Bücher gestapelt

Lyrik aus Taiwan …

… ist im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt, von vereinzelten Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften einmal abgesehen und den Lyrikbänden von Yang Mu, Cheng Chiung-ming sowie Tsai Wan-Shuen.

Daher werde ich in unregelmäßigen Abständen Gedichte von Lyrikerinnen – gelegentlich auch Lyrikern – aus Taiwan publizieren und hier die einzelnen Verweise auflisten, sodass im Laufe der Wochen, Monate und Jahre vielleicht ein kleiner Einblick, bestenfalls eine kleine digitale Lyrikbibliothek ensteht. (Über das Übersetzen von Gedichten sprach ich übrigens mit Radio Taiwan International, das Gespräch ist hier nachzuhören.)

Chen Yuhong: „Lass den Regen“ (讓雨) und „Wasserschlange“ (水·蛇). Poesie.xyz. Magazin für Gedichte

Lin Wei-Yun. „Wald“ (林), „Wandel“ (变化) und „Kriegszeiten“ (戰時). Signaturen. Forum für Autonome Poesie

Ling Yü: „Holzpuppe“ (木頭人) und „Lass uns versöhnen“ (我想和你和好) auf Poesie.xyz, Magazin für Gedichte

Maniniwei: „Gedichte schreiben und Boden putzen“ (寫詩和拖地) und „Soll ich Dir von meinem Leben erzählen?“ (要不要跟你說我的生活), Poesie.xyz. Magazin für Gedichte

Tsai Wan-Shuen: „Mir träumte von Zikaden“ (我夢見一些蟬), Aus dem Alltag. Die Welt ist eine Laienbühne. „Zeichen aus dem Meer“ (海的字的魂魄) und „Wilde Insel“ (野島) auf poesie.xyz. Magazin für Gedichte

Ye Mimi: „Wie schwarz denn noch?“ (還有多黑), „Schlaflos verwelken“ (眠花謝光了) und “ „Du liebst nicht das, was ich liebe“ (你的喜歡有關無關我的喜歡), Poesie.xyz. Magazin für Gedichte

Das letzte Viertel des Mondes, Sonnenuntergang, Rentier

Die Ewenken: eine Nomadin erzählt


„Ich bin eine langjährige Vertraute des Regens und des Schnees“ – so beginnt die namenlose Erzählerin, Witwe des letzten Häuptlings ihres ewenkischen Stammes, die Geschichte ihres Lebens und gleichsam ihres Volkes zu erzählen.
Die Ewenken, Jäger und Rentierzüchter, einst aus Sibirien vom linken Ufer des Amur vor russischen Übergriffen auf die rechte Seite des Flusses gezogen, leben heute in einem Siedlungsgebiet aufgeteilt zwischen Russland, der Mongolei und China.
Die han-chinesische Autorin Chi Zijian lässt eine 90-jährige Frau an nur einem Tag das schicksalvolle Leben Revue passieren und schreibt mit Das letzte Viertel des Mondes eine Art ethnografischen Roman.

Die ganze Rezension ist in der NZZ nachzulesen.

Chi Zijian: Das letztes Viertel des Mondes. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Blessing-Verlag 2025, 416 Seiten

Weitere Rezensionen zu Büchern aus den Randregionen Chinas:

https://www.literaturfelder.com/uigurische-notizen
Drei Arten Papierdrachen zu falten Tibetische Gebetsfahnen vor Schneebergen

Tibet: Wahrheit und Fiktion

Eine Lektürenotiz

Eine Expedition macht sich auf, im tibetischen Hochland den Yeti zu finden. Besuch in einem Lepradorf. Chinesische Abenteurer, die das Fremde und Exotische im eigenen Land suchen. Postmoderne und Künstlermilieu in Lhasa in den 80er Jahren: Das ist der Stoff, aus dem die Erzählungen in Drei Arten, Papierdrachen zu falten von Ma Yuan sind

