Sounds of Hong Kong 1-5

„I have never seen myself from the outside.“

BB

Sicht aus dem Fenster auf die Insel Peng Chao

一 Nächtlicher Klangteppich
Vermeintlich Bekanntes, alles schon einmal gesehen, wenn auch schon lange nicht mehr – seit zwölf Jahren, um genau zu sein. Gesehen wohl, aber genau gehört? Und nicht das Gefühl gehabt, als wäre es schon hundertmal gehört? Sanfte Wellen, die hier wie dort leise plätschernd auf flachem Sandstrand auslaufen. Hierin sind sich die Meeresgeräusche ähnlich. Am Strand aber – ein angenehm leiser Singsang. Ein Vater ruft, eine Mutter klatscht in die Hände, Teenager lachen. Die Luft dröhnt, Flugzeuge landen und steigen hinter der langgestreckten hügeligen Kuppe auf der gegenüberliegenden Insel, es dröhnt so laut, dass die Antwort auf die Frage am Telefon, wo der Bus zur Discovery Bay denn nun abfährt, immer wieder im Flugzeuglärm unterging, das war gestern gewesen, darüber das grüne Mäppchen mit den wichtigsten Namen, Telefonnummern und Mail-Adressen in einem der unzähligen Flughafentrolleys vergessen. „Dieses Mäppchen, also diese Papiere, die sind nur für Sie von Wert. Jeder andere wirft sie achtlos weg“, sagte mir einer der Angestellten hinter einer Theke, den ich aus seinem Schachspiel herausreißen musste, und er riet mir, in Mülleimern und Blumenkübeln zu suchen. Erstaunte Blicke von Angestellten in grün-weißen Uniformen, von Reisenden, die in Rolls Royce stiegen, um sich zu den Luxushotels fahren zu lassen. Das grüne Mäppchen blieb verloren, der richtige Bus wurde gefunden. Auch der richtige Pier für die Weiterfahrt mit einer der kleineren Fähren, einem Kaito, die zwischen den Inseln für den Personen- und Güterverkehr zuständig sind. Das langsame Motorentuckern wieder, das je nach Wellengang mal leiser, mal lauter den ganzen Schiffsraum und selbst die angeschraubten Sitze im Heck vibrieren lässt. Das eigene Wort bleibt ungehört, das des anderen erst recht, weggeweht vom Fahrtwind.

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Abendlicher Gang zum Pier, ein Mann schiebt sein Fahrrad den Weg hinauf, murmelt etwas und zieht eine lange Alkoholfahne hinter sich her, Frösche quaken, aber auch eine alte Kröte, so tief hört sich das klopfende Geräusch an, Wind klatscht Wellen ans Ufer der Ostbucht, Gelächter weht herüber vom öffentlichen Grillplatz, leise surrt der meterhohe Zaun, der was einzäunt? Hunde kläffen, eine Fahrradklingel, Vögel stoßen langgezogene Schreie aus, dann wieder kurz und schnell hintereinander. Schlurfende Schritte hallen durch die Wing-On-Street, biegen vor dem Tin-Hau-Tempel links ab in Richtung Ferry Pier. Müde Gespräche, leises Murmeln am frühen Abend, Schritte, die in engen, langen Gassen der Insel verhallen, tief und grau hängt der Himmel über dem Platz zwischen Supermarkt und Public Library, beim Franzosen stehen zwei Ausländer im Türrahmen. Seltsames Zwielicht schon den ganzen Tag über. Von weitem hört man das Stampfen des Motors, die letzte Fähre legt gleich ab.

Hunde bellen die ganze Nacht, nicht so schlimm zwar wie in Lhasa, wo man ihretwegen oft kein Auge zutut. Und auch Flugzeuge nachts, oder dann erst recht, erzählt eine Inselbewohnerin. „Drüben beschweren sich die Bewohner, wenn gegen das nächtliche Flugverbot verstoßen wird, deshalb fliegen sie hier über unsere Insel. Und wir haben keine Lobby.“

