Schnitz …

… ein Gebäck aus einer Vielzahl Blätterteigschichten, mit Vanillecreme gefüllt und oben drauf mit rosa Puderzucker bestreut.

Rosarot ist in dieser funkelnden Kapitalismuskritik nichts, mit Puderzucker besprenkelt erst recht nicht. Es ist kalt in dieser dunklen Welt. Zugeschneit die Straßen, zugefroren die Flüsse und Seen. Nur in der Nacht blinken die Hochtürme der Fabrikanlagen, die von Finanzhaien stillgelegt wurden. Aber so genau weiß das keiner, erst recht nicht die Figuren in Marie-Jeanne Urechs Roman Schnitz, die spätestens dann an Daniil Charms Riesen aus Erstens und Zweitens erinnern, als ein Mann aus dem Pommes-Frites-Automat steigt, der Kindern das Essen höchstpersönlich überreicht. Schließlich klappt er Gliedmaß um Gliedmaß wieder ein und verschwindet im Automat.
Im Auftrag von höheren Mächten geht ein Kommissär um in dieser Stadt. Er setzt Nathanael Kummer unter Druck und presst ihm Unterschriften ab, nur um hämisch zu kommentieren: „Würde mich wundern, wenn Sie diese letzte Erhöhung aushalten.“ Wenn nicht, wird das Haus verkauft und die Familie müsste sich in die Kolonie der Pilzwohnwagen – ein Kasten auf vier Rädern – zurückziehen. Das aber will Nathanael um jeden Preis vermeiden, weshalb er bei jeder Zinserhöhung einen weiteren Job annimmt, und so hat er es auf vier Stellen gebracht. „Von 24 Stunden arbeitete er 21, drei freie Stunden verbrachte er mit seiner Familie.“ Als er dann die fünfte Stelle annimmt, kommt er gar nicht mehr nach Hause und schläft im Stehen in seinem Nachtwächterkabäuschen.

Immer tiefer rutschen wir hinein in diese … ja was? Eine Parabel, Dystopie, Fantasie? Und wie beim Gebäck aus Blätterteig legt die Autorin übermütig Schicht für Schicht frei. Ja, sie hat Spaß an ihren überbordenden Bildern, treibt sie auf die Spitze: Da sind die z.B. Industrieruinen, in deren omnipräsenten Glastürmen die Finanzoligarchie noch ihren Sitz hat und die rot in der eiskalten Nacht blinken, und dieses skurrile Figurenensemble. Am Ende wird ein falscher Prediger entlarvt und damit der generelle Wertezerfall in einer durch und durch maroden Gesellschaft aufzeigt.

Als wäre die Lust an Sprache und an den letzten Funken einer untergehenden Gesellschaft noch nicht genug, gönnte sich der Bilger-Verlag für diesen fantastisch-brillierenden Roman ein dunkelblau funkelndes Vorsatzpapier – selten hat das besser zum Inhalt gepasst als hier.

Marie-Jeanne Urech: Schnitz. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Bilger-Verlag, 2017, 142 Seiten.