ Und so werden auch die Derwische, die Landstreicher, die fröhlichen zerlumpten Gestalten, bewundert: „Sie sind gewiss die glücklichsten Menschen in Persien. Sie denken nicht an Steuern … wandern umher, Sonne und Wind ausgesetzt, hungern und singen Gebete und tragen Epidemien und das Wort Gottes von der Wüste Gobi bis zum Euphrat. Landstreicher gibt es überall, aber im Orient ist diese Lebensform ein religiöser Akt.“ Mag das stellenweise auch knapp am Exotismus vorbeischrammen, so ist doch unterm Strich die Gratwanderung zwischen offenem Staunen und dem einfachen Zuhören und Beobachten gelungen.

Wer weiß, vielleicht lag diese Offenheit Dos Passos anderen Kulturen gegenüber in seiner Kindheit begründet, die Stefan Weidner im Nachwort beschreibt: eine „Hotelzimmerkindheit“, die ihn dieses Staunen auch als Reiseschriftsteller bewahren ließ.

John Dos Passos: Orient-Express. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Nachwort von Stefan Weidner. Zürich: Nagel & Kimche, 2013. 207 Seiten.  Auch als Taschenbuch bei dtv erhältlich.

Bergwelt

Wolken schießen über den zerklüfteten Berggrat
ein Regenbogen stemmt sich hoch, biegt sich weit übers Tal
ein schwarzer Salamander, noch einer – weil der Regen kommt –
krabbeln unbeholfen auf dem Pfad, kriechen unter den nächsten Stein
eine schwarze Schnecke erstarrt, weil sie Schritte hört
oder erste Tropfen auf ihren Rücken fallen
schwarze Ziegen meckern und glocken.
Mit jedem Schritt regnet es stärker, scheint es,
bis der Pfad sich windet und eine Hütte verheißt,
wo keine ist, erst nach der übernächsten Biegung
steht sie da auf einer Anhöhe, die tief hinabstürzt.
Und als die Wolkendecke sich öffnet wie ein Fenster
zackt der Berg kurz auf, bevor es sich wieder schließt.
Nasse Felsen blinken in der Sonne
Gämsen recken den Kopf in die Höhe
Murmeltiere pfeifen und verschwinden unter Felsen.
Das Tal ruft, der Waldboden bebt.
Mit jedem Schritt werden Fantasien in den Boden gestampft
überhaupt kommt man mit dem Denken nicht weit.
Wohl der Sinn des Bergwanderns.

Gedanken auf einer Wanderung im Kanton Uri, mit der Gondel zum Arnisee, auf dem steilen Waldweg hinauf zum Sunnigrät, vor dort den Berg gequert zur Leutschachhütte. Und am nächsten Tag die blau-weiße Route über den Wichelpass, das Schindlachtal hinunter wieder zum Arnisee zurück.

Schreiben mit Kindern

Warum ist das Schreiben außerhalb der Schule so wichtig? Was können Kinder aus Schreibworkshops mitnehmen? Hoffentlich viel Spaß und Lust, mit Wörten zu jonglieren und eigene Geschichten aufgrund der vielen Anregungen, die sie bekommen, zu gestalten. Zu diesem Thema hat mich Schreibtrainerin und Lektorin Maike Frie befragt. Mehr dazu hier.

Pflanzen überall


Wie konnte es geschehen, dass unter Hunderten von Einsendungen gerade mein Dreizeiler auffiel und aufgenommen wurde in „Steinbrech. Gedichte zu Pflanzen“? Freuen tut es mich jedenfalls für mein Zimmerpflanzen-Haiku.

153 AutorInnen aus sechs Ländern haben geschrieben über „Pflanzen, die uns ernähren, uns schmücken, schützen und heilen – und sie töten uns.“ Am 27. Oktober 2017 wird im Botanischen Garten Leipzig das Heft der Lyrikgesellschaft gefeiert.

Mehr Informationen hier.

