Wider das Vergessen

semsandberg

Warum hält niemand die Maschine auf? Denn wenn das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann brich das Gesetz, forderte schon Thoreau. Diese Frage drängt sich erneut auf bei diesem Roman über „Die Erwählten“, die in einer Wiener Kinder- und Jugendpsychatrie qualvoll zu Tode kamen.

„Irgendwann muss doch mal Schluss sein“, hörte ich, wie einmal eine Frau zu einer anderen sagte und sich darüber beschwerte, dass sie im Urlaub in Norwegen als Deutsche so unwirsch behandelt worden sei.

Die Hauptfigur in Steve Sem-Sandbergs Roman Die Erwählten, Adrian Ziegler, könnte dem entgegenhalten: „Es gibt eine Art Vergessen, die nicht dasselbe ist wie sich nicht mehr zu erinnern, sondern es ist so, als sei das Gehirn verstummt.“ Bei ihm aber ist es noch schlimmer. Seine Zeit in Spielgrund, einer sogenannten Fürsorgeanstalt für kranke, behinderte und „nicht erziehbare“ Kinder und Jugendliche, die von 1940 bis 1945 medizinischen Versuchen ausgesetzt und gequält worden waren, muss er „wegamputieren“. Er war wie viele andere zwischen seinem 10. und 15. Lebensjahr Krankenschwestern und Ärzten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, da er Zigeunerblut in sich trug.

Über die (Mit-)Schuld von Ärzten und Krankenschwestern bei der Euthanasie vermeintlich unwerten Lebens wurde schon oft erzählt, gleichwohl erschüttert jedes Mal aufs Neue, wie dieses System funktionierte. So erzählt der Autor relativ nüchtern von kleinen seelischen Verwundungen, die in Abhängigkeiten führten. Die Krankenschwester Anna Katschenka zum Beispiel fühlte sich von ihrem ersten Gatten, einem Juden, so gedemütigt und vom Arzt Jekelius gerettet, dass sie fortan folgsam untertan agiert und abgehärtet ist gegen die Kinderschicksale, denen sie meistens frei von jeglicher Empathie gegenübersteht. Auch die Ärzte beugen sich mehr oder weniger gewissenhaft dem Beschluss, der aus Berlin kam – worauf sie sich später berufen konnten –, minderwertige Leben auszumerzen. Man hatte zu folgen, man versteckte sich hinter dem „man“ und einer Mauer aus Schweigen, die besorgte Eltern nicht durchbrechen konnten, selbst wenn sie gewollt hätten. Und manche haben es auch nicht einmal gewollt, waren froh, den Bastard, das Kind mit dem Wasserkopf, den schwer erziehbaren Adrian Ziegler endlich los zu sein, oder waren schlichtweg überfordert von der eigenen Lebenssituation. Abgeschobene Kinder also und welche, bei denen die Eltern meinten, im Spiegelgrund bestünde noch Hoffnung, von den Ärzten anfangs auch so vorgegaukelt, die nur wenig später den Totenschein ausstellten.

Der dänische Autor Steve Sem-Sandberg, der schwedischen Dokumentarliteratur verpflichtet, konzentriert und verdichtet die Geschichten von unzähligen Kinderschicksalen. Seine nüchterne Erzählweise verstärkt den Schrecken nur noch und auch die Empörung über so viel Ungerechtigkeit selbst den Überlebenden gegenüber: Als Adrian Ziegler später seinem Peiniger aus Spiegelgrund gegenübersitzt, sorgt der dafür, dass Adrian noch länger hinter Gitter bleiben muss als juristisch notwendig. Der andere aber, Dr. Gross, macht mit seinen Forschungsarbeiten an Kindergehirnen Karriere, ja wird als Koryphäe und von der Medizinwelt hofiert. Nur für seine Verbrechen kann er nicht belangt werden, denn als die erdrückenden Beweise endlich auf dem Tisch liegen, ist Dr. Gross aus Altergründen nicht mehr vernehmbar.

Klar könnte man entgegenhalten, über all das wurde doch schon so oder anders berichtet, wozu braucht es darüber wieder einen Roman? Und warum meint Aldo Keel in der NZZ, dass es eine „qualvolle, doch bitte notwendige Lektüre“ sei? Dieses System des Wegsehen, des Duckens, des Vergessens, des Mitmachens, der Karrierefixiertheit, so steht zu befürchten, wird nach wie vor befördert. Und deshalb sind solche Romane noch immer wichtig. Denn solange solche Charaktereigenschaften gefördert werden und Zivilcourage bestraft wird, ist noch lange nicht Schluss mit dem Vergessen, denn die Maschine läuft weiter.

