„Der erste Tag im Wolkenwald hat mich zu Nebel erweicht. Die Welt verlor sich im Weiß, was ich sah, waren meine Füße am Boden und die Farben der Bäume.“ Taiwan ist ein Ort, der Zeit und genaues Hinschauen verlangt, schreibt Jessica Lee, den aber ein unterirdisches Beben jeden Moment auslöschen kann.
In Zwei Bäume machen einen Wald lebt, wuchert, tropft die Natur, während eines Winters in Taiwan kann das unangenehm werden. Denn das Wetter auf dem schwimmenden Archipel ist kalt und nass. So ziehen auch kaltfeuchte Nebelschwaden durch das Buch, streifen über Arme, gleiten bei Wanderungen durch wuchernde Wälder und Bergwelten über den Nacken. Selten habe ich so ein körperliches Buch gelesen, wo jede Faser, jeder Tau- oder Regentropfen zu spüren ist, so eindringlich ist die Sprache Jessica Lees oder vielmehr ihrer Übersetzerin Susanne Hornfeck.
Die Autorin, kanadische Umwelthistorikerin, verwebt in ihre Naturbeobachtungen – ihre Bücher werden dem Nature Writing zugeordnet – ihre eigene Familiengeschichte mütterlicherseits beziehungsweise versucht, die losen Fäden zu ordnen, die sie nach jahrzehntelangem Schweigen in der Familie, nach dem Tod zuerst des Großvaters, dann der Großmutter, in Händen hält. Dafür nimmt sie sich Zeit in Taiwan, um über den unsäglichen Schmerz zu trauern, der zwischen uralten Baumstämmen wabert: „Ich hatte zu wenig getan. Hatte nicht genug Mandarin gelernt, konnte überhaupt kein Taiwanisch und hatte zu wenig Interesse gezeigt.“
Zwischen poetischen Landschaftsbeschreibungen, den genauen Betrachtungen von Bergen und Boden, Wald und Wasser schwingt allerdings auch die Trauer und Unverständnis über die Zerstörung der Umwelt mit, die dem Wirtschaftswachstum geopfert wurde. Die Wasserverschmutzung stehe weit oben auf der Agenda von Taiwans Umweltschützern, 1990 waren viele Flüsse toxisch und tot, die gesamte chemische Industrie ist auf dem schmalen Küstenstreifen im Westen angesiedelt, dazu noch die Klimaerwärmung: Tempel und Friedhöfe, die nah an der Küste oder einem Ufer liegen, werden bereits vom Meerwasser überspült.
Trost bieten ihr, so blitzt es mitunter auf, einzig Vögel. Sie waten durch eine Landschaft, die den Menschen unzugänglich ist. Die Schwarzstirnlöffler zum Beispiel haben ihre Heimat in dem Schutzgebiet der demilitarisierten Zone auf der nordkoreanischen Halbinsel, sie überwintern in Taiwan und Hongkong. „Vom wetterwenderischen politischen Treiben der Menschenwelt nehmen die Vögel dabei keine Notiz (…) Die Natur näht wieder zusammen, was der Mensch geteilt hat.“
Jessica Lee: Zwei Bäume machen einen Wald. Aus dem Englischen von Susanne Hornfeck. Matthes & Seitz, 2020, 216 Seiten.