 

Wolken ziehen mit Liu Xiaobo

Wie an einen fernen Freund denke ich beim Blick in die vorüberziehenden Wolken, dabei kennen wir uns nicht. Ich kenne auch Liu Xiaobos Gedichte nicht, nach denen ein Radiosender fragt. Erinnere mich an seine Essays, die mich damals beim Lesen beeindruckten. Ohne dass ich genau zu benennen wüsste, was es war, aber eine Offenheit und unerschütterliche Hoffnung sprachen daraus, die mich angesichts seiner Lebensumstände – Verurteilung, Arbeitslager, Freilassung, Verurteilung … – überraschten.
Nun nehme ich erneut den Band Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass aus dem Regal, sehe all die Kreuzchen und Ausrufezeichen, also müssen mich die Texte damals ziemlich beschäftigt haben, denn nur selten hinterlasse ich solche Markierungen in einem Buch. Kindersklaverei in den Ziegeleien von Shanxi. Vertuschte Vergewaltigung einer Schülerin und Massenproteste. Willkürherrschaft und Betrügereien selbstherrlicher Beamter. Die Kluft zwischen Propaganda und Darstellungen im Internet, so Liu Xiaobo, zeige das wahre Gesicht der VR China. Und: „Solange die Chinesen keine Freiheit haben, gibt es für Tibet keine Autonomie.“
Doch es ist die Inschrift für einen 17-Jährigen, der auf dem Platz des Himmlischen Friedens keinen Frieden gefunden hat, die mich trifft:

Du hast nicht auf die Ermahnungen der Eltern gehört, du bist aus dem kleinen Klofenster zu Hause hinaus, und als du mit hoch erhobener Fahne zu Boden gingst, warst du erst 17. Ich aber lebe weiter, mit meinen 36. Weiterleben ist ein Verbrechen vor deinem Gespenst, dir ein Gedicht widmen Schande. Die Lebenden müssen schweigen, lauschen der Anklage der Gräber. Ich habe kein Recht, dir ein Gedicht zu schreiben. Deine 17 Jahre gehen über alle Worte hinaus und alles, was ein Mensch tun kann.

Liu Xiaobo hat viel gewagt für diese Worte, für seine Essays, Gedichte, Pamphlete. Der Nobelpreis wurde ihm in Abwesenheit verliehen, denn da saß er wegen seiner Unterschrift unter die Charta 08 – einer Forderung u.a. nach freien Wahlen, Gewaltenteilung und föderaler Strukturen – bereits im Gefängnis. Er tat, was er tun konnte.

Nur die Wolken ziehen weiter, als wüssten sie von nichts.

Lärm

Ein Aufwachen, ein Brummen, was war zuerst? Das Brummen, und man ist deswegen aufgewacht? Oder weil man aufwachte, hat man das Brummen überhaupt erst gehört? Das Dach bebt, die Rollläden klappern, Regen prasselt, in Regenrinnen rauschts, das Dach hebt ab, scheint abheben zu wollen, das ganze Haus, es braust.
Und Stunden später hebt ein anderes Getöse an. Ein Glockengeläut, ein Zittern an den Wänden, ein Dröhnen der Gläser in den Wandschränken, im Ohr, das Beben des Fensterglases, ein holpriges Poltern, die tiefste Glocke hatte einen Aussetzer, stimmt wieder ein, im Ohr prallen die Klänge aufeinander, verschwimmen, die Klänge kommen von unten, von nebenan, von oben herab. Ewig scheint es läuten zu wollen.
Und 15 Minuten später in die abrupte Stille hinein das Gurren einer Taube, überlaut und wie von einem Band abgespult.

Wenn Altes aktuell wird …

… oder so ähnlich könnte der Titel meiner Wiederentdeckung von Niklaus Meienbergs Reportagen lauten. Zwar sind Band 1 und Band 2 bereits 2000 im Limmat-Verlag erschienen, zwar liegt der Bosnien-Krieg (1993-1995) schon eine Weile zurück. Aber wenn man diesen offenen Brief an den Chefredakteur der Zeitschrift „Oslobodjenje“ und seine Redaktion liest, ist man verdutzt. So zeitlos sind diese Zeilen, ist diese Gegenüberstellung gesättigter Schweizer Larmoyanz, die so, wie sie geschildert ist, durchaus übertragbar ist auf andere Länder. Denn wenn es hier raucht, sind das maximal die Müllverbrennungsanlagen. Den Hunden geht es soweit gut. Wasser fließt aus den Hähnen. Kein Beschuss zu vermelden. „Von einer Belagerung der Stadt Zürich ist nichts zu spüren. Belagert und umzingelt sind wir nur vom Wunsch, das Schlachten im ehemaligen Jugoslawien aus unseren Köpfen zu verdrängen.“ Und zynisch schlägt er den Boden weiter zu Ländern, wo der Ressourcen wegen durchaus eingegriffen wird in völkermörderisches Treiben. Aber: „Wir verfolgen das Gemetzel am Fernsehen, doch es verfolgt uns nicht.“
Das Redaktionsteam in Sarajevo harrt allerdings tapfer aus. Technisch nicht auf dem neuesten Stand, die Mitarbeiter auf der ständigen Suche nach Papier und Dieselöl, um den Generator zu betreiben, wehrt man sich gegen politischen Druck, der von einer multiethnischen Redaktion gern eine ethnisch gesäuberte Zeitung hätte. Und Meienberg fragt: Warum gelingt Euch der Frieden mitten im Gemetzel und warum den anderen nicht? Wo man dort für sein Schreiben sein Leben verliert, hierzulande aber höchstens seine Stelle?