Steve Sem-Sandberg: Die Erwählten. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek, Klett-Cotta Verlag, 2015

 

 

 

Amrum

IMG_8690Dünengräser ducken sich im Wind, beugen sich vor ihm – in China würde man sagen, es ist geschmeidig wie der Wind und bricht nicht.
Wind streicht über die Haut, durch das Haar, Wind treibt Abfalltüten vor sich her, in die Luft, Wind rauscht durch Bäume, über die Dünen, die Graskuppeln ducken sich, wiegen sich, richten sich nur selten auf, geduckte Haltung ein Leben lang. Oder eben. Angepasst und nicht gebrochen.
Grelle Sonne über gleißendem weißem Sandstrand, feinster Sand überall, in den Zehenritzen, unter den Zehennägeln, in den Haaren, Wimpern, Augenbrauen, Ohren, nicht zwischen den Zähnen, die Lippen immer fest aufeinander gepresst.
Möwen greinen wie kleine Kinder, lachen, quoarken, schreien.
Enten im Vogelzug im Sommer schon und nicht erst im Herbst?
Und mittendrin der Himmel.
Schwarzes Band, metallen blinkend, hinter dem weißen Sand: das Meer.
Kein Meeresrauschen, nur Möwen keckern höhnisch.
Wunderland schwappt über Dünensand.

„Sie haben nie vergessen, sie haben nie gewusst.“

Ein ganzer Monat verschwindet aus dem kollektiven Gedächtnis Chinas

Befrage man heute junge Menschen in China, was sich im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens zugetragen habe, ernte man nur Achselzucken, berichten westliche Journalisten. Wie kann es sein, dass ein, zwei Generationen dieses Ereignis vergessen oder aus praktischen und politischen Gründen verdrängt haben? Möglicherweise war es diese Überlegung, die den Hongkonger Autor Chan Koonchung umtrieb. In seinem Roman Die fetten Jahre wehrt sich eine kleine Gruppierung gegen diese kollektive Amnesie. Ausgerechnet Asthmatiker erinnern sich an DEN bestimmten Monat, da sie Medikamente einnehmen, die immun machen gegen die Vergesslichkeit. Das Volk aber ist hyperglücklich, denn nachdem die Menschen viele Jahre unter Aufständen, Plünderungen und Lebensmittelknappheit litten, liess die Volksbefreiungsarmee alle unbotmässigen Aufrührer verhaften und versetzte das Trinkwasser mit einer Chemikalie, die die Menschen euphorisiert und unangenehme Erinnerungen löscht. Gleichzeitig tilgte die Regierung alle Spuren von jenen Chaostagen im Internet und in den Archiven. Ja, der Roman spielt im Jahr 2013, in einer sehr nahen Zukunft, und nähere sich der Realität immer mehr an, so der Autor. Und je länger die Partei herrsche, desto öfter müsse sie Löschaktionen im kollektiven Bewusstsein durchführen, stellte der Autor fest, als er im Jahr 2000 nach Peking zog. Neubewertungen der Kulturrevolution, der Unruhen auf dem Platz des Himmlischen Friedens, der Tibet- und Taiwan-Frage seien unmöglich.

Doch zurück zum Roman: Chen, wohl das Alter Ego des Autors, begegnet zwei alten Bekannten, die schon vor vielen Jahren zu einer Gruppe Andersdenkender gehörten und im Verborgenen leben. Xiaoxi ist geistig verwirrt und wittert überall Gefahr; doch die droht ihr am ehesten vom eigenen Sohn, einem chauvinistischen und nationalistischen Politikstudenten. Es ist die Liebe, die Chen einst für Xiaoxi verspürte, weshalb er gemeinsame Sache mit dem versprengten Grüppchen macht. Denn sie können und wollen sich nicht damit abfinden, dass sich das chinesische Volk mit einem Status quo zufrieden gibt, obwohl die politische Lage ihrer Meinung nach so schlecht war wie nie zuvor. China ist mittlerweile zwar Wirtschaftsmacht Nr. 1, und um die Wirtschaft anzukurbeln, werden die Einheimischen zum Konsum gezwungen. Kanada, Australien und Neuseeland – die neuen Drittweltländer – versorgen China mit wichtigen Gütern, derweil sie von China Fertigprodukte kaufen. Und der Yuan ist anerkannte Handelswährung. Xiaoxi und Chen haben dies zwar beobachtet, können sich aber die Zusammenhänge nicht wirklich erklären, weshalb sie kurzerhand beschliessen, einen sogenannten Reformpolitiker zu entführen. Ein kruder Plot, zugegeben, doch das Entführungsopfer erklärt China auf eine Weise, die es in sich hat: 90 Prozent Freiheit seien garantiert, und für den Rest interessiere sich ohnehin niemand. In bescheidenem Wohlstand sei die Angst des Menschen vor dem Chaos schliesslich grösser als vor der Diktatur. China sei auf dem Zenith, besser könne es nicht mehr werden, und Demokratie führe nur zu Chaos: Es lebe die „sino-faschistische Autokratie“.

