Eine Lektürenotiz
Einen Eindruck von der Bandbreite mündlicher und schriftlicher Literatur Taiwans will diese knapp 550 Seiten schwere Anthologie vermitteln – und Thilo Diefenbach, der Herausgeber, hat, so scheint es, dafür alles aufgenommen, was er zwischen Himmel und Meer gefunden hat, nämlich sage und schreibe 101 Werke: 63 Gedichte, 15 Erzählungen, 13 Essays, 9 Legenden – das listet er im Vorwort auf und unterteilt weiter in mündliche Überlieferungen und politische Perioden. Ein Blick ins Inhaltverzeichnis zeigt, dass die Texte chronologisch angeordnet sind, nur warum darunter auch Berichte von chinesischen Beamten sind, die Taiwan im 17. Jahrhundert bereisten, wie Yu Yong-he (im Buch selbst Yü Yung-ho), widerspricht wiederum dem Untertitel des Bandes: eine Anthologie taiwanischer Literaturen.
Verdienstvoll ist die Menge an übersetzten Texten allemal, die einen seltenen Blick in die Gemengelage – gesellschaftlicher, psychologischer, kultureller Art – erlaubt. Die „Elegie von der Überfahrt nach Taiwan“ beispielsweise warnt ungeschminkt und in derben Worten vor einer Übersiedelung auf die Insel. Auch vom harten Arbeiterlos berichtet so mancher Text, vom Pazifik-Krieg Ch’en Ch’ien-wu ebenso wie der bekannte Autor Lo Fu, der mit einem Auszug aus seinem Werk „In der Felsenzelle sterben“ vertreten ist.
Wertvoll sind auch die seltenen Übertragen von indigenen Autor:innen. Badai aus dem Stamm der Puyuma schreibt über eine Shamanin, die im Hier und Jetzt trotz aller Anstrengungen ihren Sohn durch das dunkle Tor ziehen lassen muss, dem Tod entgegen. Lavulas Geren, ein Paiwan, fasst geradezu lakonisch in nur drei Zeilen das Leben der Bergbewohner zusammen.
Angenehm überrascht die Vielzahl der Gedichte. In einem Poem des populären Lyrikers, Verlegers und Literaturvermittlers Hung Hung scheint auf, dass uns nicht allzu viel von Taiwanerinnern und Ostasiaten unterscheidet, dass kulturelle Projekten hier und dort den Blick verstellen.
Japaner
sehen an den Wänden taiwanischer Hotels
die verschneiten Gebirge der Schweiz.Taiwaner
sehen an den Wänden Schweizer Hotels
Bilder der fließenden Welt aus Japan.Schweizer
sehen an den Wänden japanischer Hotels
Regenschirme von Ölpapier aus Taiwan.Chinesen
sehen an den Wänden chinesischer Hotels
die Verbotene Stadt.
Überzeugte die Anthologie Kriegsrecht – ebenfalls von Thilo Diefenbach im selben Wissenschaftsverlag iudicium herausgegeben – durch seine Stringenz und Konzeption, Texte zu versammeln, die sich auf die schwierige Zeit während der Militärdiktatur konzentrierten, fehlt hier solch ein Konzept, und das Ganze wirkt wie ein loses Sammelsurium. Das ist schade, zumal auch das Vorwort mit dem Exkurs ins Sinitische – statt Sinologische – irritiert; dem Herausgeber folgen können ohnehin nur ganz wenige Eingeweihte. Es ist, als stünde sich der Herausgeber mit seinerm Vermittlungeifer selbst im Weg.
Nichtsdestotrotz ist diese Sammlung von Texten, die der Herausgeber selbst mit weiteren Übersetzerinnen und Übersetzern (Wolf Baus, Chiang Po-Hsüan, Eckhard Dreier, Johannes Fiederling, Patricia Hung Wen-chen, Katahrina Markgraf, Fabienne Uji-Hofer) ins Deutsche übertragen hat, eine wertvolle Erweiterung dessen, was bislang auf Deutsch an erzählerischen Texten aus Taiwan erschienen ist.
Thilo Diefenbach: Zwischen Himmel und Erde. Eine Anthologie taiwanischer Literaturen. iudicium-Verlag München, 2022
Weitere Hinweise zu Literatur aus Taiwan sind hier auf dem literaturfelder-blog nachzulesen.