Nomadenfestival in Tibet

Erinnerungen an eine Reise nach Jyekundo

Xining
Shopping Malls, wo früher schmale und verlotterte Gassen waren oder Felder; je nachdem, wie weit man sich vom Stadtzentrum entfernte. „Entwicklung West“ – dem Augenschein nach noch nicht weit gekommen. Verlässt man jedoch die gläsernen Fassaden der Einkaufsmeilen, sieht es aus wie eh und je. Graue, braune alte Häuserblocks, zerbrochene Fensterscheiben und Ziegel auf den Straßen, langgestreckte Gebäude, die einst staatliche Arbeitseinheiten beherbergten, aber vor Jahrzehnten schon verlassen und seither vergeblich zwischengenutzt wurden, bis sie nichts mehr hergaben. Diese Häuser, vorn wie hinten, sie stehen für den Wandel, die Veränderung, zum vermeintlich Guten wie zum offensichtlich Schlechten.

Die Städte, sie haben sich verändert, sind gesichts- und charakterlos, wo im Westen wäre es anders? In nur einem Tag könnte man nach Yushu fahren, wie die Chinesen zu Jyekundo sagen, wo alljährlich im Sommer Nomaden Feste feiern. In nur einem Tag, sagte der Fahrer am Telefon, als sie den Tag der Abfahrt festlegen wollten. Was früher Wochen und vor Kurzem noch drei Tage dauerte, ist jetzt an einem Tag auf einer zweispurigen Straße zu bewältigen. Die Welt kommt nach Yushu!

Kokonor

Kokonor

Xining – Mato
Verwahrloste Tibeter. Wurden irgendwann unruhig oder zogen – nicht ganz freiwillig und zur Umsiedlung gezwungen – zum Beispiel an die Straßen, die zum Kokonor führen, wo sie für Touristen ihre Pferde und Yaks bereit halten, für Fotos. Vor gelben Rapsfeldern und türkisblauem See, vor wunderbarer Kulisse; einer Fototapete gleich. Sie selbst wohnen in Ziegelbarracken, die Gebetsfahnen flattern verblichen und vom Wind zerfetzt müde zwischen Stöcken, die in die trockene Erde gerammt wurden, braun und grau vom Staub der Fernstraße. Oder in Zelten, in denen sie Touristen bewirten. Shangrila auf Abruf. Den chinesischen Touristen gefällts.

Die erste Fabrik.

Ewig flach ansteigende, wenig gewundene oder gar steile Berge, ausgetrocknete Flussbetten, weiß gesprenkelte Weiden, Yaks, die verunsichert die Straße überqueren. Überall Tankstellen mit demselben Emblem. Tibeter kommen auf Motorrädern, kein Zelt, vor dem kein Motorrad steht, selbst ihre Herden würden sie mittlerweile mit den Motorrädern zusammentreiben, erklärt einer, der meinen Blick bemerkt.

Tibeter warten in ihren mitgebrachten Zelten

Tibeter warten in ihren mitgebrachten Zelten

Jyekundo
Auf einer großen, weiten Ebene sind weiße Zelte hingesprenkelt auf spärlichen Grasnarben. Wenn die Zelte abgebaut sind, wird von dem Gras nach zehn Tagen noch weniger zu sehen sein. Unterschiedliche Klänge schallen aus unterschiedlichen Zelten – meist tibetische mit blauen Symbolen auf Sonnenzelte appliziert –, mal chinesische Schlager und tibetische traditionelle Lieder, allesamt ausgeleierte und krächzende Tonaufnahmen.

Die Tribüne ist nur für die offen, die ein Badge traben, die wiederum die Regierung an ihre Günstlinge verteilt. Ausländische Reisende gehören nicht mehr dazu, eine Reisegruppe muss sich oftmals einen Badge teilen. Wie genau die Verteilung gehandhabt wird, bleibt im Dunkeln. Die Willkür ist ein wirksames Machtmittel.

Khampa beim Kunstritt

Khampa beim Kunstritt

Grandios das Pferderennen, die bunten Reiterkostüme herrlich im Wind flattern und die Reiter selbst alles geben, um ihre Ziele mit alten Schrotflinten zu treffen oder, weit aus dem Pferdesattel hängend, die weißen Khatas vom Boden aufzuheben. Das Publikum johlt und klatscht, ein Tibeter vor mir ist schon ganz heiser. Aufdringlich dröhnen chinesische Volkslieder aus den Lautsprechern, in denen die Schönheit des Schneelandes und die wunderbare und alte Tradition Tibets gepriesen werden. Und dann wieder chinesische Popmusik.