Was bleibt den Idealisten anderes übrig als die Flucht weg vom Machtzentrum Peking, hinunter in den Süden? Und prompt wird der Roman von der Aktualität eingeholt, denn einem anderen Autor, Liao Yiwu, gelang auf diese Weise tatsächlich die Flucht. In einem Interview konstatiert er: „Chinesen haben ein Gedächtnisvakuum, sie wollen nicht mehr zurückblicken. Sie wollen nach vorn schauen, das entspricht auch der Politik der Regierung. Man will das individuelle Gedächtnis der historischen Geschehnisse ausradieren, doch das geht nicht, wir wehren uns gegen diese Tendenzen.“ Die Zukunft hat also schon begonnen, und darin zeigt sich eben auch die Brisanz des Romans.

Chan Koonchung: Die fetten Jahre. Aus dem Chinesischen von Johannes Fiederling. Eichborn Verlag, 2011, 300 Seiten

Fluchten

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© Mine Dal, Datça, Februar 2013

Die Literaturzeitschrift entwürfe veröffentlicht zweimal jährlich Texte zu bestimmten Themen, in der jüngsten Ausgabe zum Sujet „Fluchten“.

Zu meinem Text „Vogel, flieg!“ inspirierte mich eine Fotografie von Mine Dal: Eine nackte Puppe hängt in einem vertrockneten Geäst vor einer verlassenen Hütte. Wochenlang wucherten unzählige Antworten : Wie kam diese Puppe bloß dorthin? Bis sich eine Antwort in der Erinnerung an das Schicksal einer fünfköpfigen Familie aus der Ukraine verfing, die in einer verschneiten Jagdhütte gefunden wurde.

In derselben Ausgabe der entwürfe entdeckte ich gleich zwei mir bekannte Namen – und das ist der eigentlich Grund für diesen kleinen Beitrag. Maike Frie, die ich über das Netzwerk texttreff kenne, mit einem Text über die Flucht eines Schwimmers von Ost nach West. Und Eva Roth, der ich in einem Workshop zu Kinder- und Jugendliteratur begegnet bin und die vor kurzem ihren ersten Roman Blanko veröffentlichte, mit lyrischen Reflexionen zu Flüchtlingschicksalen. Zufall? Oder zeigt sich darin, dass ähnliche Interessen sich auch literarisch treffen?

Auch fixpoetry ist diese Ausgabe aufgefallen: „Am Schluss will ich den „entwürfen“ noch ein deutliches Kompliment machen: Die Anzahl von nicht lesenswerten Beiträgen ist in dieser Ausgabe sehr gering geblieben, und mit den meisten Texten kann man sich, vor allem inhaltlich, gut auseinandersetzen. Texte mit experimentellen Formen sind zwar rar, dafür findet sich an vielen Stellen ein gelungenes Maß an gesellschaftlicher Beobachtung und kritischem Bewusstsein, was beides wiederum nicht auf Kosten des erzählerischen Potentials der Texte geht oder zu sehr bemüht wird.“

 

Frustrierende Anonymität

shenzhenNeu sind die Ein- und Ansichten zwar nicht, die der Frankokanadier Guy Delisle von seinem dreimonatigen Aufenthalt in Shenzhen zurückbringt, aber reizvoll ist seine Auseinandersetzung mit dem Kulturschock allemal. In seinem Comic – eine Mischung aus Reisebericht und Tagebuch – gelingt ihm eine künstlerisch überzeugende Reflexion über das Reisen und die Exotik im Allgemeinen und China im Speziellen. Gleich zu Beginn stellt der Ich-Erzähler fest, dass einem von einer Reise oftmals nur die angenehmen Erinnerungen bleiben, die Exotik, weshalb er noch während seines Aufenthalts seine Eindrücke festhält und in Bildern verdichtet.

