Was haben Bruce Lee, Yip Man und Jin Yong gemeinsam? Alle drei verstehen sich auf Kungfu, nur der dritte versteht es zudem, die Kunst des Kungfu-Romans in raffinierten Figurenkonstellationen und überbordenden Handlungssträngen genüsslich auf die Spitze zu treiben.
Die äußerliche Kraft ist nichts ohne die innere – das ist für mich eine der Kernaussagen des historischen Romans „Die Legende der Adlerkrieger“ von Jin Yong, in dem es vordergründig aber um etwas anderes geht. Um es kurz zu fassen: Während im Norden die Jin-Barbaren das chinesische Kaiserreich in die Knie zwang, tut sich im Süden ein tapferes Häuflein an loyalen Kämpfern zusammen, um zumindest die Südliche Song-Dynastie (1126–1279 ) zu retten. Damit dies gelingt, wird ein Junge das Erbe seines Vaters unter der Obhut Dschingis Khans auf seinen schmalen Schultern tragen. Das Geschick Chinas nahm damals verschlungene Wege, ebenso tun es die vielen Protagonisten in diesem Roman, und allzu leicht kann darüber auch mal der Handlungsfaden verloren gehen oder die Vielzahl der Namen sowie die Detailfülle verwirren. Doch letzten Endes ist dies – ohnehin typisch für jedes asiatische Epos dieses Ausmaßes – nicht weiter tragisch, denn man kann sich auch ohne ständigen Blick ins Glossar und Personenregister von der Lektüre mitreißen lassen.
Zweierlei überrascht dennoch: Die schillernden Helden in diesem Roman sind keineswegs immer nur heldenhaft unterwegs, und selbst die furchterregendsten Figur bekommt eine menschliche Kontur, sobald man deren Geschichte erfährt. Solcherart Feinzeichnung ist bei einem Heldenepos indes selten, und warum dies bei den Adlerkriegern anders ist, erfahren wir unter anderem aus dem informativen Dossier „Über die Kinetik von Namen, Körpern und Kulturen“ von Karin Betz. Denn die daoistischen Großmeister, die sieben Sonderlinge des Südens, die SchülerInnen des Apothekers Huang – um nur einige Cliquen zu benennen – lassen sich zurückzuführen auf die Jianghu: „eine Ansammlung von ambitionsgetriebenen Gruppen und Figuren, die selbst eine widersprüchliche Gesellschaft voller Gefahren, Intrigen, Rivalitäten und Mord bilden. Mit Machtkämpfen und widerstreitenden Begierden stehen sich die Charaktere oft selbst im Weg oder sie sind von niederen Beweggründen getrieben, verbünden sich mit den Mächtigen und machen den an Gerechtigkeit und Loyalität glaubenden Helden das Leben verdammt schwer – und damit natürlich die Geschichte dramatisch und spannend.“
Dabei lässt Jin Yong leichthändig daoistische und buddhistische Weisheiten einfließen in diesen Wuxia-Roman (die korrekte Bezeichnung für dieses Genre, in dem Kampfkunst die tragende Rolle spielt. Denn Kongfu (gongfu) bedeutet lediglich Kunstfertigkeit – meistens auf einem besonderen Gebiet.) Nicht alle Daoisten und Buddhisten sind bei ihm unbedingt reine und friedliche Wesen sind, womöglich macht er sich gar ein wenig lustig über allzu viel Esoterik? So zum Beispiel in der Szene mit dem einfältigen Guo Jing, der von einem Daoist in das innere Kungfu eingeführt werden soll, weil seine Erfolge in der äußeren Kampfkunst eher bescheiden sind. Und dies obwohl seine Lehrer, die sieben Sonderlinge des Südens, die besten ihres Faches sind. Der daoistische Lehrer beharrt darauf, dass sein neuer Adept folgende Worte verinnerlicht: „Vor dem Schlaf muss der Geist rein und klar sein, kein Gedanke darf darin zurückbleiben.“ Zu Recht wundern sich später seine Lehrer: „Wie hatte dieser arglose Tollpatsch in so kurzer Zeit diese schwierige Kunst [das innere Kungfu, A.d.R.] zu meistern gelernt? Nun, womöglich war es gerade seine Einfalt, die in diesem Fall geholfen hat. Ein Geist, der wenig denkt, ist schnell geleert.“
Und das zweite Überraschungsmoment? All die Schwebetänze, blitzschnellen Fäuste, wirbelnden Körper und knallhart-gezielten Fußtritte, die man aus Kungfu-Filmen kennt, weiß Karin Betz so treffsicher ins Deutsche zu übertragen, dass man kein einziges Mal über die Füße und Fäuste stolpert. Dafür hat sie ausgiebig in Museen und Handbüchern recherchiert: „Um mir die einzelnen Sprünge, Tritte, Stellungen ein wenig besser vorstellen zu können, habe ich mir eine Reihe von Fachbüchern zu Kungfu und Qigong zugelegt, darunter Bruce Lees Grundlagen der chinesischen Kampfkunst“.
Karin Betz hat damit die ausgeklügelte Kungfu-Choreografie in deutsche Worte gefasst und auf den Punkt gebracht: „Das Kultivieren der Lebensenergie Qi durch innere Stärke dient sowohl dem Angriff wie der Verteidigung.“
Jin Yong: Die Legende der Adlerkrieger. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Heyne-Verlag, 2020, 567 Seiten