Blick ins Reich der blinden Masseure

Als Hongkong im Jahr 1997 wieder an China zurückging, war die chinesische Massagetechnik Tuina in der ehemaligen Kronkolonie zu teuer geworden, und in der Grenzstadt Shenzhen schossen die Massagesalons wie Pilze aus dem Boden. Aus dem ganzen Land reisten blinde Masseure in den Süden, wo sie auf müde Hongkonger trafen, die müde vom Geld waren, müde Knochen hatten und verspannte Muskeln. Sie ließen sich massieren und zogen danach wieder los, um noch mehr Geld in Hongkong zu verdienen.

Sehende Haende von Bi Feiyu

Sehende Haende von Bi Feiyu

Wang Daifu ist einer dieser Masseure. Dessen Finger sind vom vielen Massieren jedoch schon ganz krumm, zudem hat er sich verliebt und will zurück in seine Heimatstadt Nanjing. Dort eröffnet er mit seinem ehemaligen Studienkollegen Sha Fuming eine Studio. Und die beiden stellen wiederum blinde Masseure an, von denen der
chinesische Autor Bi Feiyu in wechselnden Perspektiven erzählt.

Das Schicksal des Xiao Ma, der im Alter von neun Jahren wegen eines Unfalls erblindete, ist vielleicht am eindrücklichsten; im gleichnamigen Film, Tui Na – Blind Massages, steht er auch im Mittelpunkt. Da alle Therapien nichts halfen, versuchte er, sich mit der Scherbe einer Esschüssel die Halsschlagader aufzuschneiden. Nicht nur diese wulstige Narbe unterscheidet ihn von den anderen, sondern dass er einst sehend war. All die Gefühlsebenen der blinden Masseure und die Schattierungen ihres Lebens hat Bi Feiyu in jahrelangen Recherchen eruiert. Was bedeutet zum Beispiel Schönheit? Du Hong heißt eine Masseurin, deren Schönheit von den Sehenden geschätzt wird, weshalb sie auch die meisten Kunden hat. Sie könnte Kapital aus ihrer Schönheit schlagen, bleibt aber in ihrer eigenen Verwirrung gefangen. Denn was ist Schönheit, „wenn ich sie nicht sehen kann?“ Bei all dem Grübeln wird sie „kompliziert … im Grunde wünschte sie sich, sie hätte nie von ihrer Schönheit erfahren.“ Und wie gehen Blinde beispielsweise mit Macht um? An einer Stelle im Buch zerstreiten sich die beiden Chefs hoffnungslos und müssen sich im Streit gleichwohl auf das Urteil von Sehenden verlassen.

Schade nur, dass diese wichtigen Aspekte neben geschwätzigen Dialogen und seitenlangen Beschreibungen stehen. Bi Feiyu hat es versäumt, Themen und Figuren eine schärfere Kontur zu verleihen. Ärgerliche Allgemeinplätze finden sich stattdessen hier und da im Roman, wie z. B. jener: „So unterschiedlich die Menschen auch waren, eines hatten sie gemeinsam: Alle hatten ein Handy.“

Dennoch ist es lohnenswert, einen Blick „in den toten Winkel der Gesellschaft zu werfen“. Die nämlich gewährt den Blinden zwar eine kleine finanzielle Unterstützung, mit denen sich die Gesellschaft frei kauft vom schlechten Gewissen, doch Blinde tappen sprichwörtlich im Dunkeln, leben in einem Zwischenreich. Dass genau dieses wiederum seligmachend sein kann, beschrieb unlängst der Autor und Reporter Urs Mannhart: „Die Stille, die den kleinen Massageladen zu einer Insel werden lässt in dem rastlosen, lärmerfüllten Chongqing. Der Gedanke an diesen Ort hilft mir, Getöse und Gedränge besser zu ertragen.“

Bi Feiyu: Sehende Hände. Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Blessing-Verlag, 2015, 416 Seiten