Ist die südchinesische Wirtschaftswunderstadt so trist, oder weshalb stechen beim ersten Durchblättern von „Shenzhen“ vor allem die grauen und schwarzen Flächen ins Auge, die nur wenig Helligkeit Raum lassen? Die feinen und minimalistischen Zeichnungen verstärken den Eindruck, dass hier ein Einzelner verloren und ohnmächtig durch einen Großstadtdschungel irrt. Tatsächlich leidet der Protagonist vor allem an der Einsamkeit und Isolation in dieser ihm vollkommen fremden Stadt, in die er als künstlerischer Leiter eines Animationsstudios für drei Monate gekommen ist. Da man in der kanadischen Zentrale die Zeichner eingespart hat und die Produktion nach China verlagerte, müssen nun die künstlerischen Leiter vor Ort „Schadensbegrenzung“ betreiben. Selten wurden die Konsequenzen von „Outsourcing“ so plastisch vor Augen geführt wie in dieser Graphic Novel.

Unverstanden fühlt sich der künstlerische Leiter, der sich selbst nicht verständlich machen kann. Also hilft sich unser Zeichner mit Händen und Füßen weiter, nur um immer wieder desillusioniert auf sich selbst verwiesen zu werden. Das Gespräch mit seiner Dolmetscherin, die nach den Titeln ihrer Lieblingsbücher befragt nur „very much“ antwortet, bricht er frustriert ab. Als ein chinesischer Zufallsbekannter ihm seine Freundin mit den Worten vorstellt, sie könne Englisch, wird der Samstag nachmittag schier unerträglich, weil undurchdringliches Schweigen im Raum steht und alle drei hilflos und gelangweilt in den Fernseher schauen. Was unserem Zeichner nur noch bleibt, ist der Gang ins Fitnessstudio, wo er einen anderen Ausländer, den Geschäftsmann Tom, kennenlernt. Sprachkenntnisse allein helfen allerdings in China auch nicht weiter, weiß Tom zu berichten: „Wenn Du nicht chinesisch sprichst, verstehst Du sie nicht … und wenn du chinesisch sprichst, verstehst du sie immer noch nicht …“

So bleiben einem nur die Beobachtungen im Alltag und die entsprechenden Analysen, und die weiß der Zeichner treffend festzuhalten. Der Thermostat im überheizten Hotelzimmer ist lediglich Farce wie auch die Waschmaschinen im Hotel. Warum sonst müssen die Angestellten nächtelang die Wäsche ihrer Gäste von Hand waschen?

Der selbstironische Ton, den Guy Deslise anschlägt und bis zum Schluss durchhält, kann nicht über die Schwierigkeiten der sogenannten und vielbeschworenen interkulturellen Kommunikation hinwegtäuschen. Sein Bild von Shenzhen ist zwar ein subjektives, kann aber auch als Parabel gedeutet werden. Denn mit gesichtlosen, anonymen und monotonen Stadt- und Finanzzentren wird man inzwischen weltweit konfrontiert. Was uns bleibt, ist der Humor, der wie in diesem Comic der selbstverliebten Inszenierung von Anonymität in China und anderswo standhalten kann.

Guy Delisle: Shenzhen, Reprodukt-Verlag, 2006, 152 Seiten, 18 Euro

Der Comic und die Fakten

Guy Deslisle, Olivier Kugler und Joe Sacco im Gespräch mit Lars von Törne

fumetto-podiumÜber grafische Reportage, Reportage-Comic oder “Visual Storytelling”, wie Joe Sacco dieses spannende Genre benennt, unterhielten sich beim Fumetto 2016 gleich drei Comic-Reporter: Guy Deslisle, Olivier Kugler und Joe Sacco verbindet ein eigenwilliger Blick auf Zeitgeschehen, Politik und Gesellschaft – der stilistische Unterschied könnte allerdings kaum größer sein.

Verschwendet Guy Deslisle nach eigener Aussage selten viel Zeit für seine Zeichnungen z.B über Shenzhen oder Pjöngjang, denn diese sollten im Dienst der Geschichte stehen, so braucht Olivier Kugler für eine Seite seiner Flüchtlingsreportagen schon zwei Wochen nur für die Zeichnung. Akribisch arbeitet er sich in die Geschichte der Protagonisten ein und reichert seine Illustrationen mit Zitaten aus den Interviews an. Ein spannender Mix aus Zeichnung und Text, der sich zumindest auf den ersten Blick durch keinerlei Strukturmerkmal einengen lässt. Das Auge fliegt frei über die Seite, die Verbindung muss assoziativ hergestellt werden, was zunächst nicht ganz einfach erscheint, aber schon beim Elefantendoktor aus Laos gut funktioniert hat.