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Inmitten des nächtlichen Klangteppichs ist zu hören, wie sich Vögel wie auf ein verabredetes Zeichen hin zurufen, dem Gleichklang vertrauend. Sind die Grillen ruhig, rufen mitten in diese Stille hinein die Vögel, als lauschten nun die Grillen. Und wenn die Vögel verstummen, heben die Grillen wieder an, krätschen unter Sträuchern, in den Zweigen der Büsche. Der Chor schwillt an, begleitet vom Dröhnen der Flugzeuge, das als leiser Bass den Grundton vorgibt, doch kurz vor der Landung heult der Motor noch ein letztes Mal auf, der Bass geht in die Höhe, die Vögel, Grillen werden lauter, ein Ton schraubt sich empor, fällt abrupt in sich zusammen. Stille. Bis wieder ein dumpfer Vogelschrei als Kontrabass einsetzt, Zirpen sich als zweite Stimme darüberlegt, nahes und fernes Vogelgezwitscher auf einmal dazwischenfährt, sich im tönernen Zwist verquirlt, bis einzelne Geräusche herauszuhören sind. Eine Taube gurrt, der Bambus rauscht, hohes Flugzeugsurren, ein Vogel, der laut auflacht, darüber der schallende Zwischenruf eines anderen, erneut lang anhaltendes, anschwellendes Zirpen. Und da capo. Nach einer kurzen Pause, in der das Leben still zu stehen scheint, wieder einzelne Vogelstimmen, von Grillenzirpen unterbrochen, das rhythmische Schnaufen von Schiffsmotoren, ein Blatt, das leise und doch hörbar auf die Terrasse fällt, Schwingen eines Vogels, der durch die Abenddämmerung fliegt, der Abend, die Nacht, zur Ruhe kommt auch sie nicht.

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二 Lärm durchpflügt den Himmel

Auf Lantau knattern die Fahnen laut im Wind, der die Stofffetzen bloß so um die Fahnenstangen schlägt. Nur dort, wo es hinaufgeht zum weltweit größten sitzenden Buddha, scheint der Wind dermaßen aufzubrausen. Nicht hinten im rund angeordneten Stelenwald und auch nicht vorn, wo die Busse abfahren zu den verschiedenen Orten auf Hongkong drüben und der Insel hier. In Tai O die Kakophonie schlechthin, chinesische Touristen und ihre Guides mit Megaphon, Händler, die Fische in allen Formen – geräuchert, getrocknet, gesalzen – anbieten, Ticketverkäufer, die eine Motorbootfahrt zwischen den Pfahlbauten und hinaus aufs offene Meer anpreisen. Wo weiße Delphine zu sehen sein sollen. Vielleicht früher einmal. Aber spätestens mit dem Bau des Flughafens sind sie verschwunden. Und was sollen sie auch zwischen den unzähligen Touristenbooten mit ihren röhrenden Motoren und den riesigen Frachtern, die auf offenem Meer, so scheint es zumindest, ihre Waren löschen? Zu laut ist auch der Himmel, im Fünf-Minutentakt von Motorenlärm durchpflügt.

三 Sound art: Samson Young
Feines Klanggespinst hätte ich hören sollen, doch nicht einmal die Angestellte der Galerie habe ich gehört, als sie mir den MP3-Player hinhielt. Bin noch taub vom Lärm auf der Straße, hatte auch schon an der Sprechanlage nichts gehört, schaute auf das Display, bis das „Warten“ einem „Sprechen“ wich, und ich sprach, ohne meine Stimme zu hören oder eine andere aus der Sprechanlage, drückte irgendwann gegen die metallene Tür, die nachgab, ging weiter die Wand entlang um eine Ecke, da war nichts, kehrte um, und eine junge Frau schaute mich lächelnd an, winkte.
DCIM100SPORTDer Klangkünstler Samson Young machte die Aufnahmen an verschiedenen Tagen zwischen den Jahren 2012 und 2014 und setzte sie schließlich zu einer Melodie zusammen. Die Hauptmelodie zeichnet sich in der Partitur als starke Linie ab, die schwächeren Stimmen sind fein eingetragen, nur gelegentlich findet sich eine Angabe über die Tonstärke, ein rostbrauner Fleck, dann kleine schwarze Pfeile, die Kreisen und Anschwellen andeuten. Oftmals verbinden sich die Linien, da wo der Grenzzaun doppelt verstrebt und ein Verstärker angeschlossen wurde, dort wo sich eine Polizeistation befindet. Die Töne sind frei, Vogelgezwitscher, ein Zug in der Ferne, irgendwo sirrt vielleicht der Grenzzaun, der Shenzhen von Hongkong trennt.
Am Ende des Galerierundgangs wird per MP3-Player Schuhmanns Träumerei von Martha Argerich gespielt, in Verbindung mit einem kleinen Bildschirm, der eine Aufnahme von einer weißen Metallbaracke am Grenzzaun zeigt – Niemandsland, Rohre, Absperrungen, darunter ein Zitat: „I have never seen myself from the outside.“
Dann setzte der zweite Presslufthammer ein, neben den Wänden der Galerie, alles bebte. Träumereien?
Die Angestellte, vielleicht eine junge Kunststudentin, lächelte nur, als ihr ihr sagte, da, wo leises Plätschern blau in die Partitur eingezeichnet war, hörte ich nur die beiden Presslufthammer von nebenan. Sie lächelte weiter, meinte, sie hätte sich daran gewöhnt und höre den Lärm nicht mehr, der mir die Beine hinaufgekrochen war, so vibrierte das ganze Haus. Stille sei, fiel mir das Zitat einer Schweizer Autorin ein, nur das zu hören, was man auch hören wolle. Voilà. Das schaffte dieses Mädchen auch inmitten dieser Baustellenlärm-Symphonie.