„Wenn Leute aus dem Kernland nach Tibet kommen oder Ausländer hierher reisen, dann erscheint ihnen nach der Ankunft zunächst alles frisch und neu: wie die Tibeter Kotaus machen und ihre Gebetsrunden drehen, wie sie in den Tempeln Yakbutter und Geld opfern; die kleinen Händler auf dem Barkhor und die Betenden, die ihre Sutras rezitieren; die Steinmetze am Fuß des Potala-Berges; die buddhistischen Sutras in Steinplatten meißeln, und die in den Fels gehauenen Götterfiguren […] Die Neuankömmlinge schauen sich alles an und machen mit ernster Miene Fotos […] Aber das Entscheidende ist, dass es sich überhaupt nicht um etwas Neues und Frisches handelt, denn die Leute hier leben schon seit vielen tausend Jahren so. Wenn die Dinge den Außenstehenden neu und frisch erscheinen, dann liegt das bloß daran, dass sich das Leben hier so stark von ihrem eigenen unterscheidet.“

Doch wie schnell nutzt sich das Neue, das Exotische ab, wenn Neuankömmlinge oder, wie in diesem Erzählband, han-chinesische Intellektuelle auf der Suche nach dem ultimativen Kick durch Tibet reisen? So wie die Freunde in „Die Verlockungen von Gangdise“, die einer tibetischen Himmelsbestattung beiwohnen wollen, obwohl sie genau wissen, dass sie damit ein Tabu brechen – ähnlich wie die Touristen aus Hongkong, die zeitgleich zur verbotenen Himmelbestattung reisen möchten.

Allen Texten gemein ist das postmoderne Verwirrspiel zwischen Wahrheit und Lüge, so die Herausgeberin und Übersetzerin Julia Veihelmann. Mal widersprechen sich die Figuren, die Figuren der Handlung, Zeitebenen verwirren sich und löschen sich gegenseitig aus, denn was ist schon gestern, heute und morgen? So hyperrealistisch die Erzählungen aufgrund einer verblüffenden Detailtreue wirken, so führt der Erzähler damit doch nur auf eine falsche Fährte und mokiert sich über die politischen Gegebenheiten, denn was Machthaber uns weiß machen wollen, ist noch längst nicht Weiß, wer Wahrheiten vortäuscht, muss mit Entlarvung rechnen. Dieses Lektürespiel ist erfrischend, wenngleich gewagt, denn nicht immer ist Ma Yuans postmodernes Vexierspiel verständlich, das zwischen Maoismus und Kommerzialisierung, einem kleinen Zeitfenster in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, möglich war. Davon zeugt auch der Erzählband An den Lederriemen geknotete Seele

So sitzt Ma Yuan, selbst ein han-chinesischer Intellektueller aus dem fernen Nordosten Chinas, der Provinz Liaoning, zwar zwischen den Stühlen, spielt dieses Dazwischen indes literarisch raffiniert durch. In Lhasa, Hauptstadt Tibets, versammelten sich in den 80er Jahren etliche han-chinesische Intellektuelle, zum einen waren sie der eigenen nach-kulturrevolutionären und noch immer oder wieder konfuzianisch geprägten Gesellschaft überdrüssig, zum anderen faszinierten sie die fremden und, aus ihrer Sicht, rohen Bräuche. Sie wussten wenig über Tibet, was sich vor allem in den Kunstproduktionen jener Zeit zeigt: verkitschte Darstellungen von Tibetern, die im Schneesturm nach ihren Yaks suchen, freizügige Tibeterinnen, Wildheit und Schroffheit auf die Leinwand gebannt und abgereist. Doch bis heute stehen sich die chinesische Besatzermacht und tibetische Bevölkerung gegenüber, mal mehr, mal weniger versöhnlich. Was die Figuren in Ma Yuans Erzählungen auch unternehmen, dazu gehören sie nie.

Ma Yuan: Drei Arten, Papierdrachen zu falten. Aus dem Chinesischen von Julia Veihelmann. 340 Seiten, Arco-Verlag

Eine weitere Erzählung, „Himalaya-Ballade“, von Ma Yuan ist in dem Erzählband Himalaya fürs Handgepäck zu lesen.

