Anerkennungspreis des Kantons Zürich, 2025 (s.u.)
Eines Morgens sagte Tsai Wan-Shuens Tochter Ameng beim Blick aufs Meer: «Ich möchte im Meer aufwachen.» So entstand diese Sammlung mit 22 Gedichten – als Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Manche Aussage der Tochter hat Tsai Wan-Shuen ergänzt und in ihrer Muttersprache Taiyu, also Taiwanisch, niedergeschrieben. Erst bei der Drucklegung übertrug sie die Gedichte selbst ins Standardchinesisch, aus der wiederum die Gedichte übersetzt wurden.
Die Sammlung ist in drei Teile gegliedert. Das erste Kapitel trägt die Überschrift „Ameng spielt mit dem Meer“. Da war die Tochter zwei Jahre alt, und die Familie lebte auf der Insel Penghu, wo Tsai Wan-Shuen geboren und aufgewachsen ist. Als Ameng fünf wurde, entstand der Zyklus „Zeit in den Bergen“, und die Familie zog nach Xindian, ein Vorort südlich von Taipei gelegen. Der letzte Zyklus „Mondschilf“ ist als ein Nachsinnen der Lyrikerin selbst zu verstehen. Hat sie zuvor versucht, den Kinderblick relativ direkt einzufangen, spricht sie nun aus ihrer Perspektive über die Zusammenhänge Natur, Kind und Leben.
Mondschilf
Scheint der Mond, ist er mehlweiß.
Scheint der Mond, ist er gelb.
Das Herz des Mondes aber
ist schilfgrün und hell.
Die flirrenden Gräser
blenden die Frau im Mond
und sie wispern
ohne Wurzel, ohne Schatten,
tanzen eine Nacht lang.
An allen Küsten dieser Welt
tun sie es ihnen gleich
tage- und nächtelang
schaukeln und leuchten.
Nachzuhören sind die Gedichte „Ein Loch im Berg“ und „Zeichen aus dem Meer“ im Rahmen des Taiwanfestes in Zürich, per Audiofile auf Chinesisch, Taiwanisch, Deutsch und Französisch.
Anerkennungspreis des Kantons Zürich, 2025. Aus der Laudatio:
Eines Morgens sagt die Tochter: «Ich möchte im Meer aufwachen.» Die Verträumtheit und Wahrhaftigkeit dieses Kinderwunsches stiftet gleichsam den «Quellcode», aus dem sämtliche Gedichte sich ergeben.
Themenkreise, die zwischen Form und Inhalt ein tragfähiges Rückgrat bilden, sind in der Lyrik ein kostbarer Fund. Wer Alice Grünfelders Übertragung dieser taiwanesischen Gedichte liest, staunt, dass es nicht mehr lyrische Zyklen gibt, die um das Ozeanische kreisen – so überzeugend verbinden sich hier die Möglichkeiten der Form mit dem zentralen Motiv.
Das Leise und das Laute, das Kleine und das unendlich Grosse, Sandkorn und Welle, alles ist konzertant miteinander verbunden. Da wäre zunächst die Sicht des Kindes, dessen Sinne ins Herz der Dinge vordringen und zu jenem Umsprungpunkt zwischen Dünung und Horizont, der imaginär und doch gegenwärtig ist. Hinzu tritt die Fähigkeit der Autorin, dieses Schauen in Sprachbilder zu verwandeln; sie imitiert nicht die Sichtweise des Kindes, sondern bannt sie in der Form.
Die Literaturkommission des Kantons Zürich sieht oft Lyriksammlungen, nur selten aber durchkomponierte Gedichtbände. Dieses «Aus-einem-Guss» beeindruckt an Alice Grünfelders Übersetzung. Es gelingt ihr, die motivische Geschlossenheit eines genuinen lyrischen Sprechens ins Deutsche herüberzuretten. Dieses letztere Verb drängt sich auf, da gerade jener Rhythmus zerbrechlich anmutet vor dem entgrenzten Fluten des Meeres.
Dass dessen Kraft die Form dieser Gedichte nicht unterspült, ist zuerst das Verdienst der Autorin, die frei von Kitsch und Betulichkeit dem Kinderblick ihre Sprache leiht, dann aber das Verdienst von Alice Grünfelder, in deren Übertragung zuerst Wellen und Gezeiten und dann, auf kongeniale Weise, Zeilen und Strophen durch den Kopf der Lesenden gehen, in einem durch und durch maritimen Kommen und Gehen der Silben. Für diesen beachtlichen Effort, die Übersetzung eines ebenso schmalen wie gewichtigen Gedichtzyklus’, erhält Alice Grünfelder einen Anerkennungsbeitrag Literatur des Kantons Zürich zugesprochen.
Begründung der Fachgruppe Literatur (kantonale Kulturförderungskommission),
Zürich 2025
Presse
„Wer sich auf diese in Chinesisch und Deutsch aufgeschriebene Lyrik eines fernen Landes einlässt, wird verzaubert von der Zartheit der Beobachtungen und versteht beglückt, wie universell Gedanken über das Meer sind.“
Zora del Buono, Mare
„Hier erlebt die Dichterin die Natur durch Beobachtungen und Fragen ihrer kleinen Tochter und sieht, wie die Tochter auf das Meer reagiert.“
Susanne Mathies, orte – Schweizer Literaturzeitschrift
Tsai Wan-Shuen: Im Meer aufwachen
Gedichte, zweisprachig – Chinesisch, Deutsch
Aus dem taiwanischen Chinesisch von Alice Grünfelder
70 Seiten, Broschur
ISBN 978-3-943314-82-3
Drachenhaus Verlag 2024
www.drachenhaus-verlag.comEbenfalls von Tsai Wan-Shuen ist der Band Küsten im Hochroth Verlag erschienen.