Die Nachrichten aus Xinjiang sind erschütternd, oder sind es nur Gerüchte? Deshalb kehrt die Universitätsdozentin Banu 2017 von der Türkei nach Xinjiang zurück, weil sie sich selbst ein Bild von der momentanen Lage machen möchte. Gleich bei ihrer Ankunft wird sie tagelang festgehalten und von einer Frau Zhang verhört, die sich insbesondere für ihre Liebesaffäre – oder doch eher ein Fall von #metoo – mit ihrem ehemaligen Gönner und Professor Guo interessiert. Erst viel später wird Banu erfahren, dass Professor Guo ausgerechnet diese Verhörbeamtin geheiratet hat. Überhaupt schlägt die Romanhandlung so manch seltsame Kapriole, doch der Reihe nach.
Verrat ohne schlechtes Gewissen
Erstaunlich offenherzig berichtet Banu von ihren Mitmenschen, ihrer Vergangenheit, ihren amourösen Liebschaften, nur um nicht ins Umerziehungslager gebracht zu werden – ein verständliches Ansinnen. Doch warum sie ihren damaligen Chef, der nach den gewalttätigen Demonstrationen von 2009 hingerichtet wurde, und ihre beste Freundin Senem, die seitdem verschwunden ist, denunziert hat, bleibt eines der zahlreichen Rätsel der Protagonistin. Damals informierte Banu die Polizei, dass die Uiguren eine Sitzblockade abhalten. Vielleicht war ihr Anruf nicht ausschlaggebend. Als Uigurin und Parteimitglied kam sie nur ihrer Pflicht als Staatsbürgerin nach, sagte sie sich leichthin. Gleichwohl plagt sie fortan ein schlechtes Gewissen, und sie setzt bei ihrer Rückkehr 2017 alles daran, wenigstens die Tochter ihrer Freundin aus einem der berüchtigten Berufsschulzentren zu bekommen. Dafür lässt sie sich auf ein gewagtes Spiel ein: Im Gegenzug verspricht sie, einen Bekannten – oder ist er gar ihr Liebhaber? – in der Türkei sowie die chinesische Diaspora auszuspionieren.
Absurde Bürokratie
Dieses Buch, der erste uigurische Roman, der je ins Deutsche übersetzt wurde, liegt nun zweisprachig vor – insofern ist er auch eine Gelegenheit, Chinesisch-Lernenden einen aktuellen Stoff erfahrbar zu machen, zumal sich der Text im Chinesischen recht flüssig liest. Erzählt wird in vielen Rückblenden die jüngste Geschichte der Region. Banu zerreißt es fast zwischen ihrem Glauben an den modernen Vielvölkerstaat China, „wie ihn die Kommunistische Partei Chinas propagiert und den im Zeichen antiterroristischer Maßnahmen stehenden ethnischen und „pädagogischen“ Säuberungsmaßnahmen der jüngsten Zeit“, schreibt der Übersetzer Andreas Guder im Nachwort. Die Absurditäten der Bürokratie, die womöglich zu dem ambivalenten Verhalten der Protagonistin führen, mögen in solch einer Umgebung verständlich sein, nur erschweren sie die Nachvollziehbarkeit der stellenweise sprunghaften Handlung – auch bleibt die Figur seltsam widersprüchlich, zumal im knappen ersten Viertel ihre sexuellen Ausschweifungen, Sehnsüchte und Wünsche einen breiten Raum einnehmen. Mal ist Banu impulsiv, dann wieder berechnend, selbstverliebt und eitel – diese Ambiguität ist für die Leserin, den Leser nicht wirklich verständlich. Bestenfalls kann darin eine Charakterstärke gesehen werden, sich durch keinerlei Schikanen beirren zu lassen.
Worauf also will die Autorin, die mittlerweile in Berlin lebt, hinaus? Andreas Guder deutet den Roman als eine Erinnerung „an unzählige namenlos gebliebene Menschen, die in den letzten Jahrzehnten gezwungen wurden, ihre Kultur, ihre Traditionen und Überzeugungen aufzugeben – und die die Welt nicht vergessen sollte.“
Gülnisa Erdal 古 莉 尼 萨·厄 达 尔: Banus Erlösung 巴 奴 的 救 赎. Aus dem Chinesischen übersetzt von Andreas Guder, Ostasien Verlag 2022, 353 Seiten.
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