Frustrierende Anonymität

shenzhenNeu sind die Ein- und Ansichten zwar nicht, die der Frankokanadier Guy Delisle von seinem dreimonatigen Aufenthalt in Shenzhen zurückbringt, aber reizvoll ist seine Auseinandersetzung mit dem Kulturschock allemal. In seinem Comic – eine Mischung aus Reisebericht und Tagebuch – gelingt ihm eine künstlerisch überzeugende Reflexion über das Reisen und die Exotik im Allgemeinen und China im Speziellen. Gleich zu Beginn stellt der Ich-Erzähler fest, dass einem von einer Reise oftmals nur die angenehmen Erinnerungen bleiben, die Exotik, weshalb er noch während seines Aufenthalts seine Eindrücke festhält und in Bildern verdichtet.

Ist die südchinesische Wirtschaftswunderstadt so trist, oder weshalb stechen beim ersten Durchblättern von „Shenzhen“ vor allem die grauen und schwarzen Flächen ins Auge, die nur wenig Helligkeit Raum lassen? Die feinen und minimalistischen Zeichnungen verstärken den Eindruck, dass hier ein Einzelner verloren und ohnmächtig durch einen Großstadtdschungel irrt. Tatsächlich leidet der Protagonist vor allem an der Einsamkeit und Isolation in dieser ihm vollkommen fremden Stadt, in die er als künstlerischer Leiter eines Animationsstudios für drei Monate gekommen ist. Da man in der kanadischen Zentrale die Zeichner eingespart hat und die Produktion nach China verlagerte, müssen nun die künstlerischen Leiter vor Ort „Schadensbegrenzung“ betreiben. Selten wurden die Konsequenzen von „Outsourcing“ so plastisch vor Augen geführt wie in dieser Graphic Novel.

Unverstanden fühlt sich der künstlerische Leiter, der sich selbst nicht verständlich machen kann. Also hilft sich unser Zeichner mit Händen und Füßen weiter, nur um immer wieder desillusioniert auf sich selbst verwiesen zu werden. Das Gespräch mit seiner Dolmetscherin, die nach den Titeln ihrer Lieblingsbücher befragt nur „very much“ antwortet, bricht er frustriert ab. Als ein chinesischer Zufallsbekannter ihm seine Freundin mit den Worten vorstellt, sie könne Englisch, wird der Samstag nachmittag schier unerträglich, weil undurchdringliches Schweigen im Raum steht und alle drei hilflos und gelangweilt in den Fernseher schauen. Was unserem Zeichner nur noch bleibt, ist der Gang ins Fitnessstudio, wo er einen anderen Ausländer, den Geschäftsmann Tom, kennenlernt. Sprachkenntnisse allein helfen allerdings in China auch nicht weiter, weiß Tom zu berichten: „Wenn Du nicht chinesisch sprichst, verstehst Du sie nicht … und wenn du chinesisch sprichst, verstehst du sie immer noch nicht …“

So bleiben einem nur die Beobachtungen im Alltag und die entsprechenden Analysen, und die weiß der Zeichner treffend festzuhalten. Der Thermostat im überheizten Hotelzimmer ist lediglich Farce wie auch die Waschmaschinen im Hotel. Warum sonst müssen die Angestellten nächtelang die Wäsche ihrer Gäste von Hand waschen?

Der selbstironische Ton, den Guy Deslise anschlägt und bis zum Schluss durchhält, kann nicht über die Schwierigkeiten der sogenannten und vielbeschworenen interkulturellen Kommunikation hinwegtäuschen. Sein Bild von Shenzhen ist zwar ein subjektives, kann aber auch als Parabel gedeutet werden. Denn mit gesichtlosen, anonymen und monotonen Stadt- und Finanzzentren wird man inzwischen weltweit konfrontiert. Was uns bleibt, ist der Humor, der wie in diesem Comic der selbstverliebten Inszenierung von Anonymität in China und anderswo standhalten kann.

Guy Delisle: Shenzhen, Reprodukt-Verlag, 2006, 152 Seiten, 18 Euro