Container gestapelt Erzählung von den Konsumgütern

Alle haben ein Recht auf Gedichte

Eine Rezension von Peggy Kames

„Erzählung von den Konsumgütern“ – der Band heißt, wie sein erstes Gedicht, Erzählung, und ist somit auch als Einladung zu verstehen an all jene, die lieber keine Gedichte lesen. Die Gedichte gehen uns indes unmittelbar an, auch wenn sie aus dem vermeintlich „fernen China“ stammen, weil es unsere globalisierte Welt ist, die da beschrieben wird. Zheng Xiaoqiong, 1980 in Sichuan geboren, ging 2001 als Wanderarbeiterin nach Dongguan, wo ihre ersten Gedichte entstanden, wo „sie eine Freifläche aus ihrem Körper [holt], in der sie Gesundheitsschäden und Wut vergräbt, in die sie helle Wörter pflanzt […]“ (S.65)

Ihr erster, viel beachteter Gedichtband Das Buch der Arbeiterinnen (女工记) gab den bis dahin anonym gebliebenen Wanderarbeiterinnen eine Stimme. Als sie 2007 überraschend den Liqun-Lyrikpreis erhielt, wuchs ihre Popularität. Die Gedichte aus den Warenfabriken, die Porträts der Wanderarbeiterinnen, wie sie selbst eine war, machten sie zur Wortführerin einer Poesierichtung. Inzwischen lebt sie als freie Autorin und Mitherausgeberin eines Literaturmagazins, sitzt „versunken in einer Stadt im Süden und [schreibt] die Strophen und Balladen des Industriezeitalters.“ (S.23)

Die vorliegende Auswahl aus dem Gesamtwerk ist Zheng Xiaoqiongs erste Buchveröffentlichung auf Deutsch. Sie wurde von Christian Filips zusammengestellt und den Dichterinnen und Sinologinnen Sara Landa, Maja Linnemann, Eva Schestag und Lea Schneider übersetzt.
Einige der Gedichte erschienen bereits 2016 auf Deutsch in der von Lea Schneider zusammengestellten und übersetzten Anthologie neuer Lyrik aus der Volksrepublik, Chinabox. 2018 war Zheng Xiaoqiong zu Gast beim Poesiefestival und 2023 auf der Poetica 8, „Das chorische Ich. Writing in the name of …“, kuratiert von Christian Filips, dem Herausgeber des vorliegenden Bandes. Zu hören ist die Lyrikerin übrigens auf www.lyrikline.org, ein besonderes Erlebnis, da sie Rhythmus und Tempo stets variiert und dadurch die Kraft, Unmittelbarkeit und selbst Zartheit der Gedichte – nicht zuletzt durch ihren weichen Sichuan-Dialekt – auch jenseits des Verstehens der Sprache erfahrbar macht.

Die „Stacheln [der Sprache] sind aufgestellt und stechen in dieses weiche Zeitalter“ (S.17). Manchmal stechen sie auch in meinen Lesefluss, ich stoße mich an Worten wie „Venusse“ und daran, dass in der Werkstatt geschleift und nicht geschliffen wird. Zheng Xiaoqiong verwendet wiederholt den Begriff der Zeit und des Zeitalters als etwas Vorübergehendes, Veränderliches und tröstet damit letztlich den Leser ob der beschriebenen Düsternis mit Wandlung und Wiedergeburt: „Wenn die Epoche mich als Ausschussware deklariert,/ dann werde ich ins Feuer zurückkehren, mich in eine Form pressen, in spitze Nägel zerlegen und sie in die Wände der Epoche schlagen“, heißt es im Gedicht „Zum Abriss freigegeben“ (S.21). Die Möglichkeit einer Veränderung sieht sie jedoch nicht.
Sie schreibt über den Alltag der unteren sozialen Schichten, der Arbeiterinnen, der Abgehängten, schildert Orte ihres Alltags in stakkatoartigen Aufzählungen, steckt fest zwischen Ohnmacht und Aufbegehren, beschreibt in wiederkehrenden Bildern das 21. Jahrhundert,/ diese staubgraue Maschinerie, aus der gefällte Litschiwälder/ herabstürzen […]“. Leider fehlt dieses Klappentextgedicht im Buch selbst.
Im letzten Teil „Fußgänger-Himmelsbrücke“ verdichtet sie Gehörtes, Gesehenes, Gelesenes zu einem Crescendo. Zheng Xiaoqiongs Poesie ist Aufschrei, sie deckt auf und klagt an, sie wünscht sich, „dass mehr Schreibende ihre Arbeit mit dem Kampf der Schwachen verbinden, mit den Machtlosen, deren Stimmen nicht hörbar sind.“ (S.174) Ihre Gedichte knüpfen an Traditionen der Arbeiterliteratur, führen uns hin zu den Schmuddelecken. Sie erzählt von einer unterrepräsentierten, von vielen ignorierten Seite unseres 21. Jahrhunderts.

