… wenn sie nicht gestellt werden, ist es irgendwann zu spät.
Das habe ich gemerkt, als ich nach zwei Lesungen rund um das Buch Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern bei meinen Tanten und Onkels nachgefragt habe. Wie war das damals genau? Welche Parole hat im nächtlichen Waldspaziergang welches Leben gerettet? Wann kam wer aus dem Krieg zurück? Die Erinnerungen „stimmten“ nicht mehr, die eine erinnerte anders als der andere, die entsprechenden Dokumente gingen bei Umzügen verloren. Und dass so viel über den Krieg gesprochen wurde, wie ich es in Erinnerung habe? Nur ein Kopfschütteln. Nein, der Opa hätte zu allem geschwiegen, sei auch nicht zu den Veteranen-Treffen gegangen mit jenen, die sie die ganze Kriegszeit über drangsaliert hätten, warum auch?
Dünn und falsch also sind die Erinnerungen womöglich, wer weiß? Doch sie wirken real, sind präsent und führen ein Eigenleben …
Dreißig Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz versuchen sich zu erinnern. Deshalb werden weite historische und auch geographische Räume umspannt. Nicht weiter verwunderlich auch, dass in den deutschen Texten Vertreibung, Pogrom und das Schweigen darüber präsent sind. Doch ein wahrliches In-Erinnerung-rufen war für mich die Reminiszenz von Waseem Hussain an seine Großmutter. Denn wer erinnert sich noch an die Machtergreifung von Zia-ul-Haq, dem Nachfolger von Zulfikar Ali Bhutto, der den US-Amerikanern nicht gepasst hat? „Die Strategen in Washington machten den radikalreligiösen Generalstabschef Zia zum neuen Staatschef Pakistans und gaben ihm zig Millionen Dollar, getarnt als Wirtschaftshilfe, um die gottlosen Sowjets, wie sie sie nannten, aus der Gegend zu vertreiben. […] Wer in Pakistan regiert und wer scheitert, wird bis heute nicht allein in Pakistan bestimmt, sondern von Regierungen und Geheimdiensten in Washington, Riad und Peking.“ Und Zias geistige Erben, die Taliban und Al-Kaida, terrorisieren heute die ganze Region. Die Folgen sind bis in die Schweiz zu spüren und werden den Geflüchteten angelastet.
Wird in manchen Texten in dieser „Großelternanthologie“ belastendes Schweigen durch das Nachfragen der Enkelin gebrochen, so bei Sabine Bierich, war anderswo doch gar nie ein Schweigen, denn: „Es ist kein Geheimnis. Alle wussten das“, heißt es bei Daniela Engist. Und dass es nicht Hitler war, denen die jüdischen Verwandten in Dnjepropetrowsk zum Opfer fielen, sondern Stalins Schergen, bringt die Welt der jüdischen Gemeinde in Zürich zum Wanken, schreibt André Seidenberg.
Es ist eine besondere Qualität der Erzählungen, wie sich Weltgeschichte in die Einzelschicksale eingeflochten hat, von der dreißig Autor:innen auf ganz eigene Art erzählen, wie dreißig erste Sätze zeigen.
„Meine Großmutter Else passte nicht an diesen Ort.“
„Es ist der 30. August 2013.“
„Seltsam, wie ähnlich meine Großväter einander waren.“
„Ich bin ohne Großväter groß geworden.“
„Mein Großvater wusste nichts von mir.“
„Meine früheste Erinnerung an meinen Großvater Karl ist das unregelmäßige Klopfen seiner Krücken.“
„Es ist Sonntag.“
„Mein Großvater mütterlicherseits hieß Jakob, doch die Familie nannte ihn nur den Kobus.“
„Ma io, ero sposato?“, fragte er, als man ihm die Nachricht vom Tod seiner Frau überbringt.“
„Daran, dass mein Großvater Laci 1956 wegen eines Glases Gewürzgurken fast erschossen wurde, konnte sich meine Großmutter auch dann noch erinnern, als sie bereits ihren eigenen Namen vergessen hat.“
„Mein einer Großvater war Taglöhner und Invalide, wie das damals hieß.“
„Worte fallen.“
„Ein warmer Frühlingstag auf Usedom, 1972.“
„Er hat sich hingelegt.“
„In einem großen Sessel sitzt ein kleiner Mann mit großen Ohren.“
„Wochenlang war meine Familie in Aufregung, wir kauften Geschenke, ließen uns gegen Hepatitis, Malaria und Cholera impfen, gingen zum Friseur, besorgten unsere Visa.“
„Und wieder war es so weit.“
„Nonna Miria band den weichen Gürtel um den Morgenmantel und verließ die Wohnung, trat aus dem Haus auf die Straße, wandte sich nach links Richtung Altstadt.“
„In seinen letzten Lebensjahren saß mein Großpapa Karl Hasler oft in einem Lehnstuhl in der Nähe des schwarzen Wandtelefons.“
„Da seid ihr ja!“
„Meinen Großvater Adolf, den Vater meiner Mutter, habe ich nur als kleines Kind erlebt.“
„Deine Hände.“
„Die Wochen folgen gleichförmig aufeinander, tagsüber grau und kalt, nachts schwarz und eisig.“
„Mein Großvater trug ein Totenhemd.“
„Oma Werfel?“
„Jetzt werden sie wieder sagen, eine Amsel, na gut, ein sympathischer Vogel, schwarzes Federkleid, gelber Schnabel, was soll’s, eine Amsel, pickt Würmer aus der Wiese, reißt Himbeeren vom Strauch, bevor du sie in den Mund schieben kannst, hockt im Apfelbaum und weiß genau, welche Früchte süß sind …“
„Ziegelhausen bei Heidelberg, am 13. Dezember 1967, gegen 22 Uhr.“
„Ich gestehe: Meine eine Großmutter habe ich verabscheut, zeitweise sogar gehasst.“
„Mein Großvater mütterlicherseits, der Cellist Jakob Margoler, wurde 1906 in Zürich geboren.“
„Bis zu meinem zwölften Lebensjahr war mein Großvater für mich ein ganz normaler Großvater: elegant und gut aussehend, wenn auch streng und distanziert.“
Welches Universum, welche Rätsel geben dies Sätze auf? Und vor allem eine Mission: Fragen, bevor es zu spät ist.
Wolfram Schneider-Lastin (Hg.): Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern. Rotpunktverlag 2024, 250 S eiten
PS. Auch im Roman Jahrhundertsommer geht es um eine Großmutter-Enkel-Geschichte, schließlich hält als einziger Viktor zu seiner Oma.