Nachzulesen in: Niklaus Meienberg: „Zürich-Sarajevo“. Reportagen 1. Limmat-Verlag 2000, S.69-73

Erloschene Wut

Unruhige Momente im Leben, verdichtet in Haikus, die nachdenklich stimmen, Oberflächen aufbrechen und Gedankenräume erschließen: 164 Texte von 123 Poeten und Poetinnen wurden zu diesem Thema zusammengetragen in dem Buch Unruhige See(le). Sie vermitteln einen Einblick in das zeitgenössische Haiku-Schreiben deutschsprachiger Autoren. Das Projekt kam durch eine Ausschreibung von „SternenBlick“ zustande und in Kooperation mit der „Deutschen Haiku-Gesellschaft“.

Ausgewählt wurde mein Haiku „Erloschene Wut“, und das geht so:

Erloschene Wut
Glimmt nach schlaflosen Nächten
Frisst kahl den Morgen

Die Publikation mit den Haikus zur Unruhe im Leben kann hier bestellt werden.

Lustvoll argumentieren wider die Kriegstreiberei

 
Umberto Eco stellte einst in vier Streitschriften ganz grundsätzliche Fragen nach Haltung, Zivilcourage und der Unsinnigkeit, einen sinnvollen Krieg führen zu wollen. Und auf manche seiner Fragen weiß er Antworten, die auch heute noch einiges erhellen können. Wie beispielsweise jene nach sogenannten humanitären Interventionen. Sosehr man die Rechte, den Wunsch nach Selbstbestimmung und die Bräuche andere Völker respektieren müsse, so seien gewisse Verstöße gegen Menschenrechte einfach untolerierbar. Gleichwohl müsse man sich überlegen, wer denn um die Intervention bitte? Und welche Eigeninteressen sich dahinter verbergen? Man muss entscheiden, «was untolerierbar ist, und dann handeln in der Bereitschaft, den Preis für einen Irrtum zu bezahlen.» Nur leider hätte man sich auf der Grundlage eines sogenannten militärischen Humanismus schon oft geirrt. Sei es deshalb nicht an der Zeit, über andere Strategien nachzudenken?

Und Krieg, den unsereins vor allem als Kalter Krieg erlebt hat, flammt gerade nach dessen Beendigung überall wieder auf, was Eco zum „Nachdenken über den Krieg“ anregt. Der Ausgang des 1. Golfkriegs, so die Meinung vieler damals, sei befriedigend gewesen, denn es seien die Ziele erreicht worden, derentwegen dieser Krieg überhaupt geführt worden war. Wenn man diesem Krieg also zugesteht, dass er vorteilhafte Ziele erreicht habe, führe das zu dem Irrglauben, „dass Krieg in manchen Fällen doch noch eine vernünftige Möglichkeit sei. Was jedoch entschieden bestritten werden muss.“

Zivilcourage bräuchte es dafür, was aber, wenn man an keinen Gott glaubt, der einem den Rücken stärkt? Mal abgesehen davon, dass auch Menschen, die das Wort „Glaube“ im Mund führen, zu grausamsten Taten fähig seien? Was befähigt Nicht-Gläubige? Eco formuliert seine weltliche Ethik so: Man sollte anderen ein gutes Beispiel sein, um eine „Flaschenpost zu hinterlassen, damit das, woran man geglaubt hat oder was man schön fand, auch von den Nachgeborenen geglaubt oder schön gefunden werden kann.“