Allerdings vermisse ich Angaben zu den Gedichten. Wann und wo wurden die Originale veröffentlicht? Wurden sie es überhaupt? Diese Information hätte dem Buch gutgetan, wurden nun auf dieser Website nachgereicht.

Unbedingt lesenswert ist diese Lyrikanthologie allemal! Denn: „Alle haben ein Recht auf Gedichte“, erklärt die Autorin in einem Interview, ebenfalls abgedruckt im Band.

Zheng Xiaoqiong: Erzählung von den Konsumgütern. Gedichte. Aus dem Chinesischen übersetzt von Sara Landa, Maja Linnemann, Eva Schestag, Lea Schneider und Christian Filips (Hrsg.), zweisprachige Ausgabe Chinesisch und Deutsch, Reihe Poesie Dekolonie, Bd. 3, Engeler Verlage, Schupfart und Berlin 2025.

Noch mehr Lyrik?

Oken Junge am Meer

Die Keime einer Religion der Poesie

Gastbeitrag von Yu-Sheng Tsou

»Die Liebe ist das Numinose des Herzens«, predigt er. Zumal jetzt,
wo der Frühling da ist.
aus: Yang Mu Frühlinglied

Wu Shih-hungs 吳識鴻 Graphic Novel OKEN: Geburt eines Dichters adaptiert Yang Mus autobiographische Essaysammlung Sturm in den Bergen, Regen über dem Meer, die später in Frühe Schriften aus dem Berg Qilai aufgenommen wurde. Yang Mu 楊牧 (1940-2020) war einer der wichtigsten Dichter*innen Taiwans, der – angeregt von der englischen Romantik – einen poetischen Archetyp der modernen Poesie Taiwans schuf, dessen Leitbegriff der Naturrhythmus ist und den Yang Mu selbst alleine zu seiner Vollendung brachte. ​

​Die Erzählung erstreckt sich über das Ende der japanischen Herrschaft (im Jahr 1945) bis hin zu den Wirren nach der Ankunft der chinesischen Macht Kuomintang (ebenfalls im Jahr 1945) in Taiwan. So erlebte der Dichter in seiner Kindheit gewaltige Umwälzungen in Sprache(n) und Kultur(en); hinzu kam ein großes Erdbeben 1951 in Hualian. In seinem Essay „Die Keime meiner Poesie“ erinnert sich der Dichter folgendermaßen an diese Erfahrung kosmischer, den Wesensgrund erschütternden Gewalt: ​„Dass Himmel und Erde wahrhaftig von Gottheiten bewohnt werden, dass ihre geheimnisvolle Schöpfung und Umwandlung mit mir in Resonanz und Antwort treten kann – dessen wurde ich mir erstmals vor und nach einem großen Erdbeben gewiss. (…)
Da kam gleichsam aus einer fernen, unbegreiflichen Gegend eine geheimnisvolle, schwache Stimme herüber, zwischen Sein und Nichtsein schwebend, ein erschreckendes Geräusch, das bereits angekommen war, bevor ich es völlig begriff, und zugleich begann die ganze Welt zu zittern. Erdbeben!“

​ Die menschliche Welt – Politik, Sprache, zwischenmenschliche Beziehungen. Die Welt der Maschinen – der Zug, den das Kind auf der Flucht bestieg, der den Kosmos in den Rhythmus auf den Schienen zerteilte; die Setzerei seines Vaters; die in das Meer versunkene Standuhr. Die Kosmosmaschine. Die Natur – die Tiefe in den Bergen in Osttaiwan, wo das Kind mit den Eltern auf der Flucht Zuflucht suchte, deren Farbtöne, Klänge und Düfte. Die Kunst – das vom japanischen Freund dem Vater geschenkte blankpolierte Samuraischwert.
Das in jenem Moment vor dem Erdbeben Gesehene: „An diesem Tag stickten die Mädchen Blumen. Jede hielt in der linken Hand ein schönes Stück Stoff, das in der Mitte von zwei Ringen gespannt und gestrafft war, darauf waren Muster gezeichnet – Pfingstrosen, Schmetterlinge, Goldfische und dergleichen –, mit der rechten Hand führten sie die Nadel und stickten bunte Seidenfäden in die Ringe hinein, so konzentriert und schön“; der Bildhauer religiöser und ikonischer Statuen, die in den unruhigen Zeiten künstlerische Gestalt annehmen und einheimische wie fremde Gottheiten in die Welt brachten. So entsteht undeutlich ein Bereich, in dem sich Kunst, Geist und Kosmos begegnen.

