Eine Bernerin in Indonesien.
Ob sie besser kochen lernt oder doch lieber reiten, so lauteten die Gretchenfragen, als eine junge Bernerin 1920 ihrer großen Liebe, dem Tropenarzt Kurt Surbek, nach Indonesien folgte.
Das junge Ehepaar richtet sich auf einer Kautschukplantage ein und pflegt ein freundschaftliches Verhältnis mit den Einheimischen und Angestellten. Der Sohn Bernie kommt zur Welt, wenige Jahre später die Tochter Gladys, mittlerweile wohnen die Surbeks im Süden Sumatras, später werden sie nach Java übersiedeln. Mit dem Aufstieg Kurt Surbeks in der gesellschaftlichen Hierarchie wachsen auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen: Man führt alsbald ein routiniertes, fast schon eintönig anmutendes Leben in einer Kolonie. Als Surbeks auf Java ein Sanatorium einrichten, wird Gret allerdings von Tag zu Tag kränker. Das Herz macht ihr zu schaffen. Sie ist hoffnungslos überarbeitet, doch Kurt erlaubt keine Haushaltshilfe oder eine Krankenschwester. Warum, erfährt der Leser nicht, nur dass Kurt in dieser Zeit als Schiffsarzt nach Shanghai unterwegs ist. Ob es eine Flucht vor der Familie, gar der Ehe ist, oder ob ihn schlichtweg die Abenteuerlust packte – die Antwort verbirgt sich zwischen den Zeilen. Gret erhält auch zunehmend Anfragen, ob sie im Sanatorium Kinder, sogenannte Problemkinder, aufnimmt. Doch problematisch, so Gret Surbek, sind weniger die Kinder als vielmehr die Eltern. „Ich habe mich oft gefragt, warum es wohl Kinderärzte, aber keine Elternärzte“ gebe. Man ist überrascht über solch universellen Reflexionen, die einem die Protagonistin auf berührende Art nahe bringen.
Vorurteile abstreifen
Ihr stets offener, an keiner Stelle diskriminierender Blick auf Land und Leute erstaunt immer wieder. Möglicherweise ist es einfach ihr Naturell – Gret Surbek stammt aus einer gutbürgerlichern Berner Familie, der genaue familiäre Hintergrund bleibt jedoch im Dunkeln –, dass sie selbst nach der ermüdenden Überfahrt und atemberaubenden Hitze in Singapur ganz einfach nur überwältigt ist und sämtliche Vorurteile wie eine zweite, lästig gewordene Haut abstreift. Nichts findet sie abstoßend, alles ist faszinierend, selbst den ungewöhnlichsten Bräuchen begegnet sie mit schlichter Neugier. Die Asiaten gefallen ihr, auch das ungewöhnliche Klima setzt ihr keineswegs zu, im Gegenteil: „Die feuchte Hitze wirkte in den ersten Monaten so anregend, dass dadurch mein Lebensgefühl erhöht wurde und alle Sinne maximal funktionierten.“ Dieses Lebensgefühl wird sie nicht mehr verlassen und über so manche Unbill hinwegtrösten.
Mit der japanischen Okkupation Indonesiens ändert sich auch das Leben der Surbeks grundlegend. Asien war und ist auch heute noch im Geschichtsbewusstseins des Westens nur Nebenschauplatz des Zweiten Weltkriegs, wenngleich der Krieg eigentlich dort seinen Anfang und mit Hiroshima sein Ende nahm. Die Neutralität als Schweizer ist den Japanern nur schwer und nicht immer verständlich zu machen. Als eines Nachts drei japanische Soldaten in das Haus eindringen und Gladys entjungfern wollen, lässt sich die Mutter stattdessen vergewaltigen in der Hoffnung, ihre Tochter und ihren Mann damit zu retten. Die Japaner aber lassen nicht von Gladys ab; die Mutter kann einzig durchsetzen, wenigstens bei ihrer Tochter bleiben zu dürfen.