Was aber kann man gegen rohe Intoleranz ausrichten, überlegt Eco in „Die Migration, die Toleranz und das Untolerierbare“? Dann, „ist das Denken wehrlos“, und wenn Intoleranz zur Doktrin wird, sei sie nicht mehr zu besiegen. Erwachsene Menschen, die aus ethnischen oder religiösen Gründen aufeinander schießen, zur Toleranz zu erziehen, sei Zeitverschwendung. Rohe Intoleranz müsse an der Wurzel bekämpft werden: „Durch permanente Erziehung, die im zartesten Alter beginnt, bevor sie zu einer Doktrin gerinnt und bevor sie eine zu dicke und harte Verhaltenskruste wird.“

Immerhin sehe die Welt den Krieg heute durchaus kritischer als zu Beginn des 20. Jahrhunderts, denn „wenn heute jemand von der Schönheit des Krieges als einziger Hygiene der Welt reden würde, ginge er nicht in die Geschichte der Literatur ein, sondern in die Psychiatrie.“ Früher führte man Kriege so, dass man aus der Niederlage des Gegners einen Gewinn ziehen konnte. Bei den beiden Weltkriegen aber wurden alle Völker dieser Erde in Mitleidenschaft gezogen, mit den Verflechtungen des multinationalen Kapitalismus sei ein Krieg eigentlich gar nicht mehr länger möglich. Der unaufhaltsame Informationsfluss führe zudem dazu, dass die eigene Bevölkerung den Glauben an einen gerechten Krieg verliere und stattdessen für das Leid der „feindlichen“ Bevölkerung sensibilisiert werden würde.

„Es ist heute eine intellektuelle Pflicht, die Unmöglichkeit des Krieges zu proklamieren. Auch wenn es keine alternative Lösung gibt.“ Doch es nützt nichts, Umberto Eco nachzuweinen, sondern man muss einen intellektuellen Disput wiederherstellen, der den Namen auch verdient, verlangt der italienische Autor Giorgio Fontana und fordert dazu auf, lustvoll die rhetorischen Klinken zu kreuzen wider Populisten und Argumentverächtern.

Umberto Eco: Vier moralische Schriften. dtv-Verlag, 1998

Ellbogenwut

Hazal wird achtzehn und will es deshalb so richtig knallen lassen. Vorgeglüht und aufgestylt zieht sie mit zwei Freundinnen durch die Berliner Nacht. Doch als ein Türsteher die drei Mädchen nicht in den angesagtesten Club der Stadt lässt, kriecht Wut in ihnen hoch, die sich aufstaut … staut … staut – bis sie sich an einem jungen Mann entzündet. Der einfach nur nachts auf die U-Bahn wartet. Die drei Frauen lassen der Wut ihres Lebens freien Lauf, und Hazal befördert ihn mit einem gut gezielten Tritt aufs Gleisbett. Gleisbett, was für ein schöner Name, sinniert sie später, empfindet aber erst recht keine Reue für ihre Tat, als sie erfährt, dass das Opfer auch noch Thorsten heißt.

In dieser Nacht geht nicht nur ein Leben zu Ende. Hazal muss fliehen, ihr fällt nichts Besseres ein als Istanbul, wo sie erst mal rein gar nichts checkt. Weil sie bislang bloß in ihrem Weddinger Kiez gelebt hat mit den aufgetakelten Bräuten und abgekapselten Bevölkerungsgruppen. Wie in einem Kokon, nur dass nicht unbedingt ein Schmetterling schlüpfte. Für nichts hat sie sich interessiert. Wie denn auch. Die Wohnung zu klein, Eltern und ein Bruder, die nerven, zwei Selbstmordversuche, das Leben war auch so schon beschissen. Abgeklärt sind die Girls, und sie treten noch nach unten und schimpfen über die „Fluchtis“.  Und über den Chef, weil der eine der ihren entließ, nur weil sie #fuckcharliehebdo auf Facebook gepostet hat.