​ Die Graphic Novel stellt diese Räume und ihr wechselseitiges Sich-Entfernen, Sich-Nähern und Verschmelzen mit Tusche- und Aquarellstrichen dar. Gerade Tusche und Aquarell, diese flüssigen Farben, lassen die Leser*innen an die Verschmelzung dieser einst getrennten Bereiche denken. Doch wie bei Yang Mus eigener Poesie liegt das Bewegendste meines Erachtens dort, wo die flüssigen Farben auf die Natur treffen – Luftströme, Düfte in den Luftströmen, die gigantischen Berge in Osttaiwan, die Feuchtigkeit der Blätter, die aus der Erde freigesetzte Gewalt, die die Welt der Menschen und Maschinen erschüttert und zerstört.

​ ​Zwei Szenen haben mich besonders berührt.

​ ​Die erste ist die Szene der Begegnung des jungen Dichters mit dem Bildhauer taiwanischer/chinesischer Gottheiten. Der Kontext ist folgender: Die Gottheiten des japanischen Shintō haben keine Götterstatuen in den Schreinen, sondern werden durch symbolische Gegenstände bezeichnet, die den Ritualen als Bezugspunkt dienen – etwa Spiegel oder Schwerter, die als shintai 神体 (das Konkrete einer Gottheit) bezeichnet werden. In der Erzählung empfindet der Dichter daher die Götterstatuen mit konkreter menschlicher Gestalt als fremd. Der junge Dichter erlebt nicht nur die Revitalisierung bereits „taiwanisierter“ chinesischer Gottheiten, sondern wird auch Zeuge des Einzugs einer neuen Schar von Gottheiten, die mit der chinesischen Macht Kuomintang kamen. Der Bildhauer religiöser Statuen, der den taiwaniserten chinesischen sowie den neuen chinesischen Glauben stützt, lässt den Dichter miterleben, wie anthropomorphe Gestalten unter seinen Händen allmählich zur Vollendung gelangen, um dann die Hände eines Demiurg-Künstlers zu verlassen und zum Kern des Glaubens zu werden. Hier berührt der Dichter zum ersten Mal im Leben den Bereich, in dem Kunst, Geist und Schönheit zusammentreffen.

​Die zweite ist die Szene, in der der junge Dichter nach dem Erdbeben in den Wald geht und dort dem „schönen und schrecklichen“ Geist in einer wie Müll weggeworfenen Gottheitsstatue begegnet. Um die Schönheit und Gewalt des Kosmos kreisend, beginnen ein Dialog und die Vorstellung einer poetischen Religion, die sich um das in jedem Kunstwerk aufbewahrte Material dreht – Material, das aus Spuren menschlicher Arbeit und der Zusammenarbeit zwischen Elementen in der Natur besteht – sowie um jene Momente menschlicher Selbstüberschreitung und Ekstase. Eine Religion der Poesie, die Kunstfertigkeit und Kunst verehrt und dem Menschen rückwirkend sein eigenes Bild und seinen Ort gibt.

Shih-hung Wu: OKEN: Geburt eines Dichters. Eine Adaption des Bandes Sturm in den Bergen, Regen über dem Meer mit sieben autobiografischen Essays von Yang Mu (楊牧). Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Chinabooks.ch, 2025

Weiterer Text über Hualian, die Stadt am Meer:

https://www.mosaikzeitschrift.at/literatur/freitext-alice-gruenfelder

Weitere Hinweise auf Bücher aus Taiwan:

Wege durch finstere Zeiten

Finster sind die Zeiten

Afghanische und Schweizer Texte über Flucht und Asyl.

