Eine Insel und ihre turbulente Geschichte

Lektürenotiz zu Stephan Thomes Familienroman Pflaumenregen

Dieser Roman ist ein Beweis dafür, dass Literatur mehr kann als ein Sachbuch, als Dokumentationen, als wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Denn Stephan Thome ist mit Pflaumenregen gelungen, die schwierige historische Epoche Taiwans – Kolonialisierung durch das japanische Kaiserreich, anschließende Übernahme der Insel durch die Kuomintang-Truppen – auf diverse Schultern einer Großfamilie zu verteilen. Durch die Fiktionalisierung der ambivalenten Gefühlswelten, die durch die Historie gründlich durcheinandergewirbelt werden, wird diese Ära für Leserinnen und Leser empathisch erfahrbar gemacht. Ein Familienroman also, in dem vom Opportunisten bis hin zum heimlichen oder offenen Widerstandskämpfer sämtliche Rollen klug verteilt sind.

Da ist beispielweise Umeko – mit chinesischem Namen Lee Ching-mei -, die wir als Mädchen kennenlernen, die ihre Lehrerin verehrt und alles Japanische sowieso, die fast zerbricht, als die japanische Kultur – nach der Kapitulation Japans 1945 – über Nacht nichts mehr gilt; die erst recht sprach- und ratlos wird, als ihr Bruder später als Opfer der Militärdiktatur Chiang Kaisheks verhaftet wird. Ihr Mann aber, Sohn einer Festlandsfamilie, sieht die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel. Den Vater von Umeko zeichnet Thome mit all seinen inneren Zerrissenheiten, auch er sieht ungläubig dem Niedergang Japans zu, findet seine Stellung in der Gesellschaft nicht und nicht im Leben. Seiner ungeliebten Frau kehrt er nur nachts im Bett den Rücken, während er einer japanischen Geliebten und der gefährlichen und geheimen Liaison mit der Lehrerin Umekos nachtrauert. (Die Frucht dieser Liebschaft taucht dann im Gegenwartsstrang des Romans auf – ob dieser die historische Grundierung des Romans unterstützt, sei dahingestellt.)

All diese Ereignisse und ihre Komplexität zeigen sich am deutlichsten in der Szene, als der Großvater Umekos – ein den chinesischen Traditionen verpflichteter Gelehrter, dessen Frau mit den gebundenen Füßen nach der Hochzeit nie mehr das Haus verließ – die siegreiche chinesische Armee in Keelung empfängt. Dieser Großvater gehört zum offiziellen Empfangskomitee, das gespannt auf die Helden der 70. Armee wartet. Doch die Männer entsprechen keineswegs dem Bild von ruhmvollen Soldaten, sie Männer tragen keine Gewehre, keine Uniform, keine Stiefel, sehen aus wie Bettler, schreiten rasch aufs Buffet zu und stopfen sich die Reisbällchen in den Mund.

Es war, als strömte eine Horde von Landstreichern aus dem Schiff. In Strohsandalen oder barfuß ignorierten sie das Empfangskomitee und hatten binnen zwei Minuten sämtliche Tische leergeräumt. … Als sie die Japaner sahen, die salutierend in Reih und Glied standen, flogen Schimpfwörter durch die Luft … Weder wurden Ansprachen gehalten noch Hände geschüttelt; einer nach dem anderen gingen die fremden Männer von Bord, spuckten vor ihren Feinden auf den Boden und verschwanden in der Menge.

Schon vor Stephan Thome haben taiwanische Autoren diese historische Ära fiktionalisiert, beispielsweise Chen Yu-hui (Jade Chen) in ihrem Roman Die Insel der Göttin. Er hat sich indes einer gewaltigen Recherchearbeit gestellt, um diese Zeit und ihre Menschen lebendig werden zu lassen. (Dies und anderes erzählt er in einem sehenswerten Video.)

Stephan Thome: Pflaumenregen. Suhrkamp-Verlag, 526 Seiten