Geschichte einer japanischen Jacke

Als ich diese Sukajan das erste Mal sah, rettete mich nur die Kleidergröße davor zuzuschlagen, denn die Jacke war eindeutig zwei Nummern zu groß. Immer wieder schlich ich in den Laden, probierte die Jacke an, doch selbst die verkaufsbegierige Verkäuferin schüttelte missbilligend den Kopf. Wars beim dritten Mal, als ich mich endlich traute zu fragen, ob es denn nirgendwo sonst in der Stadt diese Jacke ein bisschen kleiner gäbe?
Natürlich, sie würde sofort herumtelefonieren, tats und fand sie.

Ich also eine Stunde später im Besitz dieser japanischen Bomberjacke mit Tiger und Kranich bestickt. Und noch später sollte ich in einer Ausstellung im HKW dieselbe Art von Jacken an ein paar Kleiderbügeln sehen. Hatte ich gänzlich ahnungslos ein Kunstwerk erworben? Oder schwante mir da schon etwas, hatte ich deshalb die Jacke mutlos ein Jahr lang ungetragen im Kleiderschrank versenkt?

Diese Sukajans also waren lt. Ausstellungsbroschüre während des Koreakriegs (1950-53) unter den amerikanischen Soldaten, die damals in Japan stationiert waren, ein begehrtes Souvenir – der Hit schlechthin. Und später bestickte die Yakuza-Mafia diese Jacke mit ihren eigenen Symbolen. Was taten die Jacken aber hier in einer Ausstellung in Berlin, was bittesehr wollte der Künstler Yuichiro Tamura uns damit zeigen? Wie lange die USA nicht nur militärisch, sondern auch kulturell die Macht über Ostasien besaßen, selbst in Fragen der Mode und des Hip-Seins?

So finden sich auf amerikanischen Bomberjacken eben asiatische Motive wie Tiger, Drachen, die schwarz-weiße Yin-Yang-Scheibe. Eine faszinierende Stilkombination: Krieg in Korea & Dauerpräsenz der amerikanischen Streitkräfte in Japan & Codes der Yakuza. Ein schillerndes Kleidungsstück allemal.

Ella Maillart will hoch hinaus

Schon als Kind war Ella Maillart ehrgeizig, das zeigen nicht nur der aktuelle Film „Les voyages extraordinaires d`Ella Maillart“, sondern auch die Fotos in einem kleinen Museum in einem kleinen Ort inmitten der Walliser Alpen: Warum kehrte Ella Maillart nach dem Zweiten Weltkrieg aus Indien zurück und fand ausgerechnet in Chandolin eine zweite Heimat?

Das wollte ich herausfinden, deshalb fuhren wir am ersten Tag des neuen Jahres dort hinauf, wo erst Ende der fünfziger Jahre eine Straße gebaut worden war. Davor wanderte Ella Maillart eine Stunde zu Fuß nach Chandolin.

Tatsächlich ist die Welt hier zu Ende, die Bäume wachsen nicht mehr, der Himmel beginnt, Wolken türmen sich über spitzen Gipfeln, und immer wieder ein Tiefblau, das einen weiten Horizon verheißt. So wie im Hindukush, in Baltistan, Karakorum, Xinjiang,  wohin Ella Maillart mit 22 Jahren aufgebrochen war. (In der Ausstellung ist u.a. ihr gefälschter Pass zu sehen, mit dem sie im Westen Chinas unterwegs war). Hat sie die Bergwelten miteinander verglichen, als sie hier Zuflucht suchte? Aber war es überhaupt eine Flucht vor der Welt? „Sie kam, wenn der letzte Schnee schmolz, und ging, wenn der erste Schnee fiel“, steht irgendwo im Museum geschrieben. Wohl eher ein Sehnsuchtsort, diese kleine Chandolin in den Walliser Alpen.

Vorbereitung

Vorbereitungen für den Umschlag, Theres Rütschi

Vor sehr viel mehr als zehn Jahren hatte ich die Idee. Sie keimte nur langsam, glimmte ein wenig, wurde erst wahr, als ich sie einmal aussprach. Warum nicht ein Buch über Xinjiang schreiben, über eine bislang wenig wahrgenommene Welt? Einen Roman?