Joe Sacco, von Haus aus Journalist, integriert in seine Comic-Reportagen die eigene Perspektive. Immer wieder, so Joe Sacco, beschlich ihn nach langen und intensiven Recherchen das Gefühl, über gewisse Ereignisse mehr zu wissen als die Einheimischen. Dieses Gefühl der vermeintlichen Überlegenheit thematisiert Joe Sacco z.B. in Gaza, indem er die Geschehnisse rund um ein Massaker nacherzählen und die Widersprüche der einzelnen Erzähler einfach stehen lässt. Denn Joe Sacco glaubt nicht an journalistische Objektivität, sondern Fairness. Dies treibt den Leser und Comic-Reporter zur Frage: Was ist Wirklichkeit und wer bestimmt, was Wirklichkeit ist? Und vielleicht ist es genau dieser Aspekt, der in den Comic-Reportagen erst so richtig aufbricht. „Wenn heute Graphic Novels zu zeitgeschichtlich brisanten Themen boomen und niemand mehr dem Comic die Fähigkeit abspricht, auch komplexe zeitgeschichtliche Themen adäquat zu verarbeiten, liegt das nicht zuletzt auch an Joe Sacco” , so der Schweizer Comic-Spezialist Christian Gasser.

Wie man solche Graphic Novels auch gut in den Unterricht intergrieren kann, eben weil sie einen relativ einfachen Zugang zu komplexen Themen ermöglichen, wird in diesem Workshop gezeigt.

 

 

 

Wenn Kinder schreiben

Im April 2016 war es wieder so weit: Über 60 Kinder haben geschrieben, Gedichte, Rätsel, Kurzgeschichten, und das freiwillig und erst noch in den Ferien! Wie wichtig es ist, Kindern schon früh die Lust am Schreiben zu ermöglichen, zeigte der „Wortschatz“-Workshop im Literaturhaus Aargau, der auch dieses Jahr ausgebucht war. Geleitet haben ihn Jael Lohri und Alice Grünfelder.

Mehr Infos zum „Wortschatz“ in Lenzburg finden Sie hier.

 

 

Ein verhängnisvoller Augenblick

 

siebenjahreAlles scheint klar zu sein. Ein durchgeknallter Mann hat seine Frau getötet, ein Tal geflutet und damit Hunderten von Menschen den Tod gebracht. Doch warum muss der Sohn dieses „Staudammmonsters“ nomadisierend durchs Land ziehen? Kaum hat er sich irgendwo niedergelassen, wird seine Herkunft wenige Wochen später aufgedeckt. Jemand scheint ihm ein neues Leben zu missgönnen, nur wer? Diese Frage ist eine von vielen in Sieben Jahre Nacht der Autorin Jeong Yu-jeong. Tatsächlich sind es sieben ziemlich düstere Jahre, die der Sohn in Obhut eines Onkels – der sich zwar rührend um ihn kümmert, dabei aber sein eigenes Leben verkümmern lässt – von einem Ort zum anderen zieht.

Die Gründe für die Flutung des Tals und die damit zusammenhängenden Morde werden in langsamem Erzähltempo sorgfältig freigelegt. Choi Hyunsu, ein gescheiterter Baseballspieler, handelte im Bruchteil einer Sekunde falsch. Er hat nicht nur ein elfjähriges Mädchen in nicht mehr ganz nüchternem Zustand angefahren, sondern es erstickt und in den See geworfen. Man entscheide „sich seltsamerweise bisweilen für das größte aller Übel, obwohl bessere Alternativen direkt vor uns liegen“, erklärt die Autorin im Nachwort diesen verhängnisvollen Augenblick, der so viele Menschenleben kosten wird.

Und wie das Mädchen also hineinfällt in den See und von einem Taucher zufällig gestreift wird, so schraubt sich die Handlung fortan wie in einer Abwärtsspirale immer tiefer in die Figuren, in die Unterwasserwelt eines gefluteten Dorfes. Kapitel für Kapitel werden aus wechselnder Perspektive die anfangs glatten Oberflächen aufgeraut, den Charakteren immer wieder neue Nuancen hinzugefügt, sodass sie greifbarer werden. Die einen allerdings weniger als die anderen, so bleiben beispielsweise gerade die Frauenfiguren seltsam passiv oder verharren in einer hysterischen Starre.