Yak-Wettrennen

Yak-Wettrennen

Einen Tag später findet die Modeschau statt. Wider Erwarten sind zahlreiche Trachten mit Pelzen von Wildtieren verbrämt – entgegen der Weisung des Dalai Lama, darauf zu verzichten, gemäß der Weisung der chinesischen Regierung. Kein Pelz, keine Zulassung zum Festival, mag die Parole geheißen haben. Oser, im Westen bekannt als Woeser oder auch Weise, ist aus Beijing zum Festival gefahren, um zu schauen, wie viele Tibeter Pelz tragen und vor allem wer welche trägt.

„Die Regierung war überrascht, dass die Weisung des Dalai Lama befolgt wurde, Pelze vor allem von besonderen Tieren wie dem Schneeleopard, nicht mehr zu tragen. Das war ein Zeichen der Schwäche der chinesischen Strategie. Im Gegenzug wird nun verlangt, dass all jene, die im Auftrag der Regierung an Vorführungen teilnehmen, sich in pelzverbrämten Trachten kleiden.“ Pure Sturheit, die von einem kindlichen Verhalten zeugt, das eines der mächtigsten Regimes der Welt an den Tag legt und im Widerspruch steht zum ausgetüftelten Unterscheidungsmechanismus der Gleichmachungspolitik.

Von dieser „Harmonisierung“ ist auch die Sprache betroffen, die seit etwa zwei Jahren zu beobachten ist. Wurden zuvor Veranstaltungen und auch Dorffeste in zwei Sprachen, tibetisch und chinesisch angekündigt, wird jetzt durchweg nur Chinesisch gesprochen, sagt Osers Mann Wang Lixiong.

Die Modeschau selbst – anders, als wir sie uns vorstellten. Auf einem riesigen, ovalförmig angelegten Platz stolzieren prächtig gekleidete Tibeter und Tibeterinnen mit schwerem Kopfschmuck – schwer, weil voller Halbedelstein, voller Korallen und Türkise. Vor der Tribüne: ein paar Schritte vor, einige zurück, schließlich nach links abmarschiert, an der Besuchertribüne mit den Ehrengästen entlang.

Im Hintergrund warten Soldaten - worauf?

Im Hintergrund warten Soldaten – worauf?

Gesangswettbewerb am Sonntagmorgen. Wussten wir, was wir uns darunter vorzustellen hatten? Es ist jedenfalls anders als das, was uns schließlich dargeboten wird. Erstaunliche Stimmen in hohen Lagen, gepresste Kopfstimmen bei Männern und Frauen, nur selten lyrisch, meistens langanhaltende Töne mit Tremolos. Die Bewertung erfolgt durch die Jury oben auf der Bühne, doch nach welchen Kriterien bewertet wird, ist uns nicht klar, fanden wir doch stets jemanden anders Stimme schöner als jene des Gewinners?

Wer für meine Ohren nicht ganz so sauber sang, die Töne schleifen ließ und fast schon krächzte, erhält nun mehr Punkte. Ästhetisch musikalisches Empfinden ist offenbar nicht universell. Frauen schneiden in der Regel besser ab als Männer, erhalten zumindest eine bessere Note und mehr Applaus. Die Endresultate werden erstaunlich unzeremoniell heruntergeleiert, keine Siegerehrung, die Gewinnerinnen oder die Gewinner werden nicht auf die Bühne gebeten.

Im Hintergrund marschieren dreißig schwer bewaffnete Soldaten – neben dem üblichen Personal an Polizisten und Aufsehern. Das Ganze war so rasch im buchstäblichen Sinne über die Bühne gegangen, als wären diese Gesangsaufführungen nur eine Alibi-Übung gewesen, als wären die richtigen Gesänge anderswo zu hören.

Tibet - geschmückter Schimmel

Tibet

Die Busse standen bereits mit laufendem Motor am Rand, die Sänger stiegen ein und noch bevor die letzten Schlager aus den Lautsprechern schmetterten, verschwanden die Busse in Staubwolken, fuhren in Richtungen, die nur die Nummernschilder verraten hatten; weit weg jedenfalls, in kleine Städte und Dörfer im Osten Tibets, in tiefen Tälern und unwirtlichen Gegenden gelegen, wo die Khampas mit ihren Stimmen den Himmel zu erweichen suchen.

Die Reise fand 2007 statt, kurz vor Ausbruch der Unruhen im Frühling 2008, als tibetische Nomaden, Studenten, Schüler, Frauen, Männer, Stadtbewohner, Nonnen, Mönche sich erhoben. Seither haben sich mehr als 130 Tibeter selbst verbrannt.