Eine ganz normale chinesische Familie?

Ein Leben in Comicbildern

Gefährlich wird es immer dann, wenn sich die Gesichter der Menschen entleeren, wenn nur noch Umrisslinien von ihrem Dasein zeugen im grafischen Roman „Ein Leben in China“.

Ein Leben in China

Ein Leben in China

Als während des Großen Sprungs nach vorn (1958 bis 1961) das Brennmaterial zur Neige geht, lassen sich die Frauen kurzerhand ihre Haare abrasieren. „Keine grosse Sache, Herr Hauptmann, einfach ein paar Gramm weniger auf dem Kopf“, meint eine froh gelaunt, doch das Bild der leeren Figuren inmitten der Haufen Haare straft sie Lügen. Dieser Optimismus vermag indes einen alten Hasen wie den Vater des Zeichners nicht zu täuschen, seine Laune wird von Tag zu Tag schlechter, was sich seine Kinder gar nicht erklären können, jetzt, da Mao mehr denn je den revolutionären Eifer anstachelt. Schliesslich reisst die Kulturrevolution (1966 bis 1976) wie eine Flutwelle alles mit sich, der Einzelne ist einer von Abermillionen Wassertropfen, die sich zu einem großen Strom vereinen.
Kinder und Jugendliche – in den berüchtigten roten Garden organisiert – gehen rigoros gegen alles vor, was nach Bourgeoisie riecht. Sie kämpfen gegen bürgerliche Gerichte wie „Festmahl im Palast“, verlangen, bestimmte Theaterstücke vom Spielplan zu nehmen, und der Coiffeur muss es sich gefallen lassen, dass man ihm Abbildungen von revolutionär genehmen Frisuren vorlegt – womit der Kleine Li zugleich sein Coming-out als Zeichner feiert. Wellness ist dazumal erst recht verpönt, der Besuch im öffentlichen Bad wird zum Skandal: „Einige Gäste lassen sich massieren, das ist eine Art der Ausbeutung, die verboten werden muss.“
denunziation
Denunziation macht auch vor der Familie des Zeichners nicht Halt. Ein guter Freund zerrt den schlechten Klassenhintergrund der Familie ans Licht, der Vater wird daraufhin ins Umerziehungslager gesteckt, wo ihn sein Sohn vier Jahre später als gebrochenen Mann kaum mehr wiedererkennt. Dennoch gelingt es dem Kleinen Li, bei einem Maler in die Lehre zu gehen. Wie hat der wohl die Kulturrevolution mit so einem verwegenen Gesicht überlebt? Li lernt Mao-Porträts in allen Variationen zu malen, entdeckt aber eines Tages hinter den Leinwänden unzählige Zeichnungen von nackten Frauen. Wenn das nicht bourgois ist! Wird der Kleine Li den Mund halten?
Die gesellschaftlichen Wirren verknoten sich immer mehr, der Kampf ums tägliche Überleben legt sich wie Mehltau über die Gesellschaft, die ersten Jugendlichen werden aufs Land verschickt. Der Kleine Li will jedoch Soldat werden, seine Mappe mit den Mao-Porträts gewährt ihm den Zugang.

Der erste Band dieser Autobiografie in Bildern endet mit Maos Tod. Ein Zittern, eine Erschütterung geht durch das Volk. Und der Zeichner konstatiert: „Ich bin mir dir geboren worden und erlosch mit dir.“
Die Identifikation des Einzelnen mit dem großen Führer ist für uns unvorstellbar, aber darin liegt die Stärke dieser Grafic Novel: anhand des Schicksals einer Familie die Auswirkungen dieser enormen historischen Umwälzungen sichtbar zu machen. Von Bild zu Bild wird einem bewusster, wie sich das chinesische Volk über sein Land und seinen Führer definierte, wie es möglich war, dass so viele Menschen Opfer dieser Gehirnwäsche werden konnten. Nie gibt es ein Innehalten, ein Zögern in dieser Propagandamaschine.aufmarsch
Die Tableaus erlauben einen aufgefächerten Blick auf die Gesellschaft und sind mehr auf die Details ausgerichtet als dass sie das große Ganze ins Auge fassen, dies entspricht auch dem textlichen Zugang zur Geschichte. Geradeaus und einfach erzählt wird die Kindheit und Jugend des Malers, weitschweifige historische Exkurse und Erläuterungen werden ausgespart, die Zusammenhänge werden dem einfachen Chinesen damals ebensowenig erklärt wie dem Leser heute.
Die Zeichnungen weisen eine enorme Bandbreite auf: Manchmal meint man gar, den Einfluss der traditionellen chinesischen Landschaftsmalerei zu spüren, so wie Li Kunwu auf seinen Bildern Mensch und Landschaften arrangiert. Bei den Massenveranstaltungen aber wirken die Einzelnen wie überzeichnete Comicfiguren. Und werden einmal ganz leer, weil sich später niemand mehr erinnern wird oder erinnern will. Der Maler, der jahrelang propagandistische Comics im Auftrag der Partei zeichnete, hat jedenfalls sämtliche grafische Register gezogen in dieser Choreografie in Bildern seines Lebens.

P. Otié / Li Kunwu: Ein Leben in China. Die Zeit meines Lebens. Band I. Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, 2012, 254 Seiten, ca. 29.80 sFr