Familien-Albtraum auf einer Insel

Taiwan: eine Insel mit 23 Millionen Einwohnern und einer komplexen Geschichte. Unweit der chinesischen Südküste gelegen, wurden die Inselbewohner immer wieder von benachbarten Großmächten überrannt, immer wieder suchten chinesische Exilanten hier nach Zuflucht. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die Insel eine japanische Kolonie, und als Mao in Peking die Volksrepublik ausrief, flohen anderthalb Chinesen nach Taiwan.

Von diesen Wirren und Überlagerungen unterschiedlichster Völkerschaften mit all den damit einhergehenden neben- und auch gegeneinander ausgespielten Lebensweisen erzählt die Autorin Jade Y. Chen in ihrem Familienroman Die Insel der Göttin. Es geht darin nicht nur um ihre eigene Familie, in der sich das Leid einer Japanerin genau so spiegelt wie eines taiwanischen Untergrundkämpfers, der sich für die Demokratie auf der Insel engagiert und deshalb nach Südamerika fliehen muss. Sondern auch um die zentrale Frage, die Taiwaner heute umtreibt: „Wer sind wir? Und was ist Taiwan eigentlich?“ Die Antwort ist alles andere als einfach, wenn man sich folgende Familiengenealogie vor Augen führt: „ ,Mein Urgroßvater väterlicherseits war Mongole (…). Er heiratete meine Urgroßmutter, die aus der Nähe von Shanghai stammte. Mein Großvater und mein Vater sind in Peking geboren. (…) Als junger Mann ging mein Vater nach Taiwan und lernte in Taichung meine Mutter kennen. Meine Großmutter mütterlicherseits war eine Japanerin, die meinen Großvater heiratete, dessen Vater, also mein Urgroßvater, aus Südchina stammte., „

Die Loyalitäten sind entsprechend schwankend. Der Vater der Ich-Erzählerin, ein wankelmütiger Abtrünniger, der mit den Kuomintang-Truppen des aus China geflohenen Chiang Kaishek nach Taiwan gelang, kehrt eines Tages wieder aufs Festland – womit die VR China gemeint ist – zurück, nur um dort als vermeintlich reicher Mann von seinen Verwandten über den Tisch gezogen zu werden. Der Großvater fühlt sich dem japanischen Kaiserreich verpflichtet und kämpft bei der Luftwaffe, verschwindet aber eines Tages, nachdem die Kuomintang-Partei die Macht übernommen hat. Und die japanische Großmutter verstrickt sich in eine heimliche Liebe mit dem Großonkel.

Geschickt weiß die Autorin diese Biografien miteinander zu verflechten, wodurch ein einmaliges und vielschichtiges Kaleidoskop der Inselrepublik entsteht, über die im Westen nur wenig bekannt ist. In vielerlei Perspektiven beschreibt sie eindrücklich, wie es sich heute anfühlen muss, in Taiwan mit all den individuellen Traumata zu leben. Dem Schweigen aber, das sich wie Mehltau über die Familie und auch das Land legt, und der damit einhergehenden Lieblosigkeit kann Jade Chen im Buch und auch in der Realität offenbar nur dadurch entkommen, indem sie das Land verlässt. Als hervorragende Einführung in die jüngste Geschichte Taiwans, das international aufgrund des zunehmenden Drucks der VR China zunehmend isoliert wird, sei dieser Familienroman unbedingt empfohlen.

Jade Y. Chen: Die Insel der Göttin. Münchner Frühling Verlag, 2009, 419 Seiten, ca. 42,90 sFr.