Eine Lektürenotiz: Der Literaturlehrer Sukhin stolpert nicht nur ziemlich zweckfrei und sinnentleert durch sein Leben, sondern eines Tages über einen Haufen Karton. Als eine Gestalt auf ihn zukommt, erschrickt er. Die Obdachlose ist Jinn, seine Freundin, die vor Jahren spurlos verschwand.
So beginnt dieser Roman aus Singapur und durchschreitet mit seltenem Humor gesellschaftliche Barrieren. Nachdem sich Jinn wieder in Sukhins (Gedanken-)Welt einnistet, versucht er vorsichtig herauszufinden, warum sie damals das Leben in einer wohlbehüteten Umgebung als Tochter eine wohlhabenden Familie aufgeben und ihn verlassen hat. „Er fragt sich, wo sie gewesen ist, aber er wird sie nicht fragen.“ Die geliebte Großmutter habe ihr völlig unverhofft die halbe Bäckerei und das gesamte Vermögen vermacht, erzählt sie ihm peu à peu, weshalb die Familie sich von ihr distanzierte und Jinn den Boden unter den Füßen verlor. „Und dann fing mein Verstand an, sich selbstständig zu machen.“ „Wo ist er hingegangen?“ „Ach, an alle möglichen Orte, denke ich.“ Sie beschließt, dieser Welt den Rücken zu kehren, weil sie nicht mehr länger Teil dieser Maschine namens Singapur sein will. wie wir von der Autorin erfahren. „Ich konnte nicht mehr. Also habe ich aufgehört und bin gegangen.“
Ganz anders der 35-jährige Misanthrop und Literaturdozent Sukhin, der nichts mehr hasst als Unordnung und Chaos, sich den Heiratsvermittlungsversuchen seinen Panjabi-Eltern erfolgreich widersetzt, dem es nur halb recht ist, dass Jinn wieder in seinem Leben ist, auch wenn er sie, ja, liebt, wie er sich selbst nach vielen Jahren eingestehen muss. Kuchen und Tee, mit einer Portion Geplänkel als Beilage, „das ist die wahre Idylle, oder nicht?“, fragt er sich selbst ein wenig ungläubig.
Sprachlich ist der Roman in Puddingcreme getaucht, gesprengselt mit feinem Humor, in kursiv gesetzten und etwas rätselhaften Kommentaren schillern Zwischenwelten – denn ist der Mann, von dem da erzählt wird, Sukhin, und die Tote Jinn? Oder wer geistert durch die Seiten? Am Ende wird jedenfalls Jinn von der Familie für tot erklärt, und ganz bewusst zelebrieren die beiden dieses Ereignis.
Doch ist der Protagonistin, die angeblich „den Verstand verlor“, nicht etwas anders abhanden gekommen, denn sie ist ja nicht wirklich verrückt geworden? Die Autorin Yeoh Jo-Ann hat einen chinesischen Hintergrund, und ich frage mich, ob die Übersetzung wirklich das getroffen hat, was die Autorin meinte? Handelt es sich womöglich um dieses unübersetzbare shen 神 oder jing 精? Herz und Geist passten nicht mehr zusammen, rissen Jinn auseinander, sie fiel in ein Loch … Ähnliche Zweifel kamen mir beim Titel „Zweckfreie Kuchenanwendung“ – womöglich ist hier eher die Absichtslosigkeit gemeint, die im chinesisch-buddhistischen Kontext verortet ist? Vielleicht aber bin ich es mit meinem sinologischen Hintergrund, die zu viel hineininterpretiert, vielleicht zeigt diese Übersetzung eines Romans aus Asien, der englisch geschrieben und ins Deutsche übersetzt wurde, dass Kulturtransfer über Sprache nicht gänzlich möglich ist. (Die Autorin selbst, die ich deshalb versucht zu kontaktieren, hat sich bisher leider nicht gemeldet.)
Ganz im Gegensatz zu den Crazy Rich Asians wird hier jedenfalls ein anderes Singapur gezeigt, neben Hongkong eine der wohlhabendsten Städte Asiens: eine Stadt der Obdachlosen, der Gemüse-Piraten, Recycling-Weltmeister und all jener, sich sich den Wohlstandsverpflichtungen der Megapolis entzogen haben und stattdessen z.B. wild campen, containern und in einer abgelegenen Gasse vielleicht eines der schönsten Weihnachtsfeste der Gegenwartsliteratur feiern.
Yeoh Jo-Ann: Zweckfreie Kuchenanwendungen. Übersetzt von Gabriele Haefs. Mit Anmerkungen. Kröner Verlag, 2022, 320 Seiten
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