Gewaltige Zärtlichkeit

Wenn Liebe und Gewalt zu dicht beieinander sind, wie in Aufzeichnungen eines Krokodils der taiwanischen Kult-Autorin Qiu Miaojin, werden Menschen im Karussell der Leidenschaften heftig herumgewirbelt.

Lazi, die Protagonistin in diesem Roman und lebenshungrige Studentin, will ausbrechen aus allem, was sie einengt und anödet, alle Brücken hinter sich abbrechen, Brücken zu Familien, Freunden, Geliebten. Dann wieder will sie alles ausprobieren, sich und ihren Körper entdecken, in andere hineinkriechen, mit ihnen verschmelzen. Denn: „Wie geht Freiheit nach 40 Jahren Militärdiktatur?“ Ihre Experimente führen zur gesellschaftlichen Ächtung, aber auch zu Selbsthass, denn sie gehört nirgends dazu, will auch gar nicht dazugehören, weiß nur, dass sie sich den drei Ordnungsprinzipien Schulpflicht, Arbeitszwang, Heiratsdruck entziehen will. Doch auch in ihrer lesbischen Liebe findet sie keine Erfüllung, alles wird von einem Sturm nicht auszuhaltender Gefühle weggerissen. „Mein Kopf und mein Körper werden sich nicht einig.“

So heftig, wie die Gemütsschwankungen sind, so sehr schwankt auch die Sprache, manchmal bricht sie durch alle Register. Mal stelzt das Krokodil in surrealistischer Manier durch die Gedankenwelt der Protagonisten, ertrinkt in Pathos, mal fräst Lazi mit raubeiniger Gossensprache durch die Stadtlandschaft. Nur: Ankommen wird sie nie und nirgends.

„Sogar, die, die mich liebten, wurden von mir in rasender Wut überrannt und mit heruntergerissen wie von einer Blinden, die ins Meer abstürzt.“

Das Buch, Ende der 80er Jahre geschrieben, weiß noch nichts davon, dass Taiwan eines der ersten Demokratien Asiens sein wird, in der gleichgeschlechtliche Liebe erlaubt ist. Qiu Maojin schreibt in ihrem Debüt über Seelenqual und die Zersplitterung von Menschen, die unter Druck und mit der Unterdrückung von Freiheit und Liebe nicht leben können. Dabei reißt sie sich buchstäblich jede Zeile aus dem Leib – und hat sich im Alter von 26 Jahren erdolcht. Da war sie schon in Paris und erlag ihrer Lebens- und Liebessehnsucht, die sie zutiefst verzweifeln ließ.

Qiu Miaojin: Aufzeichnungen eines Krokodils. Aus dem Chinesischen von Martina Haase. Ulrike-Helmer-Verlag, 2020

Neu aufgelegt von Matthes & Seitz, wo auch Letzte Worte vom Montmartre von Qiu Miaojin erschienen ist.