Zwischen Denken, Aussprechen und Schreiben vergingen viele Monate, und ich weiß nicht mehr und erst beim Schreiben dieser Zeilen fällt mir es mir wieder ein, was meine ersten Bilder waren. Sie blieben die ersten Bilder, Bilder, die sich bei Zugfahrten in Chinas Westen, der Seidenstraße entlang, ins Blickfeld schieben. Und so beschrieb ich diese Bilder, schrieb über Jahre hinweg, sog jede Information auf, speicherte ab und schrieb. Nicht linear, und vielleicht erst einen der beiden Erzählstränge. Woher kam die Lust auf den zweiten?

Und so schrieb ich weiter und schrieb und verflocht den einen Faden mit einem anderen, fand kein Ende, hatte keine Idee, wie die Fäden zusammenführen, bis ich eines Tages ins Kino ging und mir ein Film auf die Sprünge half; der Film und weitere unerklärliche Ereignisse in Xinjiang. So verflocht sich das Ganze, doch das Verweben war alles andere als einfach, nichts ging leicht von der Hand. Ich schrieb in aller Heimlichkeit viele Jahre lang, traute mich nicht, und als ich mich traute, war das Erstaunen groß.

Viele Überarbeitungsschlaufen später ist der Text mir immer fremder, näher, scheint mir misslungen, manche Stellen, so kommt es mir vor, lese ich zum ersten Mal. Als die Illustratorin Theres Rütschi den Umschlag konzipierte, ging ich auf die Suche nach alten Fotos. Und da waren sie wieder: die Bilder, die Gerüche, das Licht, der Staub, die Hitze. Als sei es gestern gewesen.

Die Vorbereitungen zur „Wüstengängerin“ sind nahezu abgeschlossen. Eine unwirkliche Zeit findet ihr Ende.

Augen, Sterne und Wasser in Lhadak

Nubra-Tal

Lhadak, Land des Wassers. Beständiges Rauschen in den Bächen, die direkt durch Leh fließen, und mal dorthin, mal hierhin geleitet werden, absichtlich oder weil sich leere Plastikflaschen und sonstiger Müll gestaut haben. In Hundar aber, laut Reiseführer das schönste Dorf im Nubra-Tal, wandern wir eine Weile an zahllosen, wenig geschmackvollen und heruntergekommenen Unterkünften entlang, bevor wir auch hier das Rauschen im Ohr haben. Vorbei an langen Mauern mit zahllosen Mani-Steinen, Chörten, Steinmauern mit dornigem Gestrüpp, damit keiner an die niedrigen Obstbäume dahinter gelangen kann, immer weiter an Bächen entlang, die unterwegs von noch kleineren Rinnsalen gespeist werden. Von Hand angelegt ist diese Idylle, jedes Dorf hat einen Wassermeister, und später werden wir beobachten, wie dieser anderswo bei seinem Morgenspaziergang die Dämme inspiziert, Zu- und Umflüsse mit der Fußspitze oder einem Spaten regelt.

Am nächsten Tag geht es weiter das Tal hinauf, immer dem Shyok entlang. Mit einem Boot hier Wellen zu reiten, wäre todesmutig, und so heißt der Shyok auch Fluss des Todes. Braun und sandig sieht das Wasser aus, die Stromschnellen werden immer wilder, das Wasser wirft sich bei jedem Felsen höher auf.

Turtuk

Überhaupt das Wasser: Auf zerklüftetem Nichts wachsen mancherorts Oasen, grüne Flecken, die nach einer Wegbiegung auftauchen, wo keiner sie vermutet, oder weit oben, so wie das Dorf Turtuk, das man von der Straße aus, die weiterführt nach Pakistan, nicht sieht. Als wir den steilen Fußweg hinauf in die Höhe nehmen, rieselt das Wasser neben uns herab, ein Esel kommt uns entgegen. Und ist man oben angelangt, glaubt man nicht, was man sieht. Grüne Gerste wogt im Wind, Felder mit gelben Ähren, die darauf warten, von Eseln und Rindern und Menschen gedroschen zu werden. Frauen hocken am Boden, greifen mit der einen Hand nach den überreifen Halmen, schneiden sie mit einer Sichel ab und legen die Büschel neben sich. Später kommt jemand, sammelt die fahlgelben Büschel ein und nimmt sie auf den Rücken, sodass der tiefgebeugte Körper ganz darunter verschwindet. Auf den schmalen Wegen zwischen den Feldern bewegen sich die großen Bündel wie von Geisterhand.

