Eine Staatsanwältin berichtet aus dem Innern des chinesischen Rechtssystems:
„Immer wieder musste ich Fälle bearbeiten, bei denen ich mit den Verdächtigen sympathisierte“, so Xiao Rundcrantz in ihrem autobiografischen Bericht. Neben der persönlichen Geschichte einer jungen Frau, die mit 18 Jahren ihre Ausbildung als Staatsanwältin beginnt, wird hier das chinesische Rechtssystem geschildert – die Einblicke sind ernüchternd. Über die desolate Lage der Anwälte schreibt Xiao Rundcrantz beispielsweise: „Die Stellung der Rechtsanwälte in China ist so schwach, dass Polizisten, Staatsanwälte und Richter sie völlig ignorieren können. Im Gerichtssaal dienen sie lediglich der Dekoration.“
Mit der Öffnung Chinas und Deng Xiaopings Reformkurs zu Beginn der Neunzigerjahre habe sich das System keineswegs verbessert, im Gegenteil: Die Korruption innerhalb des Gerichtswesens habe sprunghaft zugenommen, und Rechtsanwälte wurden zu Überbringern von Bestechungsgeldern degradiert. Das Recht diene allein den Machthabern, dies sei das oberste Gesetz, so die ehemalige Staatsanwältin, die heute in Schweden lebt.
Xiao Rundcrantz litt im Laufe der Jahre zunehmend darunter, wenn Leute beispielsweise als Opfer von politischen Entscheidungen ungerecht behandelt, Schuldige hingegen freigekauft wurden. Gleichzeitig war aber selbst sie nicht untätig, als es darum ging, für Bekannte und Verwandte ein milderes Strafmaß zu erwirken. Doch von Jahr zu Jahr verlor sie zunehmend das Gefühl dafür, auf welcher Seite der Fronten sie eigentlich stand.
Diese innere Entfremdung führt schließlich auch zur Trennung von ihrem Mann. „Wenn ich weiterhin mein wahres Ich verleugnete, würde ich am Ende vielleicht ein kalter, verhärteter Mensch werden. Der Gedanke machte mir Angst.“
Doch zurück zu den Zustandsbeschreibungen des chinesischen Rechtssystems: Todesstrafen werden als abschreckendes Beispiel verhängt: „Indem wir einen töten, warnen wir Hunderte.“ Die Einweisung in ein Arbeitslager konnte von der Polizei angeordnet werden, selbst wenn keine Beweise für die Schuld vorlagen, die Verdächtigung allein genügte schon. Leute wurden zu Oberstaatsanwälten berufen, ohne Jura studiert zu haben. Die Kriminalitätsrate sei in den letzten Jahren um das Dreifache gestiegen, so die Autorin, ebenso die Summe der Schmiergelder.
So stilisiert sich die ehemalige Anklägerin ein wenig als Opfer, um nun vom Westen aus eine Art Anklageschrift zu verlesen. Allerdings wäre es vermessen, ihr dies vorhalten zu wollen, denn jegliche systemimmanente Kritik hätte zum sofortigen Verlust des Arbeitsplatzes geführt, möglicherweis auch zu Repressalien, denn oft genug wurde Xiao Rundcrantz gedroht.
Wer hier allerdings eine scharfe Analyse des chinesischen Rechtssystems erwartet, wird enttäuscht. Zwar bestechen Xiao Rundcrantz’ nüchterne Beschreibungen, gerade weil sie nichts beschönigen, auch nicht ihre eigene Rolle, doch die Unfähigkeit, das System generell zu hinterfragen und stattdessen die Schuld bei sich zu suchen, führt schließlich zum Sturz bei diesem schwierigen Balanceakt, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden.
Alice Grünfelder
Xiao Rundcrantz: Rote Staatsanwältin. Freiburg: Herder-Verlag, 2007. 352 Seiten, mit Abbildungen, sFr 15,90 / Euro 9.95