Ein wenig quer im Raum mag die Binnenerzählung stehen. Der Onkel, der sich des Jungen annimmt, recherchiert jahrelang die Hintergründe dieser Tragödie für einen Roman, verschwindet eines Tages plötzlich, doch dem Jungen wird das Manuskript auf mysteriöse Weise zugespielt. So kommt zu den vielen Figurenperspektiven, die die Geschehnisse der Vergangenheit aufdröseln, noch jene des Autors und des Jungen in der Gegenwart hinzu. Nicht immer ganz einfach zu entschlüsseln, aber reizvoll allemal.

Krimis aus Korea seien im Westen noch nicht angekommen, so die Literaturkritikerin Katharina Borchardt. Und sie fragt den Krimikenner Frank Rumpel, ob dieser Thriller mit seinen schrägen Figuren denn nicht überall spielen könnte? Einige Motive seien durchaus koreanisch, so Frank Rumpel, der Drachen im See, das schamanistische Ritual, mit dem die Seele des ermordeten Mädchens gerettet werden soll. Misstrauen, gesellschaftliche Zwänge und Vereinzelung hingegen seien durchaus universelle Themen.

„Von der Welt zwischen den Tatsachen und der Wahrheit handelt dieser Roman“, schreibt die Autorin, und zugleich sei es „eine Geschichte über die innere Hölle, die jeder in sich trägt.“ Die verstörende Düsternis flackert noch lange nach; Bilder von rätselhaften Unterwasserwelten, die offensichtlich nichts anderes sein wollen als Symbole für die Abgründe, die in unserem Alltag lauern. Und dennoch, so die Autorin, sollten wir trotz der Ausweglosigkeit des Daseins „Ja zum Leben“ sagen können.

Jeong Yu-jeong: Sieben Jahre Nacht. Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel. Unionsverlag, 2015, 520 Seiten

Rätselhafter Thriller

mai jiaEs gibt nur wenige Übersetzer aus dem Chinesischen – wen wundert das, wenn nur wenige Verlage sich trauen, chinesische Autoren in ihr Programm aufzunehmen, und nur wenige Leser sich für Literatur aus China zu interessieren scheinen? DVA hat sich getraut und mit dem Roman Das verhängsnisvolle Talent des Herrn Rong von Mai Jia eine gute Wahl getroffen. Warum, erklärt die Übersetzerin Karin Betz, die neben Werken von Autoren wie Mo Yan und Liao Yiwu auch diesen Spionagethriller ins Deutsche übertragen hat, im Gespräch mit der Sinologin und Kulturvermittlerin Alice Grünfelder.

Das Gespräch über das rätselhafte Mathematikgenie Rong ist nachzulesen in der neuesten Ausgabe der LiteraturNachrichten.

Mai Jia: Das verhängsnivolle Talent des Herrn Rong. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. DVA, 352 Seiten.

 

Nächtliches Spazierenschreiben …

… organisierte das Museum Strauhof im Zusammenhang mit der Ausstellung
„Ce n’est pa trés beau“ zu Friedrich Glausers Werk, wobei folgende Notizen entstanden.

Lumière in der Nacht
Brunnen-Hedwig malt den Schatten des Teufels an die Wand,
der soeben mit gläsernem Aufzug hinauffuhr in die Nacht,
acht Glühlämpchen kündeten von
seinem Kommen.
Hinter ihm strahlt am jenseitigen Ufer eisblau der Waldrand,
eisblau wie in Glauser‘schen Krankenzimmern.
Eine gelbe Schaukel vibriert, der Kies knirscht,
hohl tönen die Schritte auf Steinplatten.
Grell sind die Wissenspaläste angestrahlt,
noch heller irrlichtert blaue und gelbe Leuchtreklame im Fluss.
Rollt ein Koffer nachts über das Pflaster, ist es lauter?
Lauter auch, wenn Wasser in den Brunnen plätschert,
feuchter und kälter die Dunkelheit? Ist ein Pudel nachts weißer?
Illuminiert nur von flackernden Straßenlaternen,
flankiert von Fidelio und Goethe, der einst in Robert Walsers Gasse
zu Mittag aß, am helllichten Tag.
Doch Studers Lächeln sieht man auch im Dunkeln.

Mehr Informationen über ungewöhnliche Spaziergänge
finden Sie bei der Agentur für Gehkultur.