Augen, Sterne und Wasser in Lhadak

Nubra-Tal

Lhadak, Land des Wassers. Beständiges Rauschen in den Bächen, die direkt durch Leh fließen, und mal dorthin, mal hierhin geleitet werden, absichtlich oder weil sich leere Plastikflaschen und sonstiger Müll gestaut haben. In Hundar aber, laut Reiseführer das schönste Dorf im Nubra-Tal, wandern wir eine Weile an zahllosen, wenig geschmackvollen und heruntergekommenen Unterkünften entlang, bevor wir auch hier das Rauschen im Ohr haben. Vorbei an langen Mauern mit zahllosen Mani-Steinen, Chörten, Steinmauern mit dornigem Gestrüpp, damit keiner an die niedrigen Obstbäume dahinter gelangen kann, immer weiter an Bächen entlang, die unterwegs von noch kleineren Rinnsalen gespeist werden. Von Hand angelegt ist diese Idylle, jedes Dorf hat einen Wassermeister, und später werden wir beobachten, wie dieser anderswo bei seinem Morgenspaziergang die Dämme inspiziert, Zu- und Umflüsse mit der Fußspitze oder einem Spaten regelt.

Am nächsten Tag geht es weiter das Tal hinauf, immer dem Shyok entlang. Mit einem Boot hier Wellen zu reiten, wäre todesmutig, und so heißt der Shyok auch Fluss des Todes. Braun und sandig sieht das Wasser aus, die Stromschnellen werden immer wilder, das Wasser wirft sich bei jedem Felsen höher auf.

Turtuk

Überhaupt das Wasser: Auf zerklüftetem Nichts wachsen mancherorts Oasen, grüne Flecken, die nach einer Wegbiegung auftauchen, wo keiner sie vermutet, oder weit oben, so wie das Dorf Turtuk, das man von der Straße aus, die weiterführt nach Pakistan, nicht sieht. Als wir den steilen Fußweg hinauf in die Höhe nehmen, rieselt das Wasser neben uns herab, ein Esel kommt uns entgegen. Und ist man oben angelangt, glaubt man nicht, was man sieht. Grüne Gerste wogt im Wind, Felder mit gelben Ähren, die darauf warten, von Eseln und Rindern und Menschen gedroschen zu werden. Frauen hocken am Boden, greifen mit der einen Hand nach den überreifen Halmen, schneiden sie mit einer Sichel ab und legen die Büschel neben sich. Später kommt jemand, sammelt die fahlgelben Büschel ein und nimmt sie auf den Rücken, sodass der tiefgebeugte Körper ganz darunter verschwindet. Auf den schmalen Wegen zwischen den Feldern bewegen sich die großen Bündel wie von Geisterhand.

Was für ein raffiniertes Wassersystem! Fein ausgeklügelt werden Steine an den wichtigsten Stellen mal so, mal anders angeordnet, damit das Schmelzwasser der Gletscher die Felder effizient bewässert, die es gerade am nötigsten haben. Und auch hier wieder das Rauschen unter silbern blinkenden Pappeln. Noch nie habe ich die Sonne im Wasser so funkeln gesehen, dass ich meinte, nach diesen Sternen greifen zu müssen. Das Wasser aber, wie lang wird es noch fließen hier, wo doch in Indien Umweltzerstörung und Klimawandel schon tägliche Katastrophen sind, wie Indienkenner und -freund Martin Kämpchen schreibt?

Gegen Abend dann strömen die Kinder auf die Felder, spielen Fußball, Cricket und Verstecken. Frauen in grünen, rosa und roten Gewändern, eine lange Bluse über einer weiten Hose, der Schal reicht bis zur Hüfte, das Haar ebenso, schreiten stolz zwischen den Feldern hindurch und betrachten ihr Tagwerk. Und über allem erheben sich wuchtig die Berge Baltistans, dahinter liegt Pakistan, zu dem dieses Dorf bis Anfang der 70er Jahre gehörte. Dann wurden Familien getrennt, und eine neue Regierung im fernen Delhi kümmerte sich von nun an um diese Talregion.

Spuren

Auf dem Rundgang durch die Altstadt von Leh beschleicht mich eine gewisse Fassungslosigkeit. Ich wandle auf den Spuren André Alexanders, Gründer des Tibet Heritage Fund (THF), der in den 90er-Jahren begann, in Lhasa Häuser vor dem Zerfall zu retten und im traditionellen Verfahren wieder aufzubauen. Gedankt hat es ihm die chinesische Regierung nicht. In Leh fand er einen neuen Wirkungsort. Richtete sich ein, fühlte sich wohl, baute auf: ein Museum, wo einst Karawanen aus Zentralasien lagerten, die von weither kamen: Baltistan, Kaschmir, vemutlich auch Tibet und Xinjiang. Die Treiber waren unterschiedlicher Nationalität, was man an ihren Kleidern auf den alten Fotografien erkennt, die im Museum ausgestellt sind. Ein Café hat er über einer alten Schmiede eingerichtet, das Heritage Walks organisiert, und zahlreiche Häuser unterhalb des alten Palastes tragen die TFH-Plakette. Bis er 2014 einfach so bei einem Besuch in Berlin vom Fahrrad fiel: Herzinfarkt. Deshalb bin ich nun erneut so fassungslos, die Spuren seiner Arbeit hier so deutlich vor Augen zu sehen. Und auch, was in Lhasa möglich gewesen wäre. Dort stehen nur noch vereinzelt alte Häuser, das Viertel unterhalb des Potala wurde kahlgeschlagen, ein Paradeplatz und breiter Boulevard wie in so vielen sozialistischen Städten angelegt, ein paar Souvenirläden und ein großer Parkplatz für die Touristenbusse. Tibetisches Disneyland. Hier in Leh aber ist die tibetische Tradition Gegenwart. Wegen mangelndem Zugriff der Regierung, ungenügender Finanzen oder einfach dem Willen einzelner Hausbesitzer, ihre Häuser im traditionellen Sinne zu errichten oder zu renovieren?