Schrecken und Zukunftsvision
Trotz dieses Vorfalls kehren Gret und auch ihre Tochter die Japaner nie über einen Kamm, was von einer enormen inneren Größe zeugt, derweil die Fronten sich zwischen den noch verbleibenden Ausländern und den Japanern verhärten. Doch von einer Contenance nur um der Contenance willen hält Gret Surbek wenig. Und während die einen hoffen, dass die Amerikaner eingreifen mögen, zeichnet sich weder in Europa noch in Asien ein Sieg ab. Weitsichtig, wie Gret Surbek ist, bangt sie um eine „amerikanisierte Zukunft“.
Als die dreiköpfige Familie – der Sohn lebt mittlerweile in Australien – die schlimmsten Kriegsjahre in einer Matratzenkammer verbringt, reflektiert Gret Surbek an ihrem vierzigsten Geburtstag über ihr Ameisenleben als Mutter und Ehefrau. Sie sieht sich als Glied in einer Kette und sinniert, ob es vielleicht weniger auf das „was“ als auf das „wie“ im Leben ankomme. So weitherzig und offen Gret Surbek im Umgang mit den anderen sein kann, so streng geht sie mit ihren Nächsten und auch mit sich selbst ins Gericht. So ist dieser Bericht aus Indonesien weniger der objektiven Reisebeschreibung verpflichtet, wie sie Reisende und Gelehrte auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfassen, aber auch nicht der gänzlich subjektiv gehaltenen Reiseliteratur, wie sie neuerdings von einer jüngeren Generation gepflegt (und selbstverliebt inszeniert) wird. Gret Surbek verfällt auch keineswegs einem billigen Exotismus, sondern schreibt sehr ehrlich, oft selbstironisch, gar lakonisch, wenn es beispielsweise um Beobachtungen aus dem Alltag geht. Als sie nach einer langen Reise Kisten auspackt, notiert sie lediglich: „In den Kisten ist es feucht und lebendig geworden.“ Oder nach einem nächtlichen Spaziergang durch den Wald hält sie fest: „Ich kam unaufgefressen nach Hause.“ Ihrem Tagebuch vertraut sie all ihre Sympathien, Verliebtheiten und ihren komplexen Gefühlshaushalt an bzw. übernimmt diese Stellen später in die von ihr erarbeitete Version – wo es für sie doch ein Leichtes gewesen wäre, Heikles unter den Tisch fallen zu lassen.
Schwere Rückkehr
Das vorliegende Buch ist einer aufwändigen Editionsgeschichte zu verdanken: Gret Surbek fasste Tagebuchnotizen, Zeitungssausschnitte, Briefe etc. nach ihrer Rückkehr in die Schweiz zu 17 Bänden zusammen, weil sie einen in sich schlüssigen Text haben wollte. Aus diesem wiederum exzerpierten die Enkelin Christa Miranda gemeinsam mit dem Herausgeber eine Lesefassung, die für ein breiteres Publikum zugänglich gemacht wurde.
Als der Krieg schließlich mit der Kapitulation der Japaner endet, die Inhaftierungslager geöffnet werden und Kriegsgräuel an den Tag kommen, gelingt den dreien die Ausreise über Australien – wo sie nach vielen Jahren Bernie wieder sehen -, und sie kehren in die Schweiz zurück. Nur kurz wird im Anhang erwähnt, dass Kurt die Rückkehr zum Albtraum wurde. Er litt zu sehr unter den Kriegserlebnissen, fand sich in der Schweiz nicht mehr zurecht und nahm sich im Dezember 1947 das Leben. Gret hingegen trotzte dank ihrem unerschrockenen Naturell und ihrer Unverdrossenheit der engen Verhältnissen in der Schweiz und starb 1982 in Bern, im Herzen vielleicht noch immer Indonesierin. Gern hätte man sie kennengelernt.
Gret Surbek: „Im Herzen waren wir Indonesier. Eine Bernerin in den Kolonien Sumatra und Java. 1920–1945. Zürich: Limmat Verlag, 2007. 512 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, sFr 54