Das Leben eines anderen

Das Leben eines anderen …

… einmal ausprobieren. Eine Lektürenotiz.

Darum geht es, und geht es doch nicht. Mal ehrlich, wer hat sich nicht schon einmal vorgestellt, die Haut eines anderen überzustreifen? Erst recht, wenn man wie Rechtsanwalt Akiro Kido die Diskriminierung als Nachfahre koreanischer Einwanderer fürchtet, weil rechtsextreme Gruppierungen im heutigen Japan an Macht gewinnen? Einmal nur das Leben eines anderen durchzuspielen, oder sich wie im Spiel oder zum Spaß als jemand anders auszugeben, Erlebtes erfinden, nur um zu sehen, wie es wirkt, dieses ausgedachte Leben?

Was ein Spaß sein könnte, den sich Akira Kido im Roman Das Leben eines anderen von Keiichiro Hirano in einer Kneipe erlaubt und wenig später bereut, ist allerdings bitterer Ernst. Denn da will einer endlich loskommen vom Blutgeruch seines Vaters, einem hoch verschuldeten Spieler, der einen Unternehmer und dessen Familie ermordete, darunter der Spielkamerad seine Sohnes. Der Fluch verfolgt ihn überall hin, da liegt es nah, sich einen anderen Namen zuzulegen, ein anderes Leben.

So einfach lässt sich dieses Verwirrspiel um Identitäten allerdings nicht erzählen, der Fall wird von hinten aufgerollt. Rechtsanwalt Akira Kido wird mit der Suche nach der wahren Identität eines Mannes beauftragt, trifft dabei einen Unterhändler, der mit solchen handelt, eine Frau, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen könnte, und das Glück eines Mannes am Ende dessen „falschen“ Lebens. Leise und behutsam lockt uns der Autor Keiichiro Hirano auf falsche Fährten und versöhnt uns mit den Lügengespinsten der anderen.

Ich hingegen wundere mich über dieses immer wiederkehrende Thema der geliehenen Leben, über Leben in einer Lüge im japanischen Kontext – im Roman Herr Kato spielt Familie von Milena Michiko Flašar zum Beispiel, im Film Family Romance von Werner Herzog, und erinnere mich wieder an die flirrenden Wechselidentitäten in Haruki Murakamis Werk.

Keiichiro Hirano: Das Leben eines anderen. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Suhrkamp-Verlag, 2022, 366 Seiten.