Altstadt von Leh

Da kam also einer, von den Einheimischen halb im Scherz „Hero of Himalaya“ genannt, hatte schon in Lhasa gesehen und gelernt, was getan werden musste, um alte Bausubstanz zu retten, bis ihn die Regierung des Landes verwies. Woher nahm er den Mut, die Kraft, noch einmal von vorn zu beginnen? Zunächst in Osttibet, später dann in Lhadak? In Leh war die die Ausgangslage vielleicht einfacher, mögen die Menschen und Entscheidungsträger umgänglicher gewesen sein. Ja, Bewunderung für sein Engagement hatte ich stets, nur die Begeisterung konnte ich nicht ganz teilen. Altes bewahren – wenn es denn besser ist? Böden und Wände aus Lehm statt Beton, der nicht ständig rieselt, nicht ständig Lehmstaub überall? Und so sagt man ein Haus weiter, ja, das wären die Ausländer, die die Häuser so renovieren würden, wir tun es nicht.

Morgen in Shakti

Die Alten hocken auf einem Steinhaufen, worüber sie sich wohl so laut unterhalten? Die Hände zeigen mal hinunter ins Tal, mal hinauf zu den Gebetsmühlen und dem Kloster. Dort saß er vor mehr als tausend Jahren, Guru Rinpoche oder auch Padmasambhava genannt. Auf seinem Weg über Nordwest-Indien nach Tibet machte er hier Halt und meditierte jahrelang in einer Höhle. Noch heute sieht man das tiefe, dunkle Loch im Berg, rauchgeschwärzt von Öllampen und Räucherstäbchen. Von der Decke hängen Geldscheine, kleine Noten nur, die wohl die Bitte um Beistand des Rinpoches unterstützen sollen.

Der Schulbus fährt leer hinauf ins Tal, sammelt die Kinder ein, die weiter unten in die Grund- und Mittelschule gehen. Oder er fährt hinauf zum Pass, wo die chinesische Grenze sich in Sichtweite abzeichnet, die China 1962 zu seinen Gunsten verschoben hat. Ein alter Mann betritt laut betend den Hof, schickt ein „Good morning“ hinauf in den ersten Stock, kehrt um und spricht mit den alten Frauen, die von einem LKW mitgenommen werden. Ein kleines weißes Auto fährt vor, zwei der Wartenden steigen ein, ein Hund und eine ausländische Touristin schauen zu. Armeelastwagen kriechen schwarzen Käfern gleich die Passstraße hinauf zum Pangong-See.

Blick ins Tal von Shakti

Aus dem Versammlungssaal des alten Klosters tönen Trommeln, Zimbeln und tiefe Männerstimmen. Aber nur ein Paar Schuhe vor der Türschwelle. Wir treten ein und sehen einen jungen Mönch, der mit der linken Hand das Becken schlägt und den Stab gegen das Trommelfell. Er betet inbrünstig und legt mit der rechten Hand eine Seite um die andere hinter den Stapel mit den Sutren, hält kurz inne, türmt Biskuits und andere Opfergaben vor seinem Tisch auf, betet weiter und schlägt die Trommel – bis er mit der rechten Hand nach seinem Handy greift. „Hallo?“ Und damit ein Telefonat beginnt, dessen Ende wir nicht mehr abwarten, leise aufstehen und gehen.

Zum Eremiten geht es zuerst über eine Brücke – ein Brett über den Fluss –, an einer Mauer aus Lehmziegeln entlang und schließlichden Berg hinauf. Anderthalb Stunden würde der Aufstieg dauern, hat man uns im Dorf gesagt; nach einer Stunde sind wir trotz Kurzatmigkeit oben. Und weiter gehen wir über ein paar in Stein gehauene Treppenstufen, den dunklen Klängen nach, die wir erst hörten, als wir direkt vor der kleinen Eremitage stehen. Effizient eingerichtet, dicke Teppiche liegen auf dem Boden, fast gemütlich sieht die Ecke aus, in der ein Mönch mit untergeschlagenen Beinen und strubbeligem kurzem Haar hockt und betet und uns mit einer Geste zu verstehen gibt, dass wir eintreten dürfen, ohne dass er dabei das Gebet unterbrochen hätte. In etwa einem Meter Entfernung hängt direkt vor ihm ein großes Porträt des Dalai Lama, der am selben Tag etwa zwanzig Kilometer entfernt mit einer dreitägigen Belehrung beginnt. Warum er nicht hingegangen ist? Er schüttelt nur den Kopf. Nachdem sein Gebet eine Pause zulässt, bietet er uns neben Mangosaft etwas zu essen an, was wir dankend ablehnen und im Gegenzug unsere Kekse überreichen. Kommt es mir so vor oder warum starrt er mich unentwegt mit einem schwer deutbaren Blick an? Wenn Augen die Fenster der Seele sind …

Nichts geht schnell in Lhadak, alles nur Schritt um Schritt, begleitet vom Läuten und Quietschen der Gebetsmühlen und aufgeregten Spatzen.

Zum Sternengefunkel unter Wasser gehts hier lang.