Mit scharfem Blick

Es war das Bellen der Hunde, das mich auf den taiwanischen Lyriker Cheng Chiung-ming aufmerksam machte. Entdeckt hatte ich ihn im Vorspann der Anthologie Kriegsrecht, die wie keine andere ein halbes Jahrhundert Literaturgeschichte Taiwans umfasst.

Diese Hunde lassen sich nichts gefallen, und das will viel heißen in einem Land, das de facto 40 Jahre unter der Knute einer Parteidiktatur lebte, in der zu Beginn, also Ende der 1950er-Jahre, die intellektuelle Elite dahingemordet, „weißer Terror“ verbreitet wurde. In Anlehnung an diese Zeit heißt auch der Titel der Lyrik-Anthologie „Gedanken in Weiß“. Brave Hund bellen nicht in dieser pechschwarzen Nacht, andere aber haben geknurrt und wurden dafür bestenfalls für Jahre eingesperrt, denn: „Ich muss einfach bellen“.

Cheng Chiung-ming, so schreibt es der Übersetzer Thilo Diefenbach im Vorwort, gehört zu den mutigsten, politisch engagierten Lyrikern Taiwans. Als Arzt hat er tief hineingeblickt in die Seelennöte der Menschen, die Schwermut darüber drückt sich in seinen Gedichten aus, die immer wieder auch in direkte Kritik umschlägt, denn: „Worte sind die schärfste Waffe“, lautet der Titel eines Gedichts. So wechseln sich auch seine Schaffensperioden ab, sind mal politisch grundiert, dann wieder lyrisch wie in „Schatten“, das der Übersetzer in gleich drei Variationen vorstellt. Ihm ist nach Kriegsrecht erneut eine Entdeckung zu verdanken, denn von Cheng Chiung-ming lagen bisher nur vereinzelt Übersetzungen vor.

Cheng Chiung-ming: Gedanken in Weiß. Gedichte aus Taiwan. Aus dem taiwanischen Chinesisch von Thilo Diefenbach. Iudicium-Verlag, 2019.