DCIM100SPORT

四 Lärmender Alltag

Zuerst rollen Holzkugeln über die Bretterbühnen, in unregelmäßigen Abständen, ein Rhythmus lässt sich nicht heraushören, genauso wenig beim Herumstochern in Porzellanperlen, wenig sorgsam werden sie mit Essstäbchen aus einer Schale herausgepickt und in Glasschüsseln geworfen, manche fallen mit einem harten Knall auf die Holzdielen. Unter all den Kugeln ist eine, die schwergewichtig durch den Raum rollt und sich von jedem Widerstand abstößt, eine Plastikkugel schabt über die Bretter.
Sonic Anchor #16 stellt, so der Programmflyer, zwei junge Musiker aus Hongkong vor. Tsang Sin-yu gewähre Einblick in ihre alltägliche Hausarbeit. Im zweiten Akt wirft die Künstlerin Federn auf den Boden, zu hören ist dabei nur das leise Schlappen der Plastiksandalen gegen ihre Fußsohlen. Im dritten Akt wickelt sie eine Radioantenne aus Metallfäden, ein Krächzen, dann ein Rauschen aus dem Gerät, das gleichbleibend monoton klingt. Im vierten und zugleich letzten Akt kommt der Staubsauger ins Spiel, der röhrend einen Teil der Federn in sich aufnimmt, sich aber lieber in das weiße Gewand der Künstlerin verheddern würde. Die gröbsten Federn aber muss sie von Hand auflesen. Als es dunkel bleibt, klatscht niemand, die Stille wirkt erlösend.
„In certain sound art communities there is a tendency to highlight the fragility of sound, and the importance of protecting them from the assaults of modern civilisation”, schreibt der Kurator Samson Young von Sonic Anchor, eine Klangkunst-Reihe, die experimentelle Musik und Klangkunst kombiniere. Und so sehr dieses Statement auch zutrifft, gerade in Hongkong, so wenig erschließt sich in diesen Stücken die Sensibilität dem Klang gegenüber.

五 Hongkong Gangster Movie
Was, wenn man einen Hongkonger Gangster Movie wie in „On the Edge“ von Herrmann Yao nur hören könnte? Sparsame Dialoge, Wortfetzen gar, die sich bloß im Kontext erschließen lassen, im Zucken eines Gesichtsmuskels. Auf die dramatisch aufgepeitschte Verfolgungsjagd am Anfang könnte man optisch verzichten, auf die Zweifel im Gesicht des Undercover agierenden Cops weniger, als er seinem vermeintlichen Triadenfreund die Knarre an den Hinterkopf drückt. Die weiten Kameraschwenks über die Stadt und ihre langen Straßen müsste man imaginieren, erspart wäre einem das Säbel- und Messergewetze. Was wäre mit dem Lavieren zwischen den Identitäten, zwischen Cop oder Punk, die sich beständig auf Harry-Boys Gesicht abzeichnet, mit der nie ausgesprochenen Frage: „Wer bin ich eigentlich?“, auf die alles in dieser Stadt hinausläuft.

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Die grotesk-komödienhafte Szene am Ende, sie würde man missen: Alles hängt an einem Turnschuh, ein Mann, stundenlang – so scheint es zumindest – über einer Balkonbrüstung eines schäbigen Mietblocks. Kopfunter, das andere Bein hält Harry-Boy fest. Lässt er ihn fallen? Zeigen die plötzlich verständnisvollen Worte seines unnachsichtigen Polizeikollegen doch noch Wirkung? Ja, schon, doch dann rutscht der Fuß aus dem Schuh. Der Verräter fällt. Fällt in ein Sprungtuch, das die Feuerwehr gerade noch rechtzeitig hatte aufspannen können. Harry-Boy wird abgeführt. Zwischen der gaffenden Menge fährt ein beinloses Triadenmitglied auf seinem Brett mit vier Rädern unbeachtet herum, zielt auf Harry-Boy, drückt ab. Und wie er in seinem Blut liegt, das wird in der Anfangs- und Schlussszene des Films gezeigt. Nein, hören könnte man das alles nicht. Und viele Worte widersprechen den Bildern, die man gesehen haben muss.

Weitere Filme über Hongkong in Zürich

Vignetten vom April 2014, seither ist in Hongkong nichts mehr, wie es vorher war. Und die Zukunft ist unklarer als vielleicht jemals zuvor.