Dass es möglich sein soll? Nur der Blick auf ein Foto, eine Reportage über einen Mann, dessen politische Karriere und chinesische Frau evozieren eine Flut von Erinnerungen, reißen einer Kaskade von Assoziationen gleich die im US-amerikanischen Exil aufgerichtete Seelen-Mauer ein. Was im alltäglichen Leben fast unmöglich, jedenfalls übertrieben scheint, ist ein gängiges literarisches Verfahren, das Eileen Chang in ihrem posthum veröffentlichten, als Roman klassifizierten Text Die Klassenkameradinnen anwendet.
Zhao Jue also sieht das Foto ihrer Schulfreundin Enjuan, aber wenn es wirklich einmal Freudinnen waren, deren Freundschaft über sämtliche gesellschaftlichen Schranken hinweg gelebt wurde – die eine wohnt in einer Treppenkammer, die andere in einer Villa -, warum erinnert sie sich so unwillig? Was ist vorgefallen? Vielerlei Widrigkeiten während der Nachkriegszeit in China und später im Exil in den USA werden nur angedeutet wie so vieles in dem Text, der eher dadurch das flirrende unstete Erzählen Eileen Changs charakterisiert ist als durch feine Charakterzeichnungen und einen stringenten Handlungsstrang – was bereits bei den Erzählungen in dem Band Gefahr und Begierde auffiel. Andererseits gaukelt eine Präzision beispielsweise bei der Beschreibung von Kleidungsstücken eine Bedeutungsschwere vor, die lediglich einer Vorliebe für Mode entspringe, so erklären es die Übersetzerinnen Susanne Hornfeck und Wang Ju kenntnisreich in einem Nachwort. Dieses Ungleichgewicht von Begebenheiten, Petitessen gar, ist es so, das Leben dieser jungen Frauen, an denen sie sich aufreiben?
Gleichwohl haben Eileen Changs Texte etwas unheimlich Verstörendes, so auch Die Klassenkameradinnen. Denn der Bericht über die Lebenswege zweier Frauen in Rückblenden und mit zahlreichen Ortswechseln werden überlagert von Missverständnissen, Andeutungen, Unterstellungen, wie sie in Beziehungen durchaus anzutreffen sind: Wenn sich bei einem Wort wie „vergnüglich“ ein Misston einschleicht und sich bei der anderen die Kehle zusammenzieht, worüber die Korrespondenz einschläft; wenn Ernüchterung sich einstellt, aber keineswegs Gefühllosigkeit, wenn Trost von einer wenig liebevollen Hand gespendet wird. Bald fragt man sich, ob diese Freundschaft nicht schon sehr früh keine mehr war, wenn sich später die Missverständnisse so unüberwindlich darstellen, wenn es zu keiner stillschweigenden Übereinkunft kommt, Misstöne sich in ein Schweigen schleichen, und alles immer gleich vielgedeutet, missinterpretiert wird.
Es ist diese Ambiguität, diese seltsam anrührende Distanziertheit und die Gnadenlosigkeit einer Wahrheit, basierend auf zwiespältigen Gefühlen, denen die Protagonistinnen – mitunter unwillentlich – ausgeliefert sind, die Eileen Chang wohl im chinesischen Kulturraum zu einer irisierenden Kultautorin stilisieren.
Eileen Chang: Klassenkameradinnen. Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck und Wang Jue, Ullstein Verlag, 96 Seiten, 2020, 18 Euro