Neue Literatur aus Taiwan

„Kriegsrecht“: Ein wenig martialisch mutet der Titel dieser Anthologie an, doch sie trägt ihn wohlüberlegt: Dem Herausgeber Thilo Diefenbach ging es darum, Texte zu versammeln, die sich im weitesten Sinn mit dem Kriegsrecht in Taiwan beschäftigen.

„Neue Literatur aus Taiwan“ trägt die Textsammlung im Untertitel und umfasst dreißig Texte, die zum Teil das erste Mal auf Deutsch vorliegen und ein halbes Jahrhundert widerspiegeln. Denn Taiwan befand sich nicht erst seit 1949 mit der Ausrufung des Kriegsrechts in einem Ausnahmezustand: Nach 50 Jahren japanischer Kolonialherrschaft ging 1945 die Insel wieder an die chinesische Republik, die sich damals im Bürgerkrieg aufrieb, nur um zwei Jahre später im Aufstand vom 28. Februar und deren Folgen in blutiger Agonie zu versinken. Als Chiang Kai-shek den Krieg gegen die Kommunisten verlor, floh er und mit ihm zwei Millionen Festlandchinesen nach Taiwan.

Auf dieser Folie – und das erklärt Thilo Diefenbach ausführlich in seinem Vorwort – sind die frühen Erzählungen entstanden, sie bilden weiter den wirtschaftlichen Aufschwung ab, die ersten Demokratisierungsbewegungen in den achtziger Jahren und reichen schließlich bis ins neue Jahrtausend. Sie indes nur als Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse deuten zu wollen, wäre verkürzt, gleichwohl wird erst durch Literatur deutlich, was Fach- und Sachbücher über die jüngste Geschichte nicht auszudrücken vermögen: Wie ist es dem Einzelnen in diesen Wirren ergangen, wie hat er/sie überlebt? Welche eskapistischen Räume wurden eröffnet, welche Bilder verwendet, um der Realität einen Sinn abzuringen, sie zu überwinden, ihr etwas entgegenzuhalten? Das war je nach Zeit und Status des Autors unterschiedlich, zumal gerade in den ersten beiden Jahrzehnten der Militärdiktatur nur schon ein falsches Lied, eine falsche Melodie zur Unzeit gesungen einen ins Gefängnis und anschließend für Jahre auf eine der Gefängnisinseln bringen konnte. Erst recht eine „Friedenserklärung“ (Yang Kuei), die nichts anderes forderte, als dass Taiwan wieder Frieden findet. So durchweht die „Spätphase des Kriegsrechts“, so der Name des zweiten Teils der Anthologie, ein kalter Wind: erzählt wird von abgerichteten Kragenbären in einem Zwangssystem – „Gerüchte“ von Shu Chʼang –, von Spionen, Landesverrat, von einer spektakulären „Flucht in die Berge“ (Lee Chiao).

„Nach der Aufhebung des Kriegsrechts“ tritt Taiwan in eine neue Phase der Selbstfindung, so lassen sich die Erzählungen wie überhaupt die Literatur aus Taiwan nicht mehr monothematisch festlegen – und das ist auch gut so. Wer könnte schon in ein, zwei Sätzen zusammenfassen, was die Literatur aus der Schweiz, was deutsche Literatur im innersten Kern ausmacht? Seltsam genug, dass genau nach solchen Schlussfolgerungen gern gefragt wird. In dieser Nach-Kriegsrecht-Phase kristallisiert sich indes eine besondere Sensibilität für das Meer, die Welt der Ozeane, die Natur heraus, ohne dass den Autoren der Begriff Nature Writing bewusst gewesen wäre, den aber Taiwans Kulturvermittler bald schon in den Begriff Ozean-Literatur ummünzten und beispielsweise als Motto auf der Frankfurter Buchmesse 2019 einsetzten.

Neben Wu Ming-yi, der in der Anthologie zwar fehlt, seien Liu Ka-shing und Syaman Rapongan zu erwähnen, die mit zwei Textauszügen vertreten sind und ganz eigene Textpositionen einnehmen. In „Paradiesvogel“ erzählt Liu Ka-shing, wie eine Ringkiebitz auf einen Strand geweht wird und hier langsam stirbt. Das ist weder kindlich, erinnert auch nicht an europäische Fabeln, sondern der Autor beschreibt nüchtern beobachtend und Schritt für Schritt, wie sich der kleine Vogel gegen den Wind stemmt, wie der Sandsturm ihn jedoch langsam unter sich begräbt. In einer ausführlichen Nachbemerkung, die übrigens jede Erzählung begleitet, erfahren wir mehr über den Autor und seine Vorgehensweise, wie er Reisen und Naturbeschreibungen verflicht, gleichzeitig gesellschaftliche Entwicklungen reflektiert – und dies auf leise, gleichsam symbolische Weise, womit die Universalität der Themen verdeutlicht wird.

Syaman Rapongan, Angehöriger der Tao, ein Volk, das vor der Ostküste Taiwans auf der Orchideeninsel (Lanyu) lebt, geht in „Schwarze Flügel“ noch dichter ran, taucht ein in die Fischwelt, folgt den Fischschwärmen, bedroht von Raubfischen und den Fischer der Inseln. „Den fliegenden Fischen ist es bestimmt, Jagdbeute der großen Raubfische zu sein“ – damit ist nicht nur die Situation des Volkes der Tao gegenüber der Mehrheit der Han, Hakkas und Hoklas gemeint, sondern womöglich auch die Lage Taiwans in der Welt.

Thilo Diefenbach ist mit dieser Textsammlung – der dritten, die es auf Deutsch zur Literatur aus Taiwan überhaupt nur gibt – die Zusammenstellung eines funkelnden literarischen Panoramas gelungen, das vor allem durch die Auffächerung der thematischen Vielfalt überzeugt.

Thilo Diefenbach (Hg.): Kriegsrecht. Neue Literatur aus Taiwan. München: iudicium-Verlag, 2017

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