Atmen geht da kaum noch

atmenEine ungeheuerliche Geschichte. Ist sie nur deswegen so ungeheuerlich, weil hier – einmal anders wie gewohnt – eine junge Mutter ihr Kind verlässt? Und sie lässt das Kind nicht nur allein in einem Pariser Heim zurück, wo der Vater es auf gar wundersame Weise findet. Nein, sie verschwindet auch für immer aus dem Leben der beiden, meldet sich nur einmal jährlich zum vermeintlichen Geburtstag des Kindes per Postkarte, erinnert aber offenbar noch nicht einmal mehr das genaue Geburtsdatum. Ahnte sie, dass mit dem Kind etwas nicht stimmte und war deshalb gegangen? Auf diese und auch viele andere Fragen bekommt der Vater keine Antworten, nur eine Menge Wut im Bauch.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Autorin Beate Rothmaier Kinderschicksale vornimmt, schon in ihrem Debüt Caspar wird ein Junge von seiner Mutter verlassen und schlägt sich fortan allein durchs Leben. Allein aber schafft das Lio in Atmen, bis die Flut kommt nicht, denn sie ist mit „Blödigkeit“ geschlagen. Diagnose unklar, klar ist nur, dass Lio nicht wie die anderen ist und bis ins 15. Lebensjahr noch mit Lätzchen essen muss. Die Versuche des Vaters, Lio bei Pflegeeltern oder im Heim unterzubringen, scheitern an seiner Liebe zur Tochter. Er kann nicht ohne sie, auch wenn sein Leben dadurch in vielerlei Hinsicht in eine prekäre Schieflage gerät. Als Comic-Zeichner sich durchs Leben zu schlagen, ist schon nicht einfach; als alleinerziehender Vater eines behinderten Kindes wird er noch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Als ihm die Tochter auf einer Autofahrt quer durch Deutschland auf rätselhafte Weise abhandenkommt, ist ihm dennoch, als streife er einen zentnerschweren Rucksack ab.

Das Ende der Geschichte ist vieldeutig angelegt und wirkt sprachlich sogar relativ nüchtern verglichen mit der stellenweise schwer erträglichen Expressivität im ersten Teil des Romans. Doch im Laufe der Lektüre versöhnt man sich mit der Vorstellung, dass nur auf diese Weise die Beschreibung all der körperlichen Ausscheidungen der Tochter und der existentiellen Ausnahmezustände des Vaters überhaupt möglich ist. Eine ungeheuerliche Geschichte von seltener, gleichsam verstörender Eindringlichkeit.

Beate Rothmaier: Atmen, bis die Flut kommt. DVA-Verlag, 2013.