Lektürenotiz zu Bae Suah Weiße Nacht
In Kreisen sei dieser Roman angelegt, zirkulär funktioniere er, lese ich in Rezensionen, bin gespannt und merke, es sind nicht Kreise, sondern Halbkreise, die auseinandergeschnitten und leicht verschoben wieder aneinandergesetzt werden. Das gilt für Szenen aus dem Hörtheater in Koreas Hauptstadt Seoul, das bald geschlossen wird; für die Gespräche zwischen Ayami und ihrer Lehrerin Yomi – die später womöglich in einer einzigen Person aufgehen, zumindest fransen die Konturen der Figuren so aus, dass sie sich übereinanderlegen –; für Beobachtungen, die sich leicht verändert wiederholen. Als ich das erste Mal so eine Szene lese, meine ich, mich „ver-lesen, ver-sehen“ zu haben, blättere zurück: „Im Innern des hell erleuchteten Busses saßen einige Frauen um einen Tisch herum, jede von ihnen in die Lektüre eines Buches vertieft. In der dunkelsten, hintersten Ecke der Rückbank saß ein Mann in einer Mönchskutte, die Augen geschlossen.“ Und das Verrückte ist: So absurd diese Szene ist, so deutlich habe ich sie vor Augen und warte gespannt darauf, wann die nächste Verschiebung kommt. So verträumt dieser Roman auch wirkt, die Übergänge zwischen Tag und Nacht, Gestern, Heute und Morgen auch sind, so gegenwärtig ist dieser Roman. Nicht etwa deshalb, weil gegen Ende ein deutscher Krimischreiber namens Wolfi auftaucht. Sondern?
Weil diese flirrenden Parallelwelten, Zwischenwelten auf herbe Realitäten prallen. Immerhin verliert Ayami ihren Job, lebt höchst prekär, hat noch nicht einmal Platz für einen Ventilator, ist auf der Suche nach einem Gegenüber, den sie vielleicht im ehemaligen Direktor des Hörtheaters findet, doch dann lösen sich die beiden langsam auf. Ich gehe mit ihr durch das nächtliche Seoul, begleite sie auf ratlosen Spaziergängen, sehe zu, wie ihre Welt verrutscht, „der Verkehrslärm wie ein brennendes Gerstenfeld„.
Sprachlich ist dieses Vexierbild von Seoul in ein überzeugendes, sinnliches und doch leichtes Deutsch von Sebastian Bring gebracht worden, sodass ich mich gern von dieser sensorisch reichen, phantastischen und durchaus rätselhaften Geschichte tragen lasse.
Bae Suah: Weiße Nacht. Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring. Suhrkamp Verlag, 2021, 160 Seiten.
Eine weitere Rezension mit Korea-Bezug ist auf literaturfelder zu einer Ausgabe des Korea-Forums zu lesen.