Was für ein raffiniertes Wassersystem! Fein ausgeklügelt werden Steine an den wichtigsten Stellen mal so, mal anders angeordnet, damit das Schmelzwasser der Gletscher die Felder effizient bewässert, die es gerade am nötigsten haben. Und auch hier wieder das Rauschen unter silbern blinkenden Pappeln. Noch nie habe ich die Sonne im Wasser so funkeln gesehen, dass ich meinte, nach diesen Sternen greifen zu müssen. Das Wasser aber, wie lang wird es noch fließen hier, wo doch in Indien Umweltzerstörung und Klimawandel schon tägliche Katastrophen sind, wie Indienkenner und -freund Martin Kämpchen schreibt?

Gegen Abend dann strömen die Kinder auf die Felder, spielen Fußball, Cricket und Verstecken. Frauen in grünen, rosa und roten Gewändern, eine lange Bluse über einer weiten Hose, der Schal reicht bis zur Hüfte, das Haar ebenso, schreiten stolz zwischen den Feldern hindurch und betrachten ihr Tagwerk. Und über allem erheben sich wuchtig die Berge Baltistans, dahinter liegt Pakistan, zu dem dieses Dorf bis Anfang der 70er Jahre gehörte. Dann wurden Familien getrennt, und eine neue Regierung im fernen Delhi kümmerte sich von nun an um diese Talregion.

Spuren

Auf dem Rundgang durch die Altstadt von Leh beschleicht mich eine gewisse Fassungslosigkeit. Ich wandle auf den Spuren André Alexanders, Gründer des Tibet Heritage Fund (THF), der in den 90er-Jahren begann, in Lhasa Häuser vor dem Zerfall zu retten und im traditionellen Verfahren wieder aufzubauen. Gedankt hat es ihm die chinesische Regierung nicht. In Leh fand er einen neuen Wirkungsort. Richtete sich ein, fühlte sich wohl, baute auf: ein Museum, wo einst Karawanen aus Zentralasien lagerten, die von weither kamen: Baltistan, Kaschmir, vemutlich auch Tibet und Xinjiang. Die Treiber waren unterschiedlicher Nationalität, was man an ihren Kleidern auf den alten Fotografien erkennt, die im Museum ausgestellt sind. Ein Café hat er über einer alten Schmiede eingerichtet, das Heritage Walks organisiert, und zahlreiche Häuser unterhalb des alten Palastes tragen die TFH-Plakette. Bis er 2014 einfach so bei einem Besuch in Berlin vom Fahrrad fiel: Herzinfarkt. Deshalb bin ich nun erneut so fassungslos, die Spuren seiner Arbeit hier so deutlich vor Augen zu sehen. Und auch, was in Lhasa möglich gewesen wäre. Dort stehen nur noch vereinzelt alte Häuser, das Viertel unterhalb des Potala wurde kahlgeschlagen, ein Paradeplatz und breiter Boulevard wie in so vielen sozialistischen Städten angelegt, ein paar Souvenirläden und ein großer Parkplatz für die Touristenbusse. Tibetisches Disneyland. Hier in Leh aber ist die tibetische Tradition Gegenwart. Wegen mangelndem Zugriff der Regierung, ungenügender Finanzen oder einfach dem Willen einzelner Hausbesitzer, ihre Häuser im traditionellen Sinne zu errichten oder zu renovieren?

Altstadt von Leh

Da kam also einer, von den Einheimischen halb im Scherz „Hero of Himalaya“ genannt, hatte schon in Lhasa gesehen und gelernt, was getan werden musste, um alte Bausubstanz zu retten, bis ihn die Regierung des Landes verwies. Woher nahm er den Mut, die Kraft, noch einmal von vorn zu beginnen? Zunächst in Osttibet, später dann in Lhadak? In Leh war die die Ausgangslage vielleicht einfacher, mögen die Menschen und Entscheidungsträger umgänglicher gewesen sein. Ja, Bewunderung für sein Engagement hatte ich stets, nur die Begeisterung konnte ich nicht ganz teilen. Altes bewahren – wenn es denn besser ist? Böden und Wände aus Lehm statt Beton, der nicht ständig rieselt, nicht ständig Lehmstaub überall? Und so sagt man ein Haus weiter, ja, das wären die Ausländer, die die Häuser so renovieren würden, wir tun es nicht.