Da will eine nicht mehr länger zusehen, da schreckt eine weder bürokratische Hürden noch die Not der Afghaninnen und Afghanen, aus der kein Entkommen scheint. Die Rede ist von Sabine Haupt, die hochgefährdeten afghanischen Intellektuellen (Schriftstellerinnen, Journalisten, Universitätsdozentinnen, Menschen- und Frauenrechtsaktivisten, Juristinnen) mit ihrem beherzten Engagement ermöglicht hat, nach Europa zu gelangen. Um diese Aktion zu dokumentieren, an der ein ganzes Netzwerk von ehrenamtlichen Helfer:innen beteiligt ist und das von PEN Schweiz unterstützt wurde, entstand diese Anthologie mit Beiträgen afghanischer und Schweizer Autorinnen und Autoren.

Der Publizist Roger de Weck schreibt im Vorwort: «Der Schritt vom Entsetzen, vom Zorn oder Mitgefühl zu einer beherzten Tat ist nicht selbstverständlich», stellt er fest. «Oft fehlt es an Tatkraft, und bloße Empörung ist Passivität. Die afghanischen Autorinnen und Autoren dieses Buches aber sind heute in der Schweiz oder sonst wo in Europa, weil ein Individuum die Initiative ergriff und gegen die Gleichgültigkeit, die Bürokratie, die kühl organisierte Abwehr von Geflüchteten kämpfte. Dieser Mensch ist Sabine Haupt, Herausgeberin des vorliegenden Bands. (…) Zur Tat schritten ihrerseits die Afghaninnen und Afghanen, die ein Albtraum ins Exil schlug. Sie taten jenen Schritt, der das Herz zerreißt und oft das Leben aus seiner Bahn wirft, um überhaupt das Leben und das der Nächsten zu bewahren. Sie verließen eine Heimat, in der Gewalt, Willkür und Menschenverachtung zum Gesetz erhoben wurden.»

Die Texte der afghanischen Autorinnen, Anwälte, Dozentinnen, Aktivisten sind so unterschiedlich wie Menschen es sind, doch zwei Triebkräfte – so kommt es mir vor, da ist eine unglaubliche Kraft, die die Menschen, die Texte vorantreibt – sind in allen zu spüren. Neben der Tragödie, das Land, die Familie verlassen zu müssen, oft gar nicht verlassen zu wollen, ist es die Kraft, den Neuanfang, die Chance zu schätzen und sich von den Umständen nicht unterkriegen zu lassen. Der Schmerz in den Gedichten von Jahan A. Afroz wird zunächst zerschnitten von senkrechten Strichen, „um jede Zunge hängt ein Schloss / Klage klemmen in der Kehle“, eine Rhapsodie zwar auf das Schicksal, aber auch ein Aufruf: „Gegen das Joch und die Gewalt / Werd ich mich stets erheben … Schreite fort voller Elan / Brich Tabus, sei mutig / Zündel nicht an deinem Leben …“. Andere schreiben nüchtern von Abschied und Ankunft, wieder andere sind ganz in sich gekehrt und holen Worte aus einer dunklen Tiefe (Nilofar Niksear in „Deine Albträume“). Der ehemalige leitende Staatsanwalt Ekramuddin Barez („Von Kabul in die Schweiz“) erhebt in seinem Text Vorwürfe, denn die SEM (Schweizer Staatssekretariat für Migration) habe ihm in seinem Asylantrag unterstellt, die Haftbefehle der Taliban gefälscht zu haben, um eine Einreise zu erwirken.

Daniel Rothenbühler, ehemaliger Präsident von PEN Schweiz, zitiert mit A. Gramsci das Engagement von Sabine Haupt: „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“ Dieses Zitat stimmt indes auch für all die Geflüchteten, die in diesem Textband zu Wort kommen, sicherlich auch für die Künstlerinnen und Künstler, deren Illustrationen die Schatten der Vergangenheit einfangen.

Es ist ein Buch der Vielfalt, der Vielstimmigkeit, lässt sich aufgrund der Wuchtigkeit der Themen nicht in einem Fluss durchlesen, könnte vielmehr immer wieder dann zur Hand genommen werden, wenn der eigene Tunnelblick zu düster gerät.

In der Leseprobe ist nachzusehen, wer worüber schreibt, der Band selbst ist gegliedert in vier Kapitel: „Wie alles begann“, „Was früher war“, „Wie es weiterging“, „Der Blick von außen“. Mein Text „Eindringlinge“ über Neophyten zeigt lediglich, wie fremd und feindlich der eigene Garten werden kann, wenn Fremdes sich einnisten will.

