oder Liebe auf zwielichtigem Untergrund. So könnte der Untertitel des Romans Liebe im neuen Jahrtausend der chinesischen Autorin Can Xue ebenso heißen, denn das Leben selbst bietet keinen Halt, bröckelt, deshalb ist auch vielerorts von Kellern die Rede, Tunnel, Höhlen, aus denen Stimmen längst Verstorbener herüberklingen.
Worum geht es? Die Lebensläufe und Schicksale der einzelnen Protagonisten lassen sich schwerlich nacherzählen, allen gemeinsam ist jedenfalls die Suche nach einem erfüllten Leben oder wenigstens außerhalb erstickender Grenzen. Jede und jeder sucht auf verschiedene Weise ein Glück; zwei Frauen beispielsweise als Edelprostituierte oder „Sexarbeiterinnen“ in der Kamelienresidenz (eine Art Wellnesshotel). Dass dies keineswegs öd und grau sein muss, kann man in einem farbenfrohen Kurzfilm sehen.
Weil das Leben eben nur wenig lustvollen Halt bietet, erscheint das Umherschweifen in den Städten, oder von dort zurück aufs Land, wie das vergebliche Greifen nach Luftwurzeln. So kulminiert der Roman auch tatsächlich in einer Wurzelsuche. Lehrerin Xiao Yuan fragt: „Warum nicht den Weg zurückgehen? Vielleicht ist das der richtige Weg für mich, meine Spuren zurückzuverfolgen?“ Sie will die Liebesbeziehung zu Doktor Liu, Arzt der chinesischen Medizin, wieder aufnehmen und ergattert „auf geheimnisvolle Weise“ eine Stelle als Geographielehrerin. Ihr Unterricht ist eigen: Die Schüler sollen ihren abschweifenden Gedanken folgen, ja „Teil des kollektiven Abschweifens“ werden: „Das wäre eine ausgezeichnete Art der Kommunikation!“
Als Geografielehrerin erfasst sie die Topografie der Erde, konkret der Wüste Gobi, stößt durch Erdschichten, begibt sich auf unglaubliche Entdeckungsreisen, geht ganz in der Erd- und Blumenwelt auf, ist auf der Suche nach dem Sound eines Berges, versucht, dessen Botschaften zu verstehen. Dafür, so rät sie, sei es ratsam, eine Regenplane aufzuspannen, an der der Regen abläuft, daran könne man den Klang der Berge hören.
Dann ist da noch die „tapfere Ah Si“, eine der beiden Prostituierten. Sie kehrt nach Hause zurück und möchte ihr Leben noch einmal von vorn beginnen. „Die Hoffnung einer Kriegerin“! Ganz so siegesgewiss geht sie allerdings ihr neues Leben nicht an, fühlt sich vielmehr wie ein „mickriger Kahn auf stürmischer See“.
All diesen Fallstricken im Leben wie in der Bildwelt der Autorin entgeht die Übersetzerin Karin Betz übrigens mit Bravour.
Während die Frauen im Roman aktiv nach einer Umgestaltung ihres Lebens suchen, scheinen Männer wie beispielsweise Wei Bo vom Leben überfordert. Er lässt sich verhaften und ist froh, im Gefängnis einem geregelten und sorgenfreien Leben nachgehen zu können.
Und weil das Leben im Untergrund oder auch das Wühlen darin eine lustvolle Befriedigung bringt, liegt hier durchaus ein aufrührerisches Potenzial. Im Untergrund sind verborgene, nicht unbedingt verbotene Parallelwelten möglich, zumal an der Oberfläche Dissidenz und Abweichung streng geahndet werden. Und zwischen den Welten gilt es geschickt zu lavieren. „Wie spricht man, wenn man nicht sprechen darf? Unsere Gespräche beruhen auf Anspielungen. (…) Wir reden über das Wetter, über Schach oder über Dinge von nationaler Bedeutung, wenn wir eigentlich über die Wüste Gobi reden.“
Can Xue erzählt in Liebe im neuen Jahrtausend nicht linear, der Text zirkelt von einer Figur zur nächsten und wieder zurück, es stellen sich Zwischenverbindungen ein, sodass ein dichtes Personengeflecht und Erzählwerk entsteht, das sich einem rationalen Verständnis verwehrt, vielleicht gewollt Irritationen hervorruft. „Man versteht ihre Geschichten niemals ganz und doch erschließt sich durch sie vieles, wenn man sich dafür öffnet“, resümiert die Literaturkritikerin Katharina Borchardt. Und beim zweiten Blick, der zweiten Lektüre öffnen sich die rätselhaften Bilder leichter und verbinden sich auf geradezu organische Art mit anderen Erzählfäden.
Gleichwohl ist dieser luftig-flirrende Ton auch andernorts anzutreffen, er zeigt eine gewisse Seelenverwandtschaft mit der Schweizer Autorin Adelheid Duvanel zum Beispiel, der Koreanerin Sua Bae, vielleicht sogar ein wenig mit surreal-verspielten französischen und russischen Autor:innen. Auch bei Can Xue scheinen die Protagonisten immer ein wenig über dem Boden zu schweben, sind nicht wirklich greifbar, für die Leser:innen ebensowenig wie für die Gesellschaft.
So lässt sich der Roman als Metapher für Entwurzelung des Individuum deuten in einer entfesselten Welt, wo der Einzelne nur überlebt, indem er sich verheißungsvolle Parallelwelten erschafft. Auf verstörende Weise zwar, aber durchaus verlockend.
Can Xue: Liebe im neuen Jahrtausend. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Matthes & Seitz Verlag, 2021, 398 Seiten.
Ein hörenswertes Gespräch mit der Übersetzerin Karin Betz und der Literaturkritikerin Claudia Kramatschek über dieses Buch hat litprom organisiert.