Wahrsager und Technofrauen

Taiwanische Autorinnen erzählen. Eine Lektürenotiz.

Der Titel klingt vielversprechend, das Tempo und die Themen sind eher moderat. Beeindruckend fand ich die Erzählung „Bukolika“ von Ko Yu-Fen (schon mit „An den Ufern des Tamsui“ im Erzählband Kriegsrecht vertreten), die von prekären Verhältnissen berichtet, von Fabrikarbeiterinnen und ratlosen Müttern, von schmierigen Übergriffen und sinnlosen Toden – und welche Opfer die rücksichtlose Industrialisierung von Mensch und Natur fordert.

Um Rücksichtslosigkeit geht es auch in „Berggeister“ von Chiou Charng-Tin, die in ihre Geschichten – laut biografischer Notiz – Umweltthemen und -zerstörung einfließen lässt. Die Protagonistin, die sich von Nebelgeistern verfolgt fühlt, trifft in den Bergen auf „Baumratten“ (vgl. dazu auch der Text „Alishan“ in Wolken über Taiwan) , Holzdiebe. „Eigentlich sind diese Bergratten Junkies aus den Städten […]. Die alten Bäume in den Bergen sind für diese Kerle wie Geldautomaten.“ Ihr Fazit: Die Gier beschert den Menschen bloß Alpträume, und die Berggeister entkommen ihr nur, weil sie sich an immer entlegenere Orte zurückziehen. Was, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt?

Manche Rezensenten sprechen von einer gewissen „Düsternis und Dunkelheit“ in den Texten – düster kann einem werden, wenn man einen Blick in die Zukunft wirft. Das Leben der „Technofrau“ ist kein beneidenswertes, zumal nicht klar ist, wer denn nun ein echter Mensch ist und wer nicht; in „Transkommunikation“ sendet der verstorbene Vater Nachrichten von einem Account, der von einer NGO nach dessen Tod weiter betrieben wird.

Man mag sich fragen, wie repräsentativ diese Geschichten für die gegenwärtige Literatur Taiwans sind, wie die Auswahl zustande gekommen ist. Im Vorwort gibt die Herausgeberin Hsu An-Nie Auskunft: In zwei Diskussionsrunden wurden 12 Erzählungen von taiwanischen Literaturexpert:innen empfohlen, in einer dritten Runde wählten deutsche Expert:innen acht davon aus. So kommt es vielleicht, dass die Erzählungen auf unterschiedliche Weise mal mehr, mal weniger literarisch ausgereift sind – ein kritischer Blick auf die taiwanische Gesellschaft ist jedenfalls allen Geschichten eigen.

Hsu An-Nie (Hrsg.): Von Wahrsagern und Technofrauen. Erzählungen zeitgenössischer Autorinnen aus Taiwan. Übersetzt aus dem Chinesischen von Marc Hermann, Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffman. 2021; 286 Seiten