Hazal wird achtzehn und will es deshalb so richtig knallen lassen. Vorgeglüht und aufgestylt zieht sie mit zwei Freundinnen durch die Berliner Nacht. Doch als ein Türsteher die drei Mädchen nicht in den angesagtesten Club der Stadt lässt, kriecht Wut in ihnen hoch, die sich aufstaut … staut … staut – bis sie sich an einem jungen Mann entzündet. Der einfach nur nachts auf die U-Bahn wartet. Die drei Frauen lassen der Wut ihres Lebens freien Lauf, und Hazal befördert ihn mit einem gut gezielten Tritt aufs Gleisbett. Gleisbett, was für ein schöner Name, sinniert sie später, empfindet aber erst recht keine Reue für ihre Tat, als sie erfährt, dass das Opfer auch noch Thorsten heißt.
In dieser Nacht geht nicht nur ein Leben zu Ende. Hazal muss fliehen, ihr fällt nichts Besseres ein als Istanbul, wo sie erst mal rein gar nichts checkt. Weil sie bislang bloß in ihrem Weddinger Kiez gelebt hat mit den aufgetakelten Bräuten und abgekapselten Bevölkerungsgruppen. Wie in einem Kokon, nur dass nicht unbedingt ein Schmetterling schlüpfte. Für nichts hat sie sich interessiert. Wie denn auch. Die Wohnung zu klein, Eltern und ein Bruder, die nerven, zwei Selbstmordversuche, das Leben war auch so schon beschissen. Abgeklärt sind die Girls, und sie treten noch nach unten und schimpfen über die „Fluchtis“. Und über den Chef, weil der eine der ihren entließ, nur weil sie #fuckcharliehebdo auf Facebook gepostet hat.
In Istanbul ist Hazal allerdings noch nicht einmal der Unterschied zwischen Türken und Kurden klar, und sie glaubt auch nicht, dass eine Unterschrift einen in den Knast bringen kann. Ein Mord schon, deshalb ist sie hier. Und als die kluge Tante Semra nach Istanbul kommt, weil sie verstehen will, was Hazal getrieben hat, prallt sie ab von dieser Wand aus Wut. Sie will verstehen, wo es nichts zu verstehen gibt, denkt Hazal und wenn sie mir jetzt noch mit Migrationshintergrund kommt, und die Sozialarbeiterin Semra kommt damit, platzt es aus ihr heraus: Warum? „Wegen der Ellbogen, die uns das Leben reingerammt hat, immer wieder, und immer noch. Überall nur Ellbogen von denen, die stärker sind als wir.“ Deshalb gibt es auch nichts zu klären, wie und warum in jener Nacht einfach alles eskalierte.
Jedenfalls kommt sie in Istanbul auf die Welt, ein harter Aufprall, das Geld ist bald alle, irgendwie muss es hier weitergehen. Doch sie kann nicht einmal gut genug Türkisch, um zu begreifen, was los ist, als Erdogan blass auf dem TV-Bildschirm auftaucht. „Er spricht über Facetime oder so und sieht irgendwie total alt aus, wie ein Opa, der zum ersten Mal ein Selfie macht. Vielleicht hätte ihm jemand mal besser die Filterfunktion erklärt, seine Hautfarbe sieht in dem Halogenlicht nicht so gesund aus.“
Als sie sich in der Nacht des Putsches auf den Boden legt, weil Panzer an ihr vorbeirollen, sind es immerhin echte Panzer und nicht so Plastikdinger, mit denen ihr Bruder spielt. Ist es das, was sie will? Das Leben endlich spüren, so wie es ist, und will sie verstehen und ihr Gutes tun, was eh nichts bringt. Ist sie wütend, weil sie nicht selbstbestimmt ist, immer andere über sie bestimmen und ihr was erklären wollen? So wie ihre Tante, bei der immer alles so „schön türkisch aufgeräumt“ ist in der „Altbau-Single-Wohnung mit hölzernem Esstisch“.
Dieser Hass ist in einer schlichten Sprache abgebildet, wo doch spätestens in puncto Mündlichkeit und Jargon seit Feridun Zaimoglus Kanaksprach mehr möglich wäre, man den Lesern mehr zutrauen könnte? So versäumt es Fatma Aydemir meiner Meinung nach, den Furor ihrer Figuren auch sprachlich abzubilden. Sie vergibt sich dadurch das Echo eines Sounds, der den Tag und die Nacht bestimmt oder doch eher das Zwielicht, in dem sich die Figuren bewegen, die nirgends dazu gehören wollen und, wenn es darauf ankommt, auch nirgends dazugehören.
Der Terror ist eine Folge von Hass der Menschen, die sich ohne Respekt behandelt fühlen und einen Hass auf Leute haben, die zu den 1% gehören, so der französische Diplomat Stéphane Hessel in Anspielung auf das Motto der Occupy-Wall-Street-Bewegung „We are the 99%“. „Eine ganze Generation über den Globus verstreut ist im Gefühl aufgewachsen, emotional wie rational keine Zukunft zu haben angesichts der aktuellen Ordnung der Dinge.“
Woran mag es liegen, dass Flüchtlingskinder aus Syrien, so eine Sekundarschullehrerin aus Berlin, schon nach einem Jahr die chronisch abgehängten Migrantenkinder in der dritten Generation überholen und gen Abitur marschieren? Bastelkurse und Rap-Workshops, die auch in Pariser Banlieues wie Pilze aus dem Boden schossen, sind höchstens das Feigenblatt einer schuldbewussten Gesellschaft. Die Gewaltausbrüche der Jugendlichen damals richteten sich oftmals gerade gegen Sozial- und Bildungseinrichtungen, die solche Programme anboten, wie Gila Lustiger in ihrem Essay „Erschütterung“ beschreibt, und nicht gegen staatliche Institutionen, gegen die man ebenso wütend hätte sein können.
Ellbogen ist ein Pflock in der deutschsprachigen Literatur, er erklärt nichts, aber nach der Lektüre, die man insbesondere Lehrern, Sozialarbeitern und vor allem Bildungspolitikern ans Herz legen möchte, muss die Uhr zurückgedreht werden. Wir müssen nochmals von vorn beginnen. Mit Integration auf Augenhöhe?
Fatma Aydemir: Ellbogen. Hanser Verlag, 2017.