Mutter und Tochter bleibt nur wenig Zeit, um sich voneinander zu verabschieden. Nach der Diagnose einer unheilbaren Krankheit entscheidet sich die Mutter, selbstbestimmt in den Tod zu gehen. Die Tochter sieht sich mit dem festgesetzten Datum konfrontiert. Ein Lauf durch die gemeinsame Geschichte gegen die Zeit.
Alice Grünfelder im Gespräch mit der Autorin Ariela Sarbacher über ihren Roman Der Sommer im Garten meiner Mutter.
Wann hast Du begonnen, dieses Buch zu schreiben?
Wenige Monate nach dem Tod meiner Mutter fragte mich eine Theologiestudentin, ob sie mich für ihre Dissertation zum Thema Sterbebegleitung befragen dürfe. Sie interessiere, wie wir es als Familie erfahren und geschafft hätten, meine Mutter in ihren Freitod zu begleiten. Ziel dieses Interviews sei, den Blick der kirchlichen Institutionen für die Thematik der Sterbebegleitung zu öffnen und deren Akzeptanz zu gewinnen. Da sie davon auszugehen schien, ich würde die Entscheidung meiner Mutter, mithilfe der Organisation Exit aus dem Leben zu gehen, nicht infrage stellen, wurde mir klar, dass ich keinen Teilausschnitt meiner Erfahrung preisgeben wollte, den andere für ihre Zwecke instrumentalisieren. Das wäre für mich der Komplexität eines solchen Ereignisses nicht gerecht geworden. Kurz darauf sah ich zur selben Thematik eine Diskussion am Fernsehen. Die Gesprächsteilnehmer waren für oder gegen die Organisation der Sterbehilfe. Eine Betroffene, die, so wie ich, eine ihr nahestehende Person begleitet hatte, repetierte Sätze für sich, die ihr nahegelegt worden waren, um die Situation zu bewältigen. Es waren aber nicht ihre eigenen Worte, sondern die ihres verstorbenen Partners und von Freunden.
Die Anfrage der Studentin und die Sendung machten mir klar: Die Angehörigen begleiten ja nicht nur den Menschen, sondern auch die Entscheidung, die dieser Mensch für sich getroffen hat. Damit werden sie in einen Prozess hineingezogen, in dem sie für sich zu einer Haltung finden müssen. Das bestärkte mich weiter in meinem Vorhaben, nach einem eigenen Ausdruck für dieses Geschehen zu suchen.
Ist Schreiben eine Bewegung gegen das Vergessen gewesen? Wie viel Distanz zwischen Sterben und Schreiben brauchtest Du?
Meine Mutter entschied sich, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich fing sofort an, darüber zu schreiben. Vermutlich war es damals der Versuch, das, was mir gerade passierte, was mich fassungslos machte, schreibend zu begreifen. Die blosse Tätigkeit, mit einem Stift in der Hand meine Worte auf ein Blatt Papier zu bringen, gab mir ein wenig Sicherheit zurück; es zeigte mir, dass es noch etwas gab, das mir vertraut war, woran ich mich halten konnte. Ich schrieb nur für mich.
Ein halbes Jahr später wollte ich all das, was ich bisher erlebt und woran ich geglaubt hatte, nicht verlieren. Deswegen war der Titel vielleicht die erste Eingebung, die zu meinem Roman führen sollte. Er umschloss alles, worum es geht. Es sollte die literarische Umsetzung einer persönlichen Erfahrung werden.
Lange Zeit hätte ich mir auch vorstellen können, einen Monolog für das Theater zu schreiben. Oder einfach einen Text mit Titel und meinem Namen. Zu keinem Zeitpunkt dachte ich, ich schreibe jetzt einen Roman. Das hätte ich mir nicht vornehmen können. Für den Schreibprozess war es mir wichtig, das Format so lange wie möglich offen zu halten. Ich folgte meinem dringenden Bedürfnis zu schreiben – mit ungewissem Ausgang. Nach zwei Jahren las ich zum ersten Mal öffentlich aus meinem Manuskript. Ich trat mit einer Sängerin auf, die zu diesem Anlass einige Gedichte von Emily Dickinson über den Tod vertont hatte. Danach dauerte es nochmals zwei Jahre, bis ich meinen Text als abgeschlossen betrachten konnte.
Die Erfahrung der Lesung vor Publikum hatte mein Vertrauen in meinen Text gestärkt. Gespräche mit anderen Schriftstellern gaben mir obendrein wichtige Impulse, aus denen ich mein Eigenes entwickeln konnte. Mein familiäres Umfeld hat mir viel Raum gelassen, das habe ich als grosse Ermutigung erfahren. Natürlich gab es Phasen der Unsicherheit, in denen ich nicht wusste, wie bringe ich das, woran ich all die Zeit gearbeitet hatte, in eine Form. Im Rahmen meiner Ausbildung «Literarisches Schreiben» bot sich mir dann die Möglichkeit, meinen Text zum Abschluss zu bringen. Ich konnte ein dreiviertel Jahr ungestört schreiben und dranbleiben. Alles bisher Geschriebene darin einfliessen lassen. In dieser Zeit fand ich dann auch zur endgültigen Fassung der Geschichte.
Wenn die Mutter stirbt, was bleibt der Tochter?
Das vollendete Schicksal der Mutter führt Francesca, die Tochter im Roman, ihre spezifische Mutter-Tochter-Beziehung vor Augen. Es stellen sich Fragen, unter anderem, wer der Mensch jenseits unserer Beziehung zu ihm ist. Francesca reflektiert, wie viel Wandel im Miteinander möglich war und nimmt plötzlich die Veränderung bei sich und den Hinterbliebenen wahr, wenn kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Um die widersprüchlichen Gefühle, das Zusammenfallen von Erinnerung und überfordernder Gegenwart zum Ausdruck zu bringen, habe ich eine poetische Form gewählt, die der Komplexität der Ereignisse und Zusammenhänge gerecht wird, dem einmaligen Verhältnis von Francesca zu ihrer Mutter, diesem für sie unersetzlichen Menschen mit ihrer ganz besonderen Geschichte.
Die Unbeirrbarkeit und Stärke der Mutter waren für Francesca zu Lebzeiten der Mutter oft erdrückend gewesen. Nach dem Tod der Mutter gelingt es Francesca, diese Qualitäten auch bei sich mehr wahrzunehmen. Sie zu verinnerlichen.
Die Kleider und Gegenstände der Mutter. Sie sind von ihr beseelt.
Die Handschrift.
Die Muttersprache.
Was verschwindet mit der Mutter bei ihrem Tod?
Die Möglichkeit, verpasste Gelegenheiten miteinander nachzuholen. Die einvernehmlichen Gespräche und die hitzigen Diskussionen. Man kann nichts mehr auf die Mutter abwälzen, und man kann sich nicht mehr an ihr anlehnen.
Ihre Berührung.
Die Pausen zwischen den Telefonaten werden länger.
Ihre Stimme.
Hast Du Dir beim Schreiben auch über die ethische Ästhetik Gedanken gemacht?
Die einzige Entscheidung, die ich im Vorfeld getroffen habe, war, ein schriftliches Zeugnis abzulegen, das literarische Qualität hat.
Die Thematik der Sterbehilfe begegnet mir vor allem hier in der Schweiz in einer Mischung von Aufgeklärtheit und Tabu. Man ist dafür oder dagegen, aber man spricht nicht so gerne darüber. In Italien oder in Deutschland erlebe ich die Diskussion freier. Vielleicht, weil es dort nicht legal ist und man sich deshalb mit mehr Distanz darüber äussern kann, was immer einfacher ist. Mich hat interessiert, was passiert, wenn jemand jenseits eines Pro oder Contra ist. Also unfreiwillig mit in die Entscheidung eines nächsten Angehörigen mit hineingezogen wird. Die Mutter-Tochter- Beziehung schien mir als engst mögliche Verbindung dafür zu stehen. Die Figur der Francesca braucht lange, bis sie jemanden findet, der bereit ist, ihre Trauer mit ihr zu teilen. Ihr zuhört und nicht mit einer vorgefassten Meinung, zustimmend oder ablehnend, gegenübertritt. Interessanterweise findet dieses Gespräch am Telefon und über die Grenze nach Deutschland statt. Ich wollte zeigen, welche Zweifel sie quälen, wie die Entscheidung der Mutter auf die ganze Umgebung Einfluss hat. Gleichzeitig war es mir sehr wichtig, die Geschichte der Mutter zu erzählen. Was sie zu diesem Schritt geführt haben könnte.
Oder ich könnte mit einem Zitat von Brecht antworten: «Wie soll Kunst die Menschen bewegen, wenn sie selbst nicht von den Schicksalen der Menschen bewegt wird?»
Was hat das Schreiben bei Dir ausgelöst, was soll es beim Lesen auslösen?
Für mich war es ein Ablegen und Speichern. Oder ein Speichern durch Ablegen. Ich bin gespannt, was der Roman beim Lesen auslöst. Das plane ich beim Schreiben nicht mit ein, sondern ich versuche, mir selber auf die Spur zu kommen und herauszufinden, was ich erzählen will und wie es sich erzählen lässt. Alles Weitere soll sich dann zwischen dem Text und Leser abspielen.
Ariela Sarbacher: Der Sommer im Garten meiner Mutter
Roman, gebunden, mit Lesebändchen
Bilgerverlag, ISBN 978-3-03762-083-0
ca. 200 Seiten, 30 Franken / 23 Euro