Sabine Haupt: Wege durch finstere Zeiten. Afghanische und Schweizer Texte über Flucht und Asyl. Verlag die Brotsuppe, 360 Seiten.

Mauerläufer Zeitschrift Krisen und Magie

Krisen & Magie …

... als ließen sich beim Blick in die Glaskugel die Probleme der Welt lösen?

Weil es zu viele sind, weil sie allgegenwärtig sind, fangen wir an, sie zu überblättern, steht im Editorial der aktuellen Ausgabe des Literarischen Jahresheftes Mauerläufer. Und so gehen die Autorinnen und Autoren hinein in einen Cottbusser Sommer oder hinauf in die wilde Rentiereinsamkeit.
„Sollten wir uns nicht doch ein Paar Handschuhe kaufen?“ Auf jeden Fall, antwortet Niels Zubler auf die Frage von Chris Inken Soppa im Editorial der Zeitschrift, denn warm anziehen müssen wir uns jetzt und in Zukunft.

Mein Text über die Handschuhe steht auf Seite 116.

Mehr Texte, Illustrationen, Gedichte, Aufrufe, Reflexionen auf allen anderen 192 Seiten der Literaturzeitschrift Mauerläufer.

Wolken

Ein Jahr lang „wettern“

Ein Langedicht übers Wetter

Wie wäre es, fragte ich Eva Roth, über etwas so Flüchtiges wie das Wetter zu schreiben? Ja, antwortete Eva, und wenn der Anfang nicht passt, schneiden wir ihn später einfach wieder ab. So sprachen wir miteinander in Gedanken ständig übers Wetter, schickten uns Zeilen, die die andere weiterdachte und fortführte. Mal ist vom Pieselwetter die Rede, vom Husten und Niesen, Nesseln und Schlingen, von seltsamen Gestalten, die über den See wabern –  es ist hier und da eingeflossen in unser Wetterschreiben. Der Kommentar zum Wetter liest sich jedenfalls Jahre später noch wie ein Meta-Text zu diesem kollaborativen Projekt.

Nachzulesen ist nun das ganze Gedicht auf literaturblatt.ch

Weitere Texte übers Wetter:

Der Unwetterer Adolf Stäbli

Ein Stadt wartet auf ein Unwetter

Rezension zu Der Tag, an dem die Sonne starb

Das Wetter auf einer Insel: Rabbit Island

freitext alice grünfelder

Eine Stadt wartet

Eine Stadt am Meer, wartet, harrt aus, weil Unwetterwarnungen das Leben lahm legen.

Eine Stadt, die – eine Fahrradstrecke lang – eine Müllhalde, eine Kläranlage, Kieshalden am Meer ablegt.

Eine Stadt, in der das Hinterland mitschwingt.

So eine Stadt, in wenigen Zeilen verdichtet, erschien nun auf Freitext.

Gedichte in vier Sprachen

Gedichte hören

Die Multimedia- und Soundkünstlerin Pei hat die Meeres- und Kindergedichte von Tsai Wan-Shuen in vier Sprachen einlesen lassen: Deutsch, Französisch, Chinesisch und Taiwanisch. Und von verschiedenen Sprecherinnen, Kindern und Männern.

Zum ersten Mail ausgestellt bzw. hörbar sind diese Gedichte während des Taiwanfestes in Zürich am 7. Juni 2025.

Die Files der einzelnen Sprachen sind anzuklicken, und hinter jedem File verbergen sich mehrere Gedichte aus den Bänden Küsten (Hochroth Verlag Leipzig) und Ich will im Meer aufwachen (Drachenhausverlag).

Viel Freude beim Hören, denn Gedichte wirken erst, wenn sie gelesen, wenn sie gehört werden.

https://taiwanfest.ch/%E8%87%BA%E8%AA%9E-taiwansisch

https://taiwanfest.ch/%E8%8F%AF%E8%AA%9E-mandarin

https://taiwanfest.ch/%E5%BE%B7%E8%AA%9E-deutsch

https://taiwanfest.ch/%E6%B3%95%E8%AA%9E-fran%C3%A7ais