Morgen in Shakti

Die Alten hocken auf einem Steinhaufen, worüber sie sich wohl so laut unterhalten? Die Hände zeigen mal hinunter ins Tal, mal hinauf zu den Gebetsmühlen und dem Kloster. Dort saß er vor mehr als tausend Jahren, Guru Rinpoche oder auch Padmasambhava genannt. Auf seinem Weg über Nordwest-Indien nach Tibet machte er hier Halt und meditierte jahrelang in einer Höhle. Noch heute sieht man das tiefe, dunkle Loch im Berg, rauchgeschwärzt von Öllampen und Räucherstäbchen. Von der Decke hängen Geldscheine, kleine Noten nur, die wohl die Bitte um Beistand des Rinpoches unterstützen sollen.

Der Schulbus fährt leer hinauf ins Tal, sammelt die Kinder ein, die weiter unten in die Grund- und Mittelschule gehen. Oder er fährt hinauf zum Pass, wo die chinesische Grenze sich in Sichtweite abzeichnet, die China 1962 zu seinen Gunsten verschoben hat. Ein alter Mann betritt laut betend den Hof, schickt ein „Good morning“ hinauf in den ersten Stock, kehrt um und spricht mit den alten Frauen, die von einem LKW mitgenommen werden. Ein kleines weißes Auto fährt vor, zwei der Wartenden steigen ein, ein Hund und eine ausländische Touristin schauen zu. Armeelastwagen kriechen schwarzen Käfern gleich die Passstraße hinauf zum Pangong-See.

Blick ins Tal von Shakti

Aus dem Versammlungssaal des alten Klosters tönen Trommeln, Zimbeln und tiefe Männerstimmen. Aber nur ein Paar Schuhe vor der Türschwelle. Wir treten ein und sehen einen jungen Mönch, der mit der linken Hand das Becken schlägt und den Stab gegen das Trommelfell. Er betet inbrünstig und legt mit der rechten Hand eine Seite um die andere hinter den Stapel mit den Sutren, hält kurz inne, türmt Biskuits und andere Opfergaben vor seinem Tisch auf, betet weiter und schlägt die Trommel – bis er mit der rechten Hand nach seinem Handy greift. „Hallo?“ Und damit ein Telefonat beginnt, dessen Ende wir nicht mehr abwarten, leise aufstehen und gehen.

Zum Eremiten geht es zuerst über eine Brücke – ein Brett über den Fluss –, an einer Mauer aus Lehmziegeln entlang und schließlichden Berg hinauf. Anderthalb Stunden würde der Aufstieg dauern, hat man uns im Dorf gesagt; nach einer Stunde sind wir trotz Kurzatmigkeit oben. Und weiter gehen wir über ein paar in Stein gehauene Treppenstufen, den dunklen Klängen nach, die wir erst hörten, als wir direkt vor der kleinen Eremitage stehen. Effizient eingerichtet, dicke Teppiche liegen auf dem Boden, fast gemütlich sieht die Ecke aus, in der ein Mönch mit untergeschlagenen Beinen und strubbeligem kurzem Haar hockt und betet und uns mit einer Geste zu verstehen gibt, dass wir eintreten dürfen, ohne dass er dabei das Gebet unterbrochen hätte. In etwa einem Meter Entfernung hängt direkt vor ihm ein großes Porträt des Dalai Lama, der am selben Tag etwa zwanzig Kilometer entfernt mit einer dreitägigen Belehrung beginnt. Warum er nicht hingegangen ist? Er schüttelt nur den Kopf. Nachdem sein Gebet eine Pause zulässt, bietet er uns neben Mangosaft etwas zu essen an, was wir dankend ablehnen und im Gegenzug unsere Kekse überreichen. Kommt es mir so vor oder warum starrt er mich unentwegt mit einem schwer deutbaren Blick an? Wenn Augen die Fenster der Seele sind …

Nichts geht schnell in Lhadak, alles nur Schritt um Schritt, begleitet vom Läuten und Quietschen der Gebetsmühlen und aufgeregten Spatzen.

Zum Sternengefunkel unter Wasser gehts hier lang.

Schnitz …

… ein Gebäck aus einer Vielzahl Blätterteigschichten, mit Vanillecreme gefüllt und oben drauf mit rosa Puderzucker bestreut.

