Wie an einen fernen Freund denke ich beim Blick in die vorüberziehenden Wolken, dabei kennen wir uns nicht. Ich kenne auch Liu Xiaobos Gedichte nicht, nach denen ein Radiosender fragt. Erinnere mich an seine Essays, die mich damals beim Lesen beeindruckten. Ohne dass ich genau zu benennen wüsste, was es war, aber eine Offenheit und unerschütterliche Hoffnung sprachen daraus, die mich angesichts seiner Lebensumstände – Verurteilung, Arbeitslager, Freilassung, Verurteilung … – überraschten.
Nun nehme ich erneut den Band Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass aus dem Regal, sehe all die Kreuzchen und Ausrufezeichen, also müssen mich die Texte damals ziemlich beschäftigt haben, denn nur selten hinterlasse ich solche Markierungen in einem Buch. Kindersklaverei in den Ziegeleien von Shanxi. Vertuschte Vergewaltigung einer Schülerin und Massenproteste. Willkürherrschaft und Betrügereien selbstherrlicher Beamter. Die Kluft zwischen Propaganda und Darstellungen im Internet, so Liu Xiaobo, zeige das wahre Gesicht der VR China. Und: „Solange die Chinesen keine Freiheit haben, gibt es für Tibet keine Autonomie.“
Doch es ist die Inschrift für einen 17-Jährigen, der auf dem Platz des Himmlischen Friedens keinen Frieden gefunden hat, die mich trifft:
Du hast nicht auf die Ermahnungen der Eltern gehört, du bist aus dem kleinen Klofenster zu Hause hinaus, und als du mit hoch erhobener Fahne zu Boden gingst, warst du erst 17. Ich aber lebe weiter, mit meinen 36. Weiterleben ist ein Verbrechen vor deinem Gespenst, dir ein Gedicht widmen Schande. Die Lebenden müssen schweigen, lauschen der Anklage der Gräber. Ich habe kein Recht, dir ein Gedicht zu schreiben. Deine 17 Jahre gehen über alle Worte hinaus und alles, was ein Mensch tun kann.
Liu Xiaobo hat viel gewagt für diese Worte, für seine Essays, Gedichte, Pamphlete. Der Nobelpreis wurde ihm in Abwesenheit verliehen, denn da saß er wegen seiner Unterschrift unter die Charta 08 – einer Forderung u.a. nach freien Wahlen, Gewaltenteilung und föderaler Strukturen – bereits im Gefängnis. Er tat, was er tun konnte.
Nur die Wolken ziehen weiter, als wüssten sie von nichts.