In Istanbul ist Hazal allerdings noch nicht einmal der Unterschied zwischen Türken und Kurden klar, und sie glaubt auch nicht, dass eine Unterschrift einen in den Knast bringen kann. Ein Mord schon, deshalb ist sie hier. Und als die kluge Tante Semra nach Istanbul kommt, weil sie verstehen will, was Hazal getrieben hat, prallt sie ab von dieser Wand aus Wut. Sie will verstehen, wo es nichts zu verstehen gibt, denkt Hazal und wenn sie mir jetzt noch mit Migrationshintergrund kommt, und die Sozialarbeiterin Semra kommt damit, platzt es aus ihr heraus: Warum? „Wegen der Ellbogen, die uns das Leben reingerammt hat, immer wieder, und immer noch. Überall nur Ellbogen von denen, die stärker sind als wir.“ Deshalb gibt es auch nichts zu klären, wie und warum in jener Nacht einfach alles eskalierte.

Jedenfalls kommt sie in Istanbul auf die Welt, ein harter Aufprall, das Geld ist bald alle, irgendwie muss es hier weitergehen. Doch sie kann nicht einmal gut genug Türkisch, um zu begreifen, was los ist, als Erdogan blass auf dem TV-Bildschirm auftaucht. „Er spricht über Facetime oder so und sieht irgendwie total alt aus, wie ein Opa, der zum ersten Mal ein Selfie macht. Vielleicht hätte ihm jemand mal besser die Filterfunktion erklärt, seine Hautfarbe sieht in dem Halogenlicht nicht so gesund aus.“

Als sie sich in der Nacht des Putsches auf den Boden legt, weil Panzer an ihr vorbeirollen, sind es immerhin echte Panzer und nicht so Plastikdinger, mit denen ihr Bruder spielt. Ist es das, was sie will? Das Leben endlich spüren, so wie es ist, und will sie verstehen und ihr Gutes tun, was eh nichts bringt. Ist sie wütend, weil sie nicht selbstbestimmt ist, immer andere über sie bestimmen und ihr was erklären wollen? So wie ihre Tante, bei der immer alles so „schön türkisch aufgeräumt“ ist in der „Altbau-Single-Wohnung mit hölzernem Esstisch“.

Dieser Hass ist in einer schlichten Sprache abgebildet, wo doch spätestens in puncto Mündlichkeit und Jargon seit Feridun Zaimoglus Kanaksprach mehr möglich wäre, man den Lesern mehr zutrauen könnte? So versäumt es Fatma Aydemir meiner Meinung nach, den Furor ihrer Figuren auch sprachlich abzubilden. Sie vergibt sich dadurch das Echo eines Sounds, der den Tag und die Nacht bestimmt oder doch eher das Zwielicht, in dem sich die Figuren bewegen, die nirgends dazu gehören wollen und, wenn es darauf ankommt, auch nirgends dazugehören.

Der Terror ist eine Folge von Hass der Menschen, die sich ohne Respekt behandelt fühlen und einen Hass auf Leute haben, die zu den 1% gehören, so der französische Diplomat Stéphane Hessel in Anspielung auf das Motto der Occupy-Wall-Street-Bewegung „We are the 99%“.  „Eine ganze Generation über den Globus verstreut ist im Gefühl aufgewachsen, emotional wie rational keine Zukunft zu haben angesichts der aktuellen Ordnung der Dinge.“

Woran mag es liegen, dass Flüchtlingskinder aus Syrien, so eine Sekundarschullehrerin aus Berlin, schon nach einem Jahr die chronisch abgehängten Migrantenkinder in der dritten Generation überholen und gen Abitur marschieren? Bastelkurse und Rap-Workshops, die auch in Pariser Banlieues wie Pilze aus dem Boden schossen, sind höchstens das Feigenblatt einer schuldbewussten Gesellschaft. Die Gewaltausbrüche der Jugendlichen damals richteten sich oftmals gerade gegen Sozial- und Bildungseinrichtungen, die solche Programme anboten, wie Gila Lustiger in ihrem Essay „Erschütterung“ beschreibt, und nicht gegen staatliche Institutionen, gegen die man ebenso wütend hätte sein können.

Ellbogen ist ein Pflock in der deutschsprachigen Literatur, er erklärt nichts, aber nach der Lektüre, die man insbesondere Lehrern, Sozialarbeitern und vor allem Bildungspolitikern ans Herz legen möchte, muss die Uhr zurückgedreht werden. Wir müssen nochmals von vorn beginnen. Mit Integration auf Augenhöhe?

Fatma Aydemir: Ellbogen. Hanser Verlag, 2017.