Rosarot ist in dieser funkelnden Kapitalismuskritik nichts, mit Puderzucker besprenkelt erst recht nicht. Es ist kalt in dieser dunklen Welt. Zugeschneit die Straßen, zugefroren die Flüsse und Seen. Nur in der Nacht blinken die Hochtürme der Fabrikanlagen, die von Finanzhaien stillgelegt wurden. Aber so genau weiß das keiner, erst recht nicht die Figuren in Marie-Jeanne Urechs Roman Schnitz, die spätestens dann an Daniil Charms Riesen aus Erstens und Zweitens erinnern, als ein Mann aus dem Pommes-Frites-Automat steigt, der Kindern das Essen höchstpersönlich überreicht. Schließlich klappt er Gliedmaß um Gliedmaß wieder ein und verschwindet im Automat.
Im Auftrag von höheren Mächten geht ein Kommissär um in dieser Stadt. Er setzt Nathanael Kummer unter Druck und presst ihm Unterschriften ab, nur um hämisch zu kommentieren: „Würde mich wundern, wenn Sie diese letzte Erhöhung aushalten.“ Wenn nicht, wird das Haus verkauft und die Familie müsste sich in die Kolonie der Pilzwohnwagen – ein Kasten auf vier Rädern – zurückziehen. Das aber will Nathanael um jeden Preis vermeiden, weshalb er bei jeder Zinserhöhung einen weiteren Job annimmt, und so hat er es auf vier Stellen gebracht. „Von 24 Stunden arbeitete er 21, drei freie Stunden verbrachte er mit seiner Familie.“ Als er dann die fünfte Stelle annimmt, kommt er gar nicht mehr nach Hause und schläft im Stehen in seinem Nachtwächterkabäuschen.

Immer tiefer rutschen wir hinein in diese … ja was? Eine Parabel, Dystopie, Fantasie? Und wie beim Gebäck aus Blätterteig legt die Autorin übermütig Schicht für Schicht frei. Ja, sie hat Spaß an ihren überbordenden Bildern, treibt sie auf die Spitze: Da sind die z.B. Industrieruinen, in deren omnipräsenten Glastürmen die Finanzoligarchie noch ihren Sitz hat und die rot in der eiskalten Nacht blinken, und dieses skurrile Figurenensemble. Am Ende wird ein falscher Prediger entlarvt und damit der generelle Wertezerfall in einer durch und durch maroden Gesellschaft aufzeigt.

Als wäre die Lust an Sprache und an den letzten Funken einer untergehenden Gesellschaft noch nicht genug, gönnte sich der Bilger-Verlag für diesen fantastisch-brillierenden Roman ein dunkelblau funkelndes Vorsatzpapier – selten hat das besser zum Inhalt gepasst als hier.

Marie-Jeanne Urech: Schnitz. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Bilger-Verlag, 2017, 142 Seiten.

Skurrile Überraschungen

Anthologien wird man mit Rezensionen selten gerecht, wie auch? Soll man die einzelnen Geschichten nacherzählen? Gemeinsamkeiten herauskitzeln?

Die Storys in „Ministerium für öffentliche Erregung“ von Amanda Lee Koe sträuben sich gegen jegliche Zuordnung. Skurril, widerborstig, gegen den Strich jeglicher Vorhersehbarkeit sind sie allesamt gebürstet, und jede für sich lässt ungläubiges Staunen zurück. Wegen der Gewalt in Beziehungen, die sich schon mal dadurch Bahn bricht, dass ein Frau ihrer Ex-Geliebten eine Sardinendose zweimal nacheinander auf die rechte Wange knallt und die Leute im Supermarkt lediglich stehenbleiben und zuschauen wie in „Die Ballade von Arlene & Nelly“. Dann wieder fängt die Autorin zärtliche Momente ein in der Beziehung zwischen einer todkranken Seniorin, die im Alter nichts von ihrer Aura verloren hat, und einem jungen Mädchen in „Alice, du musst der Mittelpunkt deines eigenen Universums sein“. Der Titel „Waschsalon“ hingegen führt auf eine völlig falsche Fährte, suggeriert ein urbanes Biotop, das man zu kennen meint – dabei hat ein Stadtanthropologe zu Studienzwecken bloß ein Labor eingerichtet, die Protagonisten wissen nichts davon und werden wie durch eine Lupe beobachtet.

Woher kommt der Stoff zu diesen Geschichten, die Milieus sarkastisch beleuchten, mal behutsam, mal kühl observierend geschundene Seelen skizzieren? Aus Welten, die sich wie wohl in kaum einer anderen Stadt so sehr in die Quere kommen wie in Singapur. Und jede Geschichte ist anders, hat einen anderen Sound, ist formal anders gestrickt – fast schon bang beginnt man die nächste Story, weil man nie weiß, was einen erwartet.

Amanda Lee Koe: Ministerium für öffentliche Erregung. Storys. Aus Englischen von Zoë Beck, Culturebooks, 2016, 222 Seiten

Jung und …

Tee mit Karamell- oder Vanillegeschmack, Sessel mit braunen Cordbezügen, Clearasil Gesichtswasser … Solche Marker durchziehen den neuesten Roman von Kirstin Breitenfellner. Bringen Dinge an die Oberfläche, die man vergessen hat.

Die Handlung ist in wenigen Worten erzählt: Jugend in einer Kleinstadt, erste Zungenküsse, Flaschendrehen in Kellern, Verrat von Jugendfreundschaften. Die politischen Geschehnisse in dieser Zeit bilden nicht nur die Kulisse dieser Erzählung – Waldsterben, saurer Regen, Anti-AKW-Aktionen, Wettrüsten, Friedensdemonstrationen –, denn sie beschäftigen Judith ganz konkret, die im Vorspann des Buches 13 Jahre alt ist. Ein verletzliches Alter. Forsch wird die eigene Schüchternheit überspielt, ein, zwei Lehrer imponieren, die Clique ist ein gefährliches Netz. Verlässliches bricht weg, besser man setzt darauf, Spass zu haben und verbissen die Jugend zu genießen. Einerseits bleibt angesichts der drohenden Katastrophen nur wenig Zeit zum Leben. Andererseits würde in zwei Jahren, nach dem Abi, das Leben erst beginnen. Hauptsache raus aus der Kleinstadt, weg von den Eltern, von denen man sich ohnehin unverstanden fühlt.
Klar kann man sagen, so viel Empörung, so viel Naivität ist jugendlich und nachvollziehbar, doch die Autorin begnügt sich nicht damit. Sie gibt Gegensteuer und bricht die Coming-of-Age-Geschichte mit auktorialen Einsprengseln. Nach einem Streit, in dem der Vater Judith vorwirft, in eine verkommene Gesellschaft geraten zu sein, hält Judith ihm entgegen, dass sich genau diese Leute gegen die verkommene Gesellschaft wehren. Und die Erzählstimme erklärt: „Was Judith damals noch nicht ahnen konnte: dass die, die sich gegen die Gesellschaft zu wehren gewohnt waren, es verlernten, sich gegen sich selbst zu wehren. Dass das ihr größter Denkfehler war. Dass sie sich die Wahrheit über sich selbst nicht eingestanden und auch nicht über den Menschen. Es gab sie nicht, die Guten, die von der bösen Gesellschaft verdorben wurden, denn sie waren alle die Gesellschaft.“
Offenbar traut Kristin Breitenfellner ihren Figuren in ihrem jugendlichen Eifer nicht so recht über den Weg; gleichwohl stellt sie fest, dass man im Alter von 23 Jahren – so alt sind die Helden bei Dostojewski – , zwar kein Kind, aber auch noch nicht richtig erwachsen sei, die Kräfte allerdings noch nicht von der Realität abgenutzt seien. Die Autorin hat sich bewusst für die  auktoriale Erzählperspektive entschieden, denn die Jugend sei eine schrecklich Zeit, «weil man so naiv ist und gleichzeitig so herrisch auftritt … Dieses Bewusstsein wollte ich den Lesern nicht ungefiltert zumuten», erklärt sie in einem Interview.

Interessant ist allemal, wer sich woran erinnert bei diesem Abtauchen in die eigenen 80er-Jahre. Gehörte man womöglich zur Popper-Fraktion, von Judith unterschätzt, wie sie beim Durchblättern der Schülerzeitung feststellt? Worin bestand der Widerstand gegen die damalige Denkstarre, in Kohl-Witzen oder Demos gegen die Stationierung der Pershing II? Und wie hat man sich selbst verhalten, als die Tschernobyl-Wolke über Mittel- und Westeuropa hing? Weiter getanzt zu „99 Luftballons“?
Die Stärke dieses Romans liegt im Spiegel, den man sich unwillkürlich vorhält und seine Vergangenheit inspiziert nach Tee mit Vanillegeschmack, Anti-AKW-Buttons und sich fragt, wo man selbst gestanden ist. Damals. Als die Welt genauso wenig in Ordnung war wie heute.

Kirstin Breitenfellner: Bevor die Welt unterging. Picus-Verlag, 2017, 240 Seiten

Herbst

Auf den Fluren ziehen spitz die Schwärme
der Süden lockt
Vögel in Fallen
Menschen erinnern sich
schreiben mit schwarzen Buchstaben
direkt ins Hirn
wandern unruhig hinter Gittern
wenn alle Blätter treiben.

Inspiriert von Eva Roth
für Ahmet Altan