Ums Überleben rennen

Atticus Lish

„I have a dream“, doch der Traum des einen
bedeutet immer auch den Tod des anderen.
Auch jener, die heimkehren aus Kriegen
versehrt an Körper und Seele, unrettbar verloren, zerstört,
zerstören sie jetzt erst recht das Leben anderer.
Nach diesem Krieg geht daheim – wo? – der Krieg einfach weiter.
Schließlich vergibt die Armee
„keine Streicheleinheiten für Heulsusen“,
wie Skinner keine sein will. Deshalb Krieg gegen sich selbst
gegen andere erst recht, da hilft kein Saufen, kein Huren.
Die Sehnsucht nach Liebe ist in Skinners Krater versunken, und damit alle Hoffnung.
„Sie wissen alles darüber, wie man im Krieg überlebt, aber nichts über das Zivilleben.“

Die Halbwaise Zou Lei aus China, Xinjiang, ein anderer Kriegsschauplatz.
„Nicht viele wissen, was Uigur-Menschen sind.“
Es tut nichts zur Sache, warum rührt also der Autor daran?
Eine Geächtete im kantonesischen Kauderwelsch,
in Garküchen, Shopping Malls, im illegalen Untergrund der USA.
Stets auf der Hut vor den Cops, lebt sie außerhalb des Rechts
ergo es gibt kein Recht, rechtlose Existenz.
Das Gefängnis noch immer alptraumhaft, weil illegal und egal ist nichts
nacktes Nomadendasein am unterstes Ende der Zuwanderungsspirale.
Und „Ohren, die ständig nach innen explodieren“.
Zhou Lei trainiert und quält ihren Body.
Um ihren Körper ein Käfig aus stählernem Ingrimm.

Nach oben aber kommt niemand, das wissen andere Stimmen,
die wirr durcheinanderschreien, keiner hört zu.
Alles dreht sich im Kreis, tritt auf der Stelle, seitenlang.
Immer mit der Waffe im Anschlag oder, wenn die fehlt,
mit einer Wut im Bauch, die jederzeit explodieren kann
wie die rhetorische Wu(ch)t in diesem Buch.
Gefahr lauert überall, jede Pore ständig in Alarmbereitschaft,
mit weit aufgerissenen Augen wird obsessiv jedes Detail gescannt,
jedes Ladenschild, schiefe Visagen, kaputte Flaschen, besoffene Gestalten
alles wird mental notiert. Wie einst Franz Biberkopf es tat.
Nur sind Skinner und Zou Lei schneller.
Sie laufen, vom „Laufen harte Muskeln“, rennen, um zu überleben.
Fahrzeuge „zischen“ vorüber, Fassaden in Staccato, Autoreparaturwerkstätten,
Abfallhaufen.

Laufen, bis es schmerzt, die Füße eitern.
Mit blutenden Fußsohlen unter grauem Himmel.
Eine irrwitzige Jagd auf der Suche nach dem anderen
weil sie sich verloren glauben.
Schließlich sucht Zhou Lei nach Vögeln und sieht einen Falken.
Und Skinner stolpert wenig hintersinnig in einen Tunnel.
Dunkel ists – ein Schuss fällt. Von eigener Hand gefällt.

Das Ende, nicht aber für Zou Lei,
die Reste ihres vorherigen Lebens aus der Mülltonne klaubt,
anderswo den Traum von „Miss Fitness“ weiterträumt.
Noch immer nicht, scheints,
am Ende ihrer Kräfte, immer auf dem Sprung,
einmal nur trifft sie der „süße Schmerz mit voller Wucht“.

Morsche Apokalypse
untertunnelt von Illegalen, Entrechteten
knirscht unter schweren Füßen,
die stampfen und tanzen
ziellos. Hauptsache nicht
erwischt werden wobei?
Deals und Depressionen.

Atticus Lish: Vorbereitung auf das nächste Leben. Aus dem Englischen von Michael Kellner (großartig!), Arche-Verlag, Zürich, 2015, 528 Seiten