Menschenkette

Menschenkette – Friedensbewegung – Abrüstung

Drei Stichwörter, die heute zu Unrecht in Verruf geraten sind. Doch 1983 protestierten mehrere Hunderttausend Menschen gegen die geplante Stationierung der US-Atomraketen in Süddeutschland. Einzelpublikationen zu diesem Thema sind rar. Was und wer damals hinter der 108 Kilomenter langen Menschenkette stand, welche Zweifel und und Gedanken die Menschen bewegte, darüber hat Cäcilie Kowald nun einen Roman geschrieben.

Du warst 10 Jahre alt, als Du bei der Menschenkette mitgemacht hast. Woran erinnerst Du Dich noch genau bzw. an was erinnerst Du Dich besonders gut?

Vor allem erinnere ich mich an die Fahrt entlang der Menschenkette. Wir waren mit dem Auto gekommen, zwei Familien mit insgesamt fünf Kindern, und wir Kinder haben uns beömmelt über die Namen der Orte, durch die wir fuhren: Süßen, Gingen, Kuchen; wir fanden, die Reihenfolge sei falsch, es müsse doch „Gingen Süßen Kuchen“ heißen. Außerdem erinnere ich mich an die Menschenmassen am Straßenrand, und dass wir nicht bis Geislingen fuhren, wie geplant, sondern irgendwo bei Kuchen anhielten und ausstiegen, um uns einzureihen. An das Stehen in der Kette erinnere ich mich jedoch gar nicht mehr – das wird vermutlich relativ langweilig gewesen sein, zumal für ein Kind.

Ich selbst habe über die Friedensbewegung einen Essay geschrieben, mir wurde in Rezensionen zum Teil vorgeworfen, ich hätte mich hinter der Uneindeutigkeit des Genres versteckt. Was war der Auslöser für Deinen Roman?

Den einen ausschlaggebenden Punkt gab es nicht, eher viele Punkte, die sich irgendwann zu einem Bild verdichteten. Im Zentrum stand die Frage, was damals, in einer Zeit, die mich sehr geprägt hat, aber an die ich nur unvollständige und sehr kindliche Erinnerungen habe, eigentlich wirklich los war. Und warum damals zu Demos Hunderttausende Menschen kamen, später aber, als ich erwachsen war, schon ein paar tausend Teilnehmer:innen ein Erfolg waren.

Die Kapitelüberschriften sind Uhrzeiten, der Roman beginnt um halb sieben und begleitet verschiedene Personen durch den Tag. Immer wieder werden Militärs und Politiker zitiert, Zeitungsausschnitte eingestreut, Dokumente angeführt, was die Stimmung auf der Gegenseite gut wiedergibt. Hast Du Deinem eigenen Text nicht genug vertraut, oder warum hast Du Zeitdokumente eingestreut?

Ich wollte auch die Gegenseite zu Wort kommen lassen; alles andere wäre mir unfair erschienen. Aber eine entsprechende „Gegnerfigur“ zu entwickeln und den anderen gleichberechtigt zur Seite zu stellen, reizte mich nicht. Mit den Zeitdokumenten konnte ich die Stimmung der damaligen Zeit sehr effizient und differenziert genug aufleben lassen.

Im Personenverzeichnis sind 21 Figuren gelistet. Ein gewagtes Unterfangen, und ich war gespannt, ob es Dir gelingen würde, die Protagonisten so zu zeichnen, dass die Leser:in sich zurechtfindet inmitten der vielen Namen. Erstaunlich, wie Du mit wenigen Strichen die Figuren so skizzierst, dass man sie tatsächlich wiedererkennt. Du lässt sie vor vor allem durch innere Monologe zu Wort kommen. Manchmal habe ich mich gefragt: Sind das Cäcilie Kowalds Zweifel und Überlegungen zu dieser Aktion, verteilt auf 21 Schulten, oder wie bist Du vorgegangen bei der Montage all dieser Reflexionen und Meinungen?

Es sind nicht nur meine Zweifel und Überlegungen, sondern auch die, die mir bei anderen begegnet sind. Ich habe auf der Suche nach einer politischen Heimat viele Menschen und politische Spektren kennengelernt und wie die so ticken. Zudem kenne ich Menschen, die zwar politisch interessiert sind, aber nie auf eine Demo gehen würden – einfach weil sie das nicht kennen, weil es ihnen sozusagen kulturell fremd ist, und weil ihre Zweifel größer sind als ihre Zuversicht, dass es etwas bringt. Letztlich wollte ich vor allem auch ihnen zeigen, dass das normal ist, dass die Auseinandersetzung mit diesen Zweifeln und Gedanken Teil des persönlichen politischen Prozesses ist, und dass auch die vordergründig so Überzeugten oft ihr Leben lang damit nicht fertig sind.

Eine Figur, Ines Heger, die gerade aus Nicaragua zurückkehrt ist, fällt ein wenig aus dem Rahmen. Vor allem gegen Ende stellt sie grundsätzliche Fragen, wie z.B. jene, inwieweit man sich durch sein Tun oder Nicht-Tun verantwortlich macht, eine Frage, die vor allem auf die deutsche Vergangenheit und das Mitläufertum anspielt. Sie selbst stellt Deutschland diesbezüglich kein gutes Zeugnis aus, fühlt auch eine starke Entfremdung zu den Deutschen, die noch eine Bahnsteigkarte kaufen, wenn sie einen Bahnhof stürmen wollen, wie es an einer Stelle heißt. Wie bist Du auf diese Figur gekommen?

Nicaragua war damals ein hochaktuelles Thema! Und das, was man heute globale Gerechtigkeit nennen würde, also die Berücksichtigung von Interessen der sogenannten Dritten Welt und von Staaten jenseits der führenden Industriestaaten und Machtblöcke, spielte in den Bewegungen der damaligen Zeit durchaus eine Rolle. Warum also hätte ich ausgerechnet das auslassen sollen? Dass es den Blick auf die Heimat verändert, wenn man länger weg war, bis hin zu einer gewissen Fremdheit, kenne ich aus späteren eigenen Erfahrungen – als Slavistik-Studentin war ich in den 1990er Jahren einige Male länger in Russland.

Das Buch, so scheint mir, kommt gerade zur rechten Zeit – einer Zeit, in der wieder massiv Aufrüstung gefordert wird, manchmal ausgerechnet von Menschen, die damals in der Friedensbewegung aktiv waren, womöglich Teil der Menschenkette waren. Ist das Buch insofern ein bewusstes Statement oder war der Erscheinungstermin ein verlegerischer Zufall?

Wahrscheinlich weder noch. Die ersten Skizzen zum dem Buch stammen tatsächlich schon von 2010, als überhaupt nicht zu vermuten war, dass das Thema jemals wieder so brisant werden würde. Aber dass es mich umtrieb, ist sicher kein Zufall; und es gab seitdem tatsächlich schon mehrere Zeitpunkte, zu denen ich dachte: Wie schade, dass das Buch noch nicht fertig ist! – zum Beispiel, als Donald Trump den INF-Vertrag aufkündigte. Aber das waren letztlich Ereignisse, die die breite Öffentlichkeit kaum wahrgenommen hat. Der genaue Termin war tatsächlich Zufall: Mit dem Verlag wurde ich Mitte Februar einig; den Vertrag haben wir wenige Tage vor Beginn des Ukrainekriegs unterschrieben. Was aber nur einmal mehr zeigt, dass das Buch auch heute noch eine Menge zu sagen hat.

Cäcilie Kowald: Menschenkette. Verlag 8 Grad, Freiburg, 2022, 226 